Kapitel 19

Die ganze Nacht über saß Ernst Dahlmann wach, lief wie ein gefangenes Raubtier hin und her, trank Kognak und Whisky, rief in Abständen von einer Stunde die Polizei und alle Krankenhäuser von Hannover an und erhielt immer die gleiche Nachricht: »Nein, Ihre Frau ist nicht eingeliefert worden.«

Gegen Morgen war es schon so, daß der wachhabende Polizist auf dem Präsidium und die Pfortenschwestern in den Kliniken beim Nennen des Namens Dahlmann schon dazwischenriefen:

»Nichts!«

Und auflegten.

Um sieben Uhr schreckte Dahlmann hoch. Erschöpft war er auf dem Sessel eingeschlafen. Er stürzte zum Telefon, Dr. Kutscher rief an.

»Etwas Neues?«

»Nein, Doktor. Es ist zum Verzweifeln. Ich bin völlig fertig.«

»Kann ich verstehen.« Dr. Kutschers Sarkasmus kannte keine Grenzen. »Statt Geld zu machen, werden Sie welches 'rausrücken müssen! Über so etwas hätten die alten Griechen eine antike Tragödie geschrieben -«

Dahlmann warf den Hörer hin. Er hätte Dr. Kutscher erwürgen können.

Auf dem Präsidium lief die Fahndung an. Das heißt, man war vorsichtig. Der Name Luise Dahlmann wurde zunächst nur in das Fahndungsbuch aufgenommen, das zum internen Gebrauch innerhalb der Polizei vorhanden war. An die Öffentlichkeit trat man erst, wenn der Fall völlig klar lag. Was wäre das auch für eine Polizei, die ständig um Hilfe bittet?! Man hatte seine Spezialisten, eine besondere Abteilung sogar. Um acht Uhr kam der Kriminalrat; den wollte man erst einmal um Rat fragen.

Dahlmann wußte nicht, was er tun sollte. Den Rat Dr. Kutschers, am Telefon zu bleiben und die Entführer zu erwarten, befolgte er schon von sich aus. Außerdem machte er sich darüber Gedanken, wie hoch die Auslösungssumme sein konnte. Hunderttausend Mark? Oder zweihunderttausend Mark? Oder nur fünfzigtausend Mark? Wie hoch sie auch sein mochte ... er konnte sie niemals bezahlen. Er hatte keine Kontengewalt, das war bekannt und würde ihn gegenüber dem Staatsanwalt schützen, in den Verdacht des Vorschubs zu geraten.

Die andere Seite, die man genau überdenken mußte, war die Möglichkeit, daß man Luise tötete. Dann fiel der gesamte Besitz der Familie Horten automatisch an den letzten vorhandenen Erben. An Monika.

Monika, die jetzt in einer einsamen Waldhütte auf einer Bank lag und schlief. Eine Erbin, von der er nicht einen Pfennig bekommen würde. Eine Erbin, die aber auch allen Gemeinheiten und Möglichkeiten, an ihr Geld zu kommen, fernstand.

Ernst Dahlmann scheute sich einzugestehen, daß er mit dem Tode Luises in dieser Form völlig am Ende war. Und doch war es so. Und dieser Gedanke lähmte ihn fast, weil es kein Mittel gab, diese Katastrophe abzuwenden.

Um neun Uhr erhielt er Besuch. Jemand, an den er nicht mehr gedacht hatte, den er jetzt am allerwenigsten gebrauchen konnte und den er hätte erwarten müssen.

Bar aller Höflichkeit rannte Julius Salzer in die Wohnung. Er hatte geschellt, Dahlmann zur Seite gedrückt und war ins Wohnzimmer gestürmt. Erst dort, nach einem Rundblick, redete er Dahlmann an.

»Wo ist Monika?« rief er.

»Wie soll ich das wissen, Dichterfürst?« Dahlmann versuchte es mit Spott. Julius, durchfuhr es ihn. Der ist ja auch noch da!

Salzer ballte die Fäuste.

»Soll ich Sie an die Wand werfen?« keuchte er.

»Davon weiß ich noch immer nicht, wo Ihre Monika ist. Und außerdem wäre das kein schönes Gedicht -«

»Sie war hier.«

»Natürlich. Sie hat ja ihre Möbel abgeholt. Und sie hat mit ihrer Schwester, meiner Frau, gesprochen.«

»Ich bin nicht blöde -«

»Aber mir scheint, man muß Ihnen die einfachsten Dinge demonstrativ erklären, wie einem Kind: Das ist ein Räppelchen, und es macht knurr-knurr.«

»Wohin ist Monika?!« schrie Julius Salzer. Er war bleich vor Erregung. Dahlmann hob die Schultern.

»Sie ist gestern abend um zwanzig Uhr oder so 'rum weggegangen. Der Wagen ist ja ohne sie in Soltau angekommen. Sie wollte mit der Bahn nachfahren.«

»Um diese Zeit fährt kein Zug mehr nach Soltau!«

»Weiß ich das?!« Dahlmann wandte sich ab und trat ans Fenster. »Ich rede meiner Schwägerin nicht 'rein, das hat auch gar keinen Sinn. Das sollten Sie sich merken, junger Mann ... so hübsch der

Kopf Monis ist, so dick ist er auch! Sie werden sich die Zähne an dem schönen Lärvchen ausbeißen. Doch das nebenbei. Das ist nicht meine Sorge. Wo sie von hier aus hin ist, weiß ich nicht. Ich weiß nur - sie wollte zum Zug. Zum Hauptbahnhof also. Vielleicht hat sie unterwegs einen anderen schönen Mann gefunden ... Sie wissen ja, wie schnell das bei ihr geht -«

»Sie sind ein ganz gemeiner Flegel -«, sagte Julius Salzer leise. Dahlmann drehte sich schroff herum.

»Gehen Sie, und zwar sofort! Ich habe es nicht nötig, mich in meinem eigenen Hause von so einem Jammerjüngling wie Sie beleidigen zu lassen. Lernen Sie erst einmal richtig arbeiten! Leisten Sie erst etwas im Leben! Dann können wir weiterreden. Also - gehen Sie! Das ist die zweite Aufforderung. Bei der dritten ist's Hausfriedensbruch, und ich rufe die Polizei.«

»Da gehe ich sowieso hin!« schrie Salzer. Er war fast atemlos vor Sorge.

»Warum?«

»Ich mache eine Vermißtenmeldung.«

Dahlmann hob die Augenbrauen. Das ist dumm, dachte er. Daran habe ich nicht gedacht. Zwei Verschwundene im Hause Dahlmann, das fiel auch dem naivsten Polizisten auf. Man mußte es vermeiden, wenigstens so lange, bis man einen Fingerzeig von Luise hatte.

»Kommen Sie her, junger Poet!« sagte Dahlmann und zwang sich zur Jovialität. »Setzen Sie sich. Trinken wir erst einen und denken alles durch.«

Julius Salzer blieb stehen. Die Wandlung Dahlmanns verblüffte ihn und machte ihn gleichzeitig vorsichtig.

»Ich möchte gehen«, sagte er lauernd.

Dahlmann öffnete den Barschrank und nahm eine Whiskyflasche heraus. Er hielt sie hoch und schwenkte sie.

»Kennen Sie die?«

»Nur dem Namen nach. Whisky ist für mich so unerreichbar wie der Nobelpreis. Ich bin froh, wenn ich meine Wasserrechnung abarbeiten kann.«

»Dann sollten wir jetzt aber schnell einen trinken und auf Vorrat tanken.« Dahlmann lachte etwas gequält. »Junger Schiller ... oder tendieren Sie mehr zu Kleist.?«

»Schiller -«

»Dachte ich's mir doch. Also, hauen Sie sich in den Sessel, ich hole Eis aus der Küche, und dann bereden wir, was wir mit Monika machen. Im Grunde tun Sie mir leid. Auch ich war ja einmal jung, und wenn ich verliebt gewesen wäre und dann den Launen einer Frau wie Moni ausgesetzt... ich kann Ihnen nachfühlen, daß Sie den Globus in die Luft sprengen möchten!«

Er drückte Julius Salzer in den Sessel, als er an ihm vorbei zur Küche ging, Eis zu holen.

Nach kaum zwei Stunden war Julius Salzer sinnlos betrunken. Der nie getrunkene Whisky lag wie Blei in seinen Hirnwindungen . er lallte wie ein Verblödeter, fiel auf die Couch und schlief ein.

Ernst Dahlmann aber fuhr in die Stadt, Lebensmittel einkaufen. Gegen Mittag war er wieder zurück. Die Kriminalpolizei hatte sich für vierzehn Uhr angesagt. Sie wollte Bilder von Luise haben, genaue Beschreibungen, Unterlagen.

Man kann nicht sagen, daß ich für das Geld, das ich haben will, nicht wie ein Stier arbeite, dachte Dahlmann. Fast kann man sagen, es ist ehrlich verdient.

Beim Eintritt in die Diele zuckte er zusammen. Luises Hut hing an der Garderobe. Er konnte sich nicht erinnern, dort vorher einen Hut gesehen zu haben.

»Luise!« schrie er und warf seinen Mantel einfach auf den Boden. »Luiserl! Liebes!« Er riß die Tür zum Wohnzimmer auf und stürzte mit ausgebreiteten Armen hinein.

Julius Salzer lag noch immer auf der Couch und röchelte furchtbar. Nur hatte man jetzt seine Beine hochgelegt und ihn mit einer bunten Wolldecke zugedeckt.

Im Sessel, in der Blumenecke, über den Augen die dunkle Sonnenbrille, saß Luise. Sie wandte den Kopf Dahlmann zu, ihr Ge-sicht war maskenhaft starr und bleich. Dahlmann ließ die Arme an den Körper zurückfallen. Wozu auch, dachte er. Sie sieht es ja doch nicht.

»Luiserl ... solchen Schrecken ... ich bin ganz kopflos ... ich bin gar nicht mehr ich. Wo warst du denn? Was ist denn passiert? Wo warst du die ganze Nacht über.?«

»Bei einem Mann -«, sagte Luise ruhig.

Dahlmann zuckte zurück. Eine eiserne Klammer legte sich um seinen Hals. Der Atem stockte ihm.

»Wo . wo warst du, Luiserl.?«

»Bei einem Mann.« Ihr Kopf hob sich, ihre Stimme war klar und fest. »Ich habe einen Geliebten -«

Diese Mitteilung war so ungeheuerlich, daß Ernst Dahlmann zunächst nichts mehr sagen konnte. Er sah Luise nur aus ungläubigweiten Augen an, so wie man eine Naturkatastrophe anstarrt, von der man nicht begreifen kann, wie sie geschehen konnte. Luise beobachtete ihren Mann sehr aufmerksam. Sie war sich klar darüber, daß Dahlmann jetzt etwas tun mußte . nicht an ihr, denn für ihn war sie ja bares Geld, ob mit oder ohne Geliebten. Sie war in jedem Falle sicher, solange sie noch nicht die Überschreibungen ausgeführt hatte. Mit Robert Sanden hatte sie alles genau durchgesprochen. Der beste Schutz war jetzt die Aussicht Dahlmanns, Alleinerbe zu werden. Luise war bereit, dieses ungeheuer schwere Spiel von Blindheit und Bereitwilligkeit so lange noch zu spielen, bis man handfeste Beweise gegen Dahlmann hatte. Zur Zeit gab es diese nicht. Alles, was geschehen war und geschah, vollzog sich unter vier Augen, im sicheren Schutz der eigenen Wohnung. Allein Monika konnte als dritte Auskunft geben, aber mit ihrer Schwester als Hilfe rechnete Luise nicht mehr.

Dahlmann tat zunächst das Wichtigste, als sich seine Erstarrung löste. Er ging zum Telefon und rief die Polizei an.

»Ja, meine Frau ist wieder hier«, sagte er. »Bitte, blasen Sie alles ab. Sie hat . hat bei Bekannten übernachtet. Nein, die hatten kein Telefon. Ich weiß, daß diese Sache blöd ist, aber es war ja auch das erste Mal, daß sie so etwas. Ja, danke. Natürlich komme ich 'rüber und gebe alles zu Protokoll. Ich danke Ihnen vielmals.«

Er legte auf und sah Luise wieder an. Das ist doch nicht wahr, dachte er. Das kann einfach nicht wahr sein.

»Du hattest die Polizei benachrichtigt?« fragte Luise.

»Natürlich!«

»Warum?«

»Erlaube mal! Wenn du mittags weggehst und bist am Abend noch nicht da. Und die ganze Nacht über. Ich habe alles mobil gemacht, was nur geht. Auch Dr. Kutscher ist in Fahrt -«

»Ruf ihn bitte auch an und sage ihm, daß ich hier bin.«

»Das hat Zeit.« Dahlmann wanderte unruhig im Zimmer auf und ab. Er blieb ein paarmal vor Luise stehen, sah sie stumm an, schüttelte den Kopf und ging dann weiter.

»Sag, daß das alles ein fataler Scherz ist.«, meinte er.

»Was?«

»Das mit dem Geliebten.«

»Nein. Es stimmt.«

»Ja, bist du denn verrückt?!«

»Nein. Ich bin ein durch und durch normaler Mensch. Das habe ich gestern gemerkt. Darf ein Mensch nicht einmal schwach werden?«

»Nein!«

»Du bist nie schwach geworden?«

»Nein!«

»Du hast mich nie betrogen?«

»Luiserl! Du weißt, daß ich nie.«

»Gut! Dann habe ich gestern eine Sünde zuviel getan.« Sie hob den Kopf wie ein witterndes Tier. »Es steht dir frei, die Konsequenzen zu ziehen und dich scheiden zu lassen.«

Dahlmann kaute an der Unterlippe. Weniger die Enttäuschung, daß Luise sich einem anderen Mann zugewendet hatte, erregte ihn, als vielmehr der Gedanke, daß der andere, der noch unbekannte, in den Genuß des Vermögens kommen könnte, um das er mit einer verzweifelten Gemeinheit kämpfte. Luise sah diesen Zwiespalt, es war ihr eine tiefe Befriedigung, die Wunde weiter aufzureißen.

»Er ist auch bereit, mich zu heiraten.«

Dahlmann hob die Schultern. »Wer ist es?«

»Das ist uninteressant.«

»Ich will wissen, wer das Schwein ist, das sich an eine blinde Frau heranmacht und auf die gemeinste Art versucht, sich einen lukrativen Lebensabend zu sichern! Etwas anderes ist es nicht! Eine ganz billige, hundsföttische Erbschleicherei -«

»Es ist Liebe.«, sagte Luise still.

»Liebe!« Dahlmann zuckte hoch wie unter einem elektrischen Schlag. »Du kannst ja nicht sehen, wer es ist, ob er ein Scheusal ist, ob er -«

»Er hat eine Seele. Sie kann man nicht sehen, sondern nur fühlen. Der Wert eines Menschen ist nicht am Gesicht oder an seiner Figur ablesbar.«

»Und er hat Seele, was?« schrie Dahlmann.

»Ja -«

»Und das sagst du so dahin? Das soll ich einfach schlucken?! Ich soll mich damit abfinden, daß die einzige Frau, die ich liebe und je geliebt habe, daß meine Frau einen Geliebten hat!«

»Es verlangt keiner von dir. Laß dich scheiden. Ich mache es dir einfach. Ich liefere dir sogar den Scheidungsgrund.«

Ernst Dahlmann wanderte wieder im Zimmer auf und ab. Man müßte diesen Mann ausfindig machen, dachte er. Wenn es ihn überhaupt gibt, wenn es nicht von Luise ein Bluff ist. Aber warum soll sie dieses Theater spielen, und wo hat sie die vergangene Nacht verbracht? Er blieb stehen und sah seine Frau wieder an. Er begriff es einfach nicht. Es paßte nicht zum Charakterbild der sittenstrengen Luise, daß sie als Blinde sich einem Mann in die Arme warf, den sie gerade kennengelernt haben mußte, von dem sie nichts wußte, den sie nicht sehen konnte, dessen Stimme ihr nur greifbar war und das, was diese Stimme ihr erzählte. Das alles war so ungeheuerlich, so absurd, so makaber, daß Dahlmann immer wieder Luise anstarrte, den Kopf schüttelte und seinen Rundgang durch das Zimmer wieder aufnahm.

»Was willst du tun, Ernst?« fragte Luise mit ruhiger Stimme.

»Nichts!«

»Das ist sehr wenig.« Sie beugte sich etwas vor, um ihren Worten den nötigen Nachdruck zu geben. »Ich muß dir gestehen, daß ich von diesem Mann nicht wieder loskomme.«

»Luiserl, das ist doch Verblendung!«

»Vielleicht. Aber ich bin auch nur ein schwacher Mensch, und jetzt besonders schwach. Ich liebe . da bleibt für die Vernunft kein Platz mehr. Kannst du das nicht nachempfinden?«

Dahlmann konnte es. Er dachte an seine Monate mit Monika, an die Himmel, die er herunterreißen wollte, an die vielen, vielen Worte, die man gesprochen hatte und deren Sinn die Sinnlosigkeit war.

»Nein!« sagte er hart. »Dafür fehlt mir jedes Verständnis! Das einzige, was ich sehe, ist, daß ich mich um dich anscheinend noch zu wenig gekümmert habe. Ich habe auf die Verläßlichkeit fremder Menschen, wie Fräulein Pleschke, gebaut. Es war eine Fehlspekulation! Es wird nicht wieder vorkommen.«

»Zu spät.«

»Was heißt zu spät?!«

Dahlmann begriff die Gefahr, in der er sich befand. Alles, was er in mühsamer Kleinarbeit mit Lumpereien und Betrug aufgebaut hatte, wurde in dem Augenblick zerstört, in dem Luise sich von ihm trennte und zu dem anderen Mann ging. Das zu verhindern, war jetzt das einzige, was Dahlmann tun konnte. Die Vorbedingung war, daß er erfuhr, wer der Unbekannte war. Nach seiner Meinung konnte es sich nur um einen noch größeren Lumpen als ihn handeln, der für das sichere Leben eine blinde Frau in Kauf nahm.

Luise beobachtete ihn hinter den dunklen Brillengläsern mit der stillen Freude erfüllter Rache. Robert Sanden hatte ihr Mut gegeben. Er hatte gesagt: Du brauchst keine Angst vor deinem Mann zu haben. Er wird dir nie etwas antun. Eine tote Luise nutzt ihm nichts . nur die lebende Luise ist für ihn wertvoll, und das auch nur so lange, bis er die Schenkung und Überschreibung in der Tasche hat ... oder bis es ihm gelungen ist, dich entmündigen zu lassen. -Jetzt sah sie, daß Sanden recht gehabt hatte. Dahlmann nahm alles hin, auch einen Ehebruch, einen Geliebten, alles ... er klammerte sich an Luise oder vielmehr an die Aussicht, doch noch einen Teil des Hortenschen Vermögens zu bekommen.

Luise legte die Hände auf die Sessellehne. So hatte sie fast zwei Jahre dagesessen, in die Dunkelheit lauschend, an die Liebe und Fürsorge ihres Mannes glaubend.

»Warum sagst du nicht, wer dieser andere Mann ist?« fragte Dahlmann heiser vor Erregung. Luise schüttelte den Kopf.

»Es ist noch zu früh.«

»Warum bist du zurückgekommen, wenn du nicht mehr mit mir weiterleben willst?« schrie Dahlmann außer sich.

»Um es dir zu sagen, Ernst.« Sie sprach ganz ruhig. Er wird mir nie etwas tun, ich bin ihm als Lebende viel zu wertvoll. »Ich will ehrlich zu dir sein ... so, wie du auch immer zu mir ehrlich warst.«

»Und das ist dann der Dank für meine Korrektheit!«

»Die Welt ist eben schlecht, Ernst.«

»Wenn du mir versprichst, dich von diesem Kerl zu lösen, will ich alles vergessen.«

»Das kann ich dir nicht versprechen.«

Sie stand auf, tastete sich aus dem Zimmer und ging ins Schlafzimmer. Dahlmann hörte, wie sie hinter sich die Tür abschloß. Das Gespräch war beendet.

Er stand wie betäubt da und empfand eine wilde Wut über seine Untätigkeit. Auf der Couch röchelte und schnarchte noch immer Julius Salzer. Er sah grün im Gesicht aus, als habe er eine Alkoholvergiftung.

Nach Herrenhausen, dachte Dahlmann. Das war der einzige Punkt, wo man eine Nachforschung ansetzen konnte. Von der Terrasse des Schloßcafes aus war Luise mit dem Mann weggegangen. Vielleicht war es möglich, von dort eine Spur aufzunehmen.

Er rannte hinaus, nahm seinen Mantel und fuhr weg.

Zuerst aber fuhr er zu Dr. Kutscher.

»Einen Geliebten hat sie?« sagte der Anwalt und blies den Zigarrenrauch gegen die Decke. Er verzichtete auf seine kunstvollen Ringe; die Mitteilung hatte ihn ebenso schockiert wie Dahlmann. »Sind Sie sicher?«

»Sie war doch die Nacht über bei ihm!« Dahlmann trank in hastigen, kleinen Schlucken einen doppelten Kognak. »Wo soll sie sonst gewesen sein?«

»Ja, wo? In einem Hotel?«

»Allein? Als Blinde? Wer hat sie dorthin gebracht? Das ist doch Dummheit!«

»Im Leben ist nichts dumm genug, als daß es nicht geschehen könnte. Aber in diesem Falle gebe ich Ihnen recht: Warum soll sie in ein Hotel gehen!«

»Na also!«

»Und?«

»Und! Und! Ihre Weisheit ist sehr beschränkt, Doktor. Vielleicht wäre es Ihnen möglich, den Namen dieses Mannes aus ihr herauszubekommen.«

»Schon möglich.« Dr. Kutscher lächelte mokant. »Nur würde ich ihn Ihnen nicht sagen.«

»Aber -«

»Bedenken Sie, ich bin der Anwalt Ihrer Frau, nicht mehr Ihrer! Was sie mir also mitteilt, fällt unter Berufsgeheimnis!«

»Aber Sie könnten mit diesem Kerl sprechen!«

»Das werde ich auch!«

»Und ihm die Leviten lesen.«

»Das kommt darauf an, wer und was er ist! Objektiv betrachtet, könnte sich Ihre Frau überhaupt nicht verschlechtern -«

Dahlmann verließ wütend das Büro Dr. Kutschers. Er warf sich in seinen Wagen und raste hinaus nach Schloß Herrenhausen.

Dr. Kutscher blieb ehrlich beunruhigt zurück. Er konnte sich aus diesem Vorfall keinen Vers machen. Es war nicht die Art Luise Dahlmanns, so zu handeln. Wer sie kannte, hielt solche pikanten Dinge für unmöglich. Es mußte auch anders sein, als es Dahlmann schilderte, das war für Dr. Kutscher fast sicher. Nur scheute er, Luise selbst anzurufen. Es war ein Zögern, in dem die Möglichkeit, daß alles doch wahr sein könnte, versteckt lag. Ein Mißtrauen, das aus Kutschers Stellung zur Weiblichkeit erklärbar war. Er war der Ansicht, daß siebzig Prozent des Bösen in der Welt durch direkten oder indirekten Einfluß der Frau veranlaßt wurde. Auch einer Luise Dahlmann konnte man nur vor das schöne Gesicht sehen.

Dr. Kutscher versuchte es mit der alten und bewährten Methode, nach der die Kriminalpolizei aller Länder arbeitet. Er kümmerte sich um die Routinefragen, so absurd sie auch waren.

Er führte an diesem Vormittag genau sechsundfünfzig Telefonate.

Dann wußte er alles.

Er kannte den Namen des Mannes, der der Geliebte Luises sein sollte.

Er wußte, wo Luise die vergangene Nacht verbracht hatte.

Und dann setzte er sich in seinen ledernen Sessel, nahm eine Brasil und blies zum eigenen Vergnügen kunstvolle Ringe ins Zimmer. Er hatte es sich verdient, eine halbe Stunde zu verspielen. Er war mit sich selbst sehr zufrieden.

Die beiden Serviererinnen vom Schloßcafe machten große Augen, als Ernst Dahlmann jeder von ihnen einen Zwanzigmark-Schein in die weiße Schürzentasche steckte.

»Ich bin von der Versicherung«, sagte er. »Ich habe den blödsinnigen Auftrag, Frau Dahlmann zu beobachten. Sie wissen ... wenn ihr was passiert, dann müssen wir zahlen. Und wenn wir immer zahlen müssen, womit sollen wir dann die schönen Versicherungspaläste bauen? Es ist doch so ... den Wiederaufbau der deutschen Städte verdanken wir den Versicherungen und Banken.«

Die Mädchen kicherten. Ein Witzbold, dachten sie. Aber was will er wirklich? Was ist mit der armen, blinden Frau Dahlmann.

»Sie kennen doch Frau Dahlmann?«

»Aber ja.« Das Mädchen, das sich Irma nannte, nickte heftig. »Ist ja unser Stammgast.«

»Sie hat gestern mit einem Mann hier gesessen?«

»Ja.«

»Und ist mit ihm weggegangen?«

»Ja.« Irma wurde verschlossener. »Warum?«

»Wieso warum?«

»Was geht Sie das an? Solche Fragen hat die Polizei auch gestellt.«

»Die Polizei? War die denn hier?«

»Ist denn was passiert?« fragte das Mädchen, das sich Blondie nannte. Dahlmann schüttelte den Kopf.

»Nein, nein! Uns interessiert nur der Mann. Wir vermuten, daß er von der Konkurrenz war und Frau Dahlmann beschwatzen will, die Versicherung zu wechseln. Sie glauben nicht, meine Damen, wie hart der Kampf in unserer Branche ist.«

Die Damen lächelten wissend. Blondie hatte es sogar erlebt. Jemand wollte sie dagegen versichern, daß sie Kaffee auf die Kleider der Gäste goß. Dabei war der Chefin der Haftpflicht. Aber der Werber hatte ihr einen langen Vortrag über Zusatzversicherungen und andere Dinge gehalten und sie am Ende in den Hintern gekniffen. »Dagegen gibt es keine Versicherung!« hatte er scherzhaft gerufen. »Und genau dagegen brauch' ich eine!« hatte Blondie schlagfertig geantwortet. Blondie war eben ein kluges Kind.

»Sie kennen den Herrn?« fragte Dahlmann. Die Mädchen schüttelten die hübschen Puppenköpfchen.

»Nein«, sagte Irma. »Er kam zwar oft zu uns, aber wie sollen wir seinen Namen kennen?«

»Wie sah er denn aus?«

»Nett.« Es war Blondie, die diese Feststellung traf.

»So? Nett?! Und wie alt?«

»Jünger als Sie -«

Solche Sätze hörte Dahlmann nicht gern. Er schluckte seinen Ärger hinunter. »Wie alt ungefähr?« fragte er.

»Mitte Dreißig.«

»Ich bin zweiundvierzig! So viel jünger ist er also auch nicht.«

Blondie kicherte keck. »In diesem Alter machen ein paar Jahre bei einem Mann allerhand aus.«

»Sie müssen's ja wissen!« Dahlmann bemühte sich, Haltung zu bewahren. Das Kichern ging ihm auf die Nerven. Ein junger Mann, dachte er. Ein netter Mann. »Wie sieht er denn aus?« fragte er wieder. »Ist er groß, breit.«

»Mittelgroß, aber nicht so dürr, wie die Motorradjünglinge. Und immer elegant im Zeug. Übrigens ist der Frau Dahlmann da ein Pech passiert.«

Dahlmann horchte auf. »Pech? Was denn?«

»Sie hat ihre Tasse Kakao über den hellen Anzug des Herrn geschüttet. Der sah vielleicht aus! Aber der Herr hat sich gar nichts daraus gemacht . er ist mit ihr fortgegangen, als ob gar nichts passiert wäre! Jeder andere hätte geschimpft oder sich mit den großen Kakaoflecken geniert . der nicht! Der ist ein Weltmann!«

»Und im übrigen muß ich den schon mal gesehen haben!« Irma schob die Unterlippe nachdenklich vor. Ihr Gesicht bekam dadurch den Ausdruck eines satten Schafes. »Irgendwo in der Zeitung, in einer Illustrierten . jedenfalls gedruckt. Das ist bestimmt kein Unbekannter -«

»Danke.« Dahlmann sah ein, daß er mehr nicht erfahren konnte. Er bezahlte sein Bier, ärgerte sich über die verlorenen vierzig Mark, denn die Auskunft, die er erhalten hatte, war diese Summe nicht wert, und verließ das Schloßcafe. Mißmutig fuhr er zurück nach

Hannover. Ein bekannter Mann, dachte er immer wieder. Der in der Zeitung abgebildet wurde. Mit Kakaoflecken auf einem hellen Anzug. Man konnte doch nicht alle Reinigungen Hannovers abfragen: Hat bei Ihnen ein Mann einen hellen Anzug abgegeben, auf dem Kakao verschüttet war.? Und wenn er gar nicht in Hannover wohnte?

Dahlmann fuhr bei der Polizei vor, um das Protokoll über die Rückkehr seiner Frau aufnehmen zu lassen.

Die Beamten lächelten höflich, als Dahlmann sich setzte. Sie lächeln hämisch, dachte er. Sie lächeln wie dumme Jungen, die einen Streich gemacht haben. Sie grinsen vor Schadenfreude.

»Unsere Ermittlungen, die ja bereits angelaufen waren, haben ergeben, daß Ihre Mitteilung richtig war. Ihre Frau ist wieder da, sie hatte lediglich woanders übernachtet.«

Dahlmann empfand, daß der Beamte das Wort woanders besonders genußvoll aussprach. Er preßte die Lippen aufeinander.

»Ja, bei oder mit ihrem Geliebten!« zischte er. Der Beamte senkte diskret den Blick.

»Das ist eine Privatangelegenheit. Uns ist lediglich wichtig, daß keinerlei Entführung oder Erpressung vorliegt, sondern nur eine au-ßerhäusige Übernachtung. Das gehört in den Zivilsektor . wir sind nur für Strafsachen zuständig. Wenn Sie unterschreiben, können wir die Akte schließen. Auch Herr Sanden hat bewiesen, daß keinerlei verbrecherische Absicht vorlag.«

Ernst Dahlmann beherrschte sich in diesem Augenblick vollendet. Er zuckte weder zusammen, noch zeigte sein Gesicht eine Regung. Er nickte nur, unterschrieb den Protokollbogen, ohne den Text durchzulesen, und verließ schnell das Zimmer.

Robert Sanden! Der Schauspieler Robert Sanden!

Ein Komödiant.

Dahlmann blieb auf der Straße vor dem Polizeipräsidium stehen. Ihm war plötzlich leicht ums Herz. Er hätte lachen können, wenn es nicht zu blöd vor all den Passanten gewesen wäre.

Er hatte mit einem harten, erbarmungslosen Gegner gerechnet.

Mit einem Kampf, der keine Gnade kannte. Und nun war es nur der Bonvivant des Stadttheaters, ein Mann, der vom Anschwärmen lebte und vom Applaus, und von einem Gehalt, das die MohrenApotheke als Wechselgeld in der Kasse hatte.

Das ist kein Gegner, dachte Dahlmann. Eine Riesenlast fiel von ihm ab wie ein kalbender Gletscher. Man kann alles auf der Welt kaufen, es ist nur eine Preisfrage. Der Preis des Herrn Robert San-den würde zu bezahlen sein, dessen war sich Dahlmann in diesem Augenblick völlig sicher.

In den Stunden der Dahlmannschen Nachforschungen war Dr. Kutscher in der Mohren-Apotheke erschienen. Er traf Luise dabei an, wie sie dem noch immer vom Alkohol betäubten Julius Salzer kalte Kompressen auf die Stirn legte.

»Wer ist denn dieser alkoholgewässerte Knabe?« fragte Dr. Kutscher. Er wunderte sich dabei, wie sicher Luise die Kompressen auflegte, für eine Blinde eine wahrhaft beachtliche Tastleistung. Luise hob beide Hände.

»Keine Ahnung. Ich hörte ein Schnarchen und Röcheln, ging dem Geräusch nach und fand einen Mann hier liegen. Ich rieche, daß er total betrunken ist. Mein Mann muß ihn mitgebracht haben.« Sie setzte sich und sah Dr. Kutscher an. Der Anwalt hatte sich über Salzer gebeugt und suchte in dessen Rocktasche nach einem Ausweis. Er fand eine Kennkarte und las sie.

»Der junge Säufer heißt Julius Salzer, ist in Bremen geboren und hat als letzten Wohnsitz Lüneburg im Ausweis stehen. Hat Ihr Mann Bekannte in Lüneburg?«

»Ich weiß nicht. Ich kenne keinen.«

Dr. Kutscher steckte die Kennkarte wieder in Salzers Rocktasche. Er drehte den Kopf Salzers hin und her, klopfte gegen seine Backen, schob ein Augenlid herunter und schüttelte ihn an der Schulter.

»Der Kerl ist total besoffen. Es riecht nach Whisky. Trinkt Ihr Mann Whisky?«

»Ja. Ab und zu.«

»Sie ahnen, warum ich hier bin?«

»Nein -« Luises durch die dunklen Gläser geschützte Augen wurden lauernd.

»Ihr Mann war vor einer Stunde bei mir.«

»Ach -«

»Er hat mir da eine Räuberpistole erzählt, was Sie alles angestellt haben sollen.«

Luise schwieg. Dr. Kutscher lächelte mokant und setzte sich vor sie in den Sessel.

»Ihr Mann befindet sich in einer Art Aufregung, die es physikalisch möglich machen würde, ihn als Treibsatz einer Rakete zu benutzen.«

Luise schwieg. Sie wußte nicht, was Dr. Kutscher wollte, sie wußte vor allem nicht, warum er lächelte. Da auch er annahm, daß sie blind war, brauchte er sein Mienenspiel nicht zu beherrschen.

»Er sagt, Sie hätten ihn betrogen. Sie hätten einen Geliebten.«

»Ja -«

Dr. Kutschers Lächeln wurde breiter. »Warum lügen Sie?«

»Ich lüge nicht!«

»Ihrem Mann können Sie dieses Märchen von der gestrauchelten Prinzessin vorspielen, aber nicht mir, Ihrem Anwalt.«

Luise spürte, daß sie rot wurde. Sie kämpfte dagegen an, aber noch keinem ist es gelungen, das Blut aus dem Kopf zurückzudrängen, wenn es einmal emporsteigt. Dr. Kutscher betrachtete sie mit einem Blick, der mehr Fragen enthielt als Feststellungen.

»Soll ich Ihnen sagen, was ich weiß?«

»Bitte.«

»Sie hatten eine Begegnung mit dem Schauspieler Robert Sanden. Übrigens ein netter Kerl. Dem haben Sie Kakao über den Anzug gegossen. Dann sind Sie mit ihm zurück nach Hannover gefahren und waren bis zum Abend bei ihm in der Wohnung. Aber in allen Ehren. Dort haben Sie mit ihm besprochen, daß Ihr Mann erschreckt werden sollte. Herr Sanden brachte Sie um 22.17 Uhr in das Hotel >Atlantic<, dort bezogen Sie das Einzelzimmer Nr. 285 im zweiten Stock, Herr Sanden fuhr ab, und Sie wurden nicht mehr gesehen. Sie gingen brav, wie es sich gehört, schlafen. Und während Sie schliefen, saß Ihr Mann hier am Telefon und machte Polizei und alle Krankenhäuser verrückt. Stimmt's?«

Luise nickte stumm. Dr. Kutscher atmete hörbar auf.

»Und nun die unvermeidliche Frage: Warum?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen.«

»Eine andere, sehr indiskrete Frage, nach der Sie mich hinauswerfen können: Sind Sie die Geliebte Sandens geworden?«

»Nein -«, sagte Luise leise.

»Aber Sie lieben ihn, heimlich?«

»Ja.«

»Er weiß nichts davon?«

»Er darf es vorläufig nicht erfahren.«

»Was heißt vorläufig?«

»Darüber möchte ich nicht sprechen.«

»Sie haben etwas vor?«

»Nein.«

»Sie lügen wieder.«

Luise schwieg. Dr. Kutscher sprang auf. »Zu seinem Anwalt sollte man Vertrauen haben und ihm die Wahrheit sagen!« rief er. »Wie soll ich Ihnen helfen, wenn Sie einsame Entschlüsse treffen, die vielleicht völlig dumm sind? Ich würde wesentlich klarer sehen, wenn Sie mir erklärten, warum Sie Ihrem Mann diese Farce mit dem Geliebten vorspielen.«

»Dazu habe ich meine Gründe.«

Dr. Kutscher kratzte sich über den Nasenrücken. Wie kann man ihr sagen, daß Ernst Dahlmann ein Lump ist, grübelte er. Es gibt da viele Möglichkeiten, aber jede würde die Schweigepflicht verletzen, an die er als ehemaliger Anwalt Dahlmanns gebunden war. Es war, vom Standesrechtlichen aus gesehen, überhaupt eine Unerhörtheit, daß er die Mandantschaft Luises angenommen hatte. Er hätte sie strikt ablehnen müssen. Aber Luise hatte sein volles Mitleid. Aus ihm heraus allein hatte Dr. Kutscher sich über standesethische Bedenken hinweggesetzt. Es war ihm unmöglich, zusehen zu müssen, wie Luises Blindheit zu Schuftereien solchen Ausmaßes ausgenutzt wurde.

»Ich möchte Ihnen einen Rat geben, gnädige Frau.«

»Ich höre.«

»Reichen Sie die Scheidung ein.«

»Das habe ich Ernst bereits vorgeschlagen.«

Dr. Kutschers Kopf zuckte vor. Dahlmann hatte ihm das verschwiegen. »Und wie steht er dazu?«

»Er weicht aus. Er will nicht. Er ist bereit, zu verzeihen.«

»Und genau das wollen Sie nicht?«

»Nein.«

»Ich stehe vor einem Rätsel.« Dr. Kutscher ging im Zimmer auf und ab. Es scheint eine naturgegebene Unart der Männer zu sein, bei Erregungen hin und her zu laufen. Es ist, als ob ihr Gehirn durch die Bewegung durchgeschüttelt werden müßte.

»Sie waren doch bereit, Ihrem Mann für seine Treue und Liebe allen Besitz der Hortens zu schenken?!«

»Ja.«

»Verzeihung, aber hier versagt meine Logik.«

»Das glaube ich.« Luise lächelte nachsichtig. »Es hat sich in wenigen Stunden vieles geändert. Pläne macht man, um sie gegen bessere einzutauschen ... das habe ich jetzt gesehen. Man muß flexibel sein.«

»Gnädige Frau sollten Politikerin werden!« sagte Dr. Kutscher giftig. »Sie würden eine rasante Karriere haben.«

»Warum so sarkastisch, Doktor?«

»Ich komme nicht mehr mit. Bisher glaubte ich immer, kein Dussel zu sein. Anscheinend bin ich einer.«

»Wenn Sie etwas wüßten, was bisher nur eine Handvoll Menschen weiß, und von ihnen ist einer sogar unsicher, ob es wahr ist, würden Sie alles verstehen.«

»Dann weihen Sie mich ein, gnädige Frau.«

»Vielleicht in Kürze.« Luise hob die Hand. »Nein, sprechen Sie nicht, Doktor. Das ist kein Mangel an Vertrauen ... und das wollten Sie mir gerade vorwerfen, nicht wahr? . aber als ehemaligem Anwalt meines Mannes würde Ihnen das Wissen wenig nützen, weil Sie trotzdem schweigen müßten! Sie stehen außerhalb, notgedrungen ... ich werde es mit Herrn Sanden allein schaffen.«

»Schaffen? Was schaffen?« Dr. Kutscher starrte Luise an. Was weiß sie?, dachte er plötzlich. Das klingt so, als wenn sie alles wüßte. Hatte Dr. Ronnefeld etwas verlauten lassen? Dr. Kutscher versuchte es mit einem Test. »Sie sollten sich das alles reiflich überlegen«, sagte er langsam und betont. »Schließlich haben Sie einen Mann, der Sie umhegt und der Sie wahrhaftig liebt.«

Gespannt wartete er auf ihre Reaktion. Luise blieb ganz ruhig. Sie nickte sogar.

»Ja«, antwortete sie. »Ich habe einen solchen Mann.«

Dr. Kutscher verließ seufzend die Wohnung. Ich gebe es auf, die weibliche Psyche zu verstehen, dachte er. In diesem Dahlmannschen Konflikt ist überhaupt keine Logik mehr.

Er ahnte nicht, daß gerade das der große Trumpf in Luises Hand war.

Am Nachmittag fuhr Dahlmann zunächst den noch immer schlafenden Julius Salzer aus dem Haus. Er schaffte ihn in eine billige Pension, bezahlte den doppelten Preis, falls Salzer - was die Wirtin befürchtete - die Bettwäsche vollkotzen würde, wenn er aufwachte, steckte ihm einen Zettel in die Rocktasche mit der Aufschrift: »Monika befindet sich in Köln. Warum, das weiß ich nicht, sie hat vor-hin aus Köln angerufen«, und bezahlte auch noch einen starken Kaffee.

»Gewalttätig ist er nicht«, sagte er auf die diesbezügliche Frage der erfahrenen Wirtin. »Ganz im Gegenteil... er wird sich wie ein Säugling benehmen.«

»Er ist doch nicht etwa ein Bettnässer?« rief die Wirtin entsetzt. »Ich habe erst vor einem Jahr die Matratzen erneuert!«

»Keine Sorge. Er ist nur ein geistiger Bettnässer.« Dahlmann überließ Salzer seinem weiteren Schicksal und fuhr zur Wohnung des Schauspielers Robert Sanden.

Mit einer Erklärung, wer Julius Salzer war, hatte Dahlmann keinerlei Schwierigkeiten. »Er ist ein alter Studienkollege, Luiserl!« hatte er gesagt. »Gestern abend stand er plötzlich vor der Tür, blau wie eine Feldhaubitze von 1870. Er ist Ingenieur, und irgendwie muß er auf der Messe etwas vorbereiten. So ganz klug bin ich aus seinem Gelalle nicht geworden. Dann hat er noch meinen Whisky zu dem anderen Alkohol gekippt und lag parterre. Ist sonst ein lieber Kerl, der Friedrich. War unser Primus auf der Schule.«

»Und wo kommt er her?« fragte Luise ruhig.

»Aus Wuppertal. Seine Fabrik stellt gummielastische Waren her. Hosenträger, Strumpfbänder, Ärmelhalter und neuerdings auch Sicherheitsgurte für Autos. Ich bringe ihn ins Hotel zurück, Luiserl. In einer Stunde bin ich wieder zurück.«

Luise schwieg. Wer ist dieser Julius Salzer, dachte sie. Warum lügt er wieder? Friedrich und Ingenieur aus Wuppertal! Wer verbirgt sich hinter dem jungen betrunkenen Mann? Wie kommt er in unsere Wohnung?

Sie wartete, bis sie Dahlmanns Wagen wegbrummen hörte. Dann suchte sie im Telefonbuch die Nummer der Auskunft.

»Ich möchte die Rufnummer des Einwohnermeldeamtes Bückeburg«, sagte sie. »Ja. Danke. Ich warte.«

In fünf Minuten würde man wissen, wer dieser Julius Salzer war.

Ernst Dahlmann klingelte vergebens an der Tür Robert Sandens. Er war nicht zu Hause. Um diese Zeit waren die Nachmittagsproben. So fuhr Dahlmann weiter zum Theater und verhandelte in der Portiersloge am >Eingang für Bühnenangehörige< lange und zäh, bis der Pförtner sich bereit erklärte, Herrn Sanden von der Probe wegzurufen. Zu dieser Tat wurde er erst inspiriert, als Dahlmann neben einer Zigarre auch einen Geldschein hinschob. »Zum Anzünden!« sagte er mit sauer-fröhlicher Miene. Der Portier lachte und klingelte zum Inspizienten. Dort erfuhr man, daß Herr Sanden gerade seine große Szene im zweiten Akt probte. Es war die erste Kostümprobe mit Bühnenbild und Beleuchtung. König Lear. Robert Sanden spielte darin den Narren.

»Es wird bestimmt zwanzig Minuten dauern«, sagte der Portier. »Da kann man nicht einfach weggehen.« Er schnupperte an der Zigarre. »Setzen Sie sich doch in die Kantine, mein Herr. Ich schicke den Herrn Sanden dann dorthin. Wen soll ich denn melden?«

Dahlmann hatte eine plötzliche Eingebung. »Sagen Sie, ein Abgesandter des Württembergischen Staatstheaters sei hier, aus Stuttgart. Es sei dringend.«

Der Portier sah Dahlmann mit leicht offenem Mund nach. Ein Herr aus Stuttgart. Vom Staatstheater. Von der Konkurrenz. Und dann eine Zigarre und ein Geldschein ... das war ein ganz neues Erlebnis in vierzigjähriger Theaterlaufbahn als Bühneneingangportier. Das war sicherlich eine moderne Einstellung zum Personal. Es war ja bekannt, daß die Leute im Süden ein moderneres Theater spielten als im Norden.

Geduldig wartete Dahlmann über eine halbe Stunde. Dann sah er Robert Sanden in die Kantine kommen, noch im Kostüm des Learschen Bettlers, zerlumpt, mit Stroh im Haar wie sein wahnsinniger Herr, der König. Er sah sich um; als er Dahlmann sitzen sah, straffte sich seine Gestalt. Mit festen Schritten kam er auf ihn zu. Dahlmann blieb sitzen, die Hände um das Glas Bier gelegt.

»Ich hätte mir denken können, daß kein Herr aus Stuttgart unangemeldet kommt«, sagte Sanden abweisend. »Andererseits paßt es zu Ihnen, sich hinter anderen zu verstecken.«

»Vergessen Sie, daß Sie auf der Bühne stehen«, sagte Dahlmann ironisch. »Reden Sie wie ein normaler Mensch. Das hier ist keine Rolle, es ist tiefster Lebensernst.«

»Was wollen Sie von mir?« Sanden blieb stehen, auch als ihm Dahlmann einen Stuhl hinrückte.

»Ich will Sie zunächst fragen, wie Sie sich das mit meiner Frau denken!«

»Ich liebe sie.«

»Das ist nett gesagt!« Dahlmann umkrallte das Bierglas. »Jeder andere Mann würde Ihnen eine 'runterhauen wegen dieser Frechheit, das einfach ins Gesicht zu sagen.«

»Ich habe Ihnen auf Ihre klare Frage nur die nötige klare Antwort gegeben.«

»Und damit meinen Sie, sei alles klar?!«

»Ja.«

»Sie halten es für richtig, einfach eine Frau zu lieben, ohne zu fragen, ob sie verheiratet ist, ja, das stört Sie nicht im geringsten! Sie setzen sich über alle Moralgesetze hinweg, Sie zerbrechen eine Ehe, und wie ich sehe, sind Sie sogar auch noch stolz darauf.«

»Ich liebe Luise ... und das allein ist wichtig! Moral war von jeher ein Mäntelchen für die Bigotten, den sie sich umhängten, um ihre eigene Fäulnis zu verdecken.«

»Das ist ja eine herrliche Ansicht!«

»Ich begreife eine moralische Entrüstung gerade von Ihrer Seite aus nicht.«

»Daß ich Luise auch liebe, ist Ihnen nie in den Sinn gekommen?!«

»Aber ja. Meines Erachtens liegt es an Luise, für wen sie sich entscheidet.«

»Nach dem Urteil des Paris nun das Urteil der Helena?! Halten Sie mich für einen Bajazzo, Sanden?! Es ist überhaupt von mir eine ungeheure Selbstbeherrschung, hier mit Ihnen über solche Dinge zu sprechen, als sei es ein Kuhhandel, statt Sie an die Wand zu werfen und einen Skandal zu entfesseln, der Ihnen Ansehen und Stel-lung kosten würde!«

»Was hätten Sie davon?« Robert Sanden war ganz ruhig. In seinem Bettlerkostüm sah er zerknittert und vergrämt aus. »Glauben Sie, dadurch gewännen Sie Luise zurück?«

»Luise ist . ist Ihre Geliebte?«

»Für diese Frage müßte ich Ihnen als Ehrenmann eine herunterhauen.«

»Ich habe ein Recht auf Wahrheit!«

»Fragen Sie Luise.«

»Sie gestand es mir ja.«

»Wenn Luise es Ihnen sagte, sehe ich keinen Anlaß, es zu dementieren.«

Dahlmann legte seine Fäuste auf den Tisch. Sie bebten vor verhaltener Wut.

»Fünfundzwanzigtausend«, sagte er hart.

»Wie bitte?« Sanden beugte sich vor.

»Ich biete eine wirtschaftliche Sicherheit.«

»Sie wollen Luise von mir abkaufen?«

»Ich will Ihnen die Torheit ersparen, sich einer Frau wegen zu ruinieren. Außerdem will ich Luise schützen. Sie ist blind, und sie wird immer blind bleiben. Es gibt keine Heilungsmöglichkeiten mehr. Wir haben alles unternommen. Luise wird also immer Pflege brauchen, sie wird nie mehr ein vollgültiger Mensch sein . und ich möchte sie davor bewahren, von Ihnen betrogen und weggeworfen zu werden, wenn Sie ihrer überdrüssig geworden sind. Bei Menschen Ihres Berufes geht das schnell. Ihre mangelnde Moral haben Sie ja bereits unter Beweis gestellt.«

»Man sollte vor Ihnen ausspucken!« sagte Sanden erregt.

»Dreißigtausend.«

»Gehen Sie!«

»Ich warne Sie, Sanden.«

»Ich habe keine Angst vor Ihnen.«

»Ich schrecke vor nichts zurück.«

»Alles, was Sie gegen mich tun, richtet sich auch gegen Sie! Luise würde Ihnen nie verzeihen -«

Dahlmann biß die Zähne zusammen. Sanden sprach aus, was Dahlmann immer gedacht hatte. Es lag allein an Luise, wie das Leben weiterging. Es hatte immer an Luise gelegen ... vom ersten Tage an. Immer war er nur ein Anhängsel gewesen, ein Bierzipfel, den man von einer Tasche in die andere schob, wenn man den Anzug wechselte.

Das muß ein Ende haben, dachte Dahlmann. Ein schnelles Ende, und wenn es voller Schrecken ist. Und man müßte bescheiden sein ... der große Wurf war nicht gelungen, das Kapital, das die plötzliche Blindheit Luises bedeutete, war in seinen Händen zerronnen, und er stand vor einem Rätsel, wieso so viele Dinge geschehen konnten, die zu einer Mauer zwischen ihm und Luise wurden, Dinge, an die man vorher nie gedacht hatte und die im Leben Dahlmanns utopisch schienen. Er war in ein Labyrinth geraten und irrte nach dem Ausgang. Er verstand es einfach nicht.

»Ich glaube, unser Gespräch ist beendet«, sagte Robert Sanden. Dahlmann schrak aus seinen Gedanken auf.

»Sie lassen nicht von Luise?«

»Nein. Nie mehr.« Sanden lächelte maliziös. »Warum lassen Sie sich nicht von ihr scheiden?«

»Das geht Sie nichts an!«

»Was haben Sie davon, sich an eine Frau zu klammern, die Ihnen nie mehr gehören wird?«

»Das bleibt abzuwarten.«

Robert Sanden zog die künstlichen, buschigen Augenbrauen hoch. Jetzt war er der Bettler, der seinen kranken König mit aufklärenden Worten belehren wollte.

»Warten Sie bitte nicht«, sagte er langsam. »Luise wird in einer Woche von Ihnen weggehen. Sie zieht zu mir.«

Er drehte sich schroff um und verließ die Kantine. Dahlmann blieb wie auf den Stuhl genagelt sitzen. In seinen Schläfen hämmerte und drückte das Blut. Er hatte das Gefühl, sein Kopf müsse explodieren.

In einer Woche zieht Luise zu ihm, durchjagte es ihn. In einer Woche ist alles vorbei. In einer Woche. So kann ein Leben zu sechs Tagen zusammenschrumpfen, ein Leben, das man glaubte, bis zum späten Ende gesichert zu haben.

Eine Woche noch. Dahlmann stand auf, legte eine Mark neben das halb getrunkene Bier und verließ die Kantine des Theaters. Der Portier sprach ihn an, er hörte nicht auf die Worte und ging stumm vorbei. Er stieg wie ein Schlafwandler in seinen Wagen und fuhr durch die Straßen. Kreuz und quer durch Hannover ... vom Hauptbahnhof zum Maschpark, vom Welfengarten bis zum Eilenrieder Wald, von der Rennbahn bis zum Güterbahnhof, hin und her, automatisch fast, mit leeren Augen und einem brennenden Gehirn.

Es muß etwas geschehen . das war das einzige, was er dachte. In dieser Woche muß etwas geschehen.

Zum erstenmal dachte er an den eigenen Untergang. Das war für ihn so ungeheuerlich, daß er selbst seine Angst vergaß. Mit mir werden sie alle untergehen, dachte er in wahnsinniger Verbitterung. Es war ihm so elend, daß er sich zwang, nicht über sich selbst zu weinen. Sie alle . alle . ein Teufel stirbt nicht allein!

Noch eine Woche.

Die Rechnung und Logik Luises, daß sie nur lebend für Dahlmann etwas wert sei, zerfiel zu Staub.

Ihr Leben war nur noch sieben Tage wert.

Sie wußte und ahnte es auch nicht -

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