Kapitel 8

Am Abend saßen sie allein im Wohnzimmer und hörten im Fernsehen eine Oper. Monika war hinauf in ihr Atelier gegangen, um einige Entwürfe fertig zu machen. Dahlmann hatte sie an der Tür geküßt und ihr ins Ohr geflüstert: »Ich bringe sie früh ins Bett und komme dann zu dir hinauf. Soll ich eine Flasche Sekt mitbringen?« Monika hatte stumm genickt und war davongelaufen.

Nun saß Ernst Dahlmann neben seiner Frau und hatte die Zusammenstellung der Gewinnberechnung des letzten halben Jahres vor sich. Was Luise nicht wußte, und was man ihr auch verschwieg, war ein Bauvorhaben, das Dahlmann begonnen hatte . ein siebenstöckiges Appartement-Wohnhaus, eine Straße weiter neben der Apotheke. Der Bau lief auf seinen Namen und wurde mit dem Geld finanziert, das er aus der Apotheke zog, die in weiser Voraussicht des alten Horten bei seinem Tod als Alleinbesitz Luise überschrieben worden war, nachdem er noch vor der Hochzeit mit Dahlmann eine strenge Gütertrennung durchgesetzt hatte. Die Einnahmezahlen, die Dahlmann jede Woche Luise vorlas, waren bereits um die Beträge gekürzt, die er für sich heimlich abzweigte. »Die Leute werden immer gesünder«, sagte er einmal lachend, als Luise meinte, die Einnahmen ließen aber nach. »Uns fehlen wieder ein paar Seuchen. Von Schlaftabletten und Stärkungsmitteln allein raucht kein Schornstein.«

Dieser heimliche Bau wuchs nun aus der Erde; es ging schnell in der modernen Betonschalenbauweise, Etage wurde auf Etage gesetzt, so, wie man früher als Kind mit den Holzklötzchen Häuser baute.

»Wenn das Haus fertig ist, werden wir 42 Appartements vermieten können«, sagte Dahlmann einmal zu Monika und erklärte ihr den Bauplan. »Dann bin ich unabhängig von Luise, und wir werden mit eigenem Geld ein herrliches Leben führen können, du und ich.«

Während die Oper ablief und Luise lauschend im Sessel saß, rechnete Dahlmann wieder durch, wieviel er für seinen Hausbau abzweigen konnte. Die Zahlen, die er vorhin genannt hatte, befriedigten

Luise ... sie wußte nicht, daß der Umsatz fast doppelt so hoch gewesen war und die neu angegliederte kosmetische Abteilung einen großen Gewinn abgeworfen hatte. Erschreckt fuhr Dahlmann deshalb hoch, als Luise ihn an der Schulter griff und zu sich hinüberzog.

»Ernst -«

»Was ist, Luiserl?«

»Ich habe mir etwas überlegt -«

»Bitte.«

»Ob es nicht doch noch eine Chance gibt, daß ich wieder sehen kann?«

Ernst Dahlmann sah seine Frau kritisch an. Ihr Gesicht war ruhig. Dieser Dr. Ronnefeld hat wieder dumm geredet, dachte er. Seit Monaten bohrt er wieder, es erneut mit einer Operation zu versuchen. Es wird so weit kommen, daß man ihn aus dem Hause werfen muß, wenn er den Frieden mit seinem ewigen Hoffnungmachen stört.

»Wir haben alles versucht, Luiserl«, sagte Dahlmann freundlich. »Ich habe dir doch alles vorgelesen ... die Briefe aus London, New York, Paris, Stockholm und sogar Tokio. Ich habe alles getan, was man tun kann.«

»Ich weiß, Ernst.« Sie legte ihre Hand begütigend auf seinen Arm. Es stimmte. Dahlmann hatte ihr alle Briefe vorgelesen, die er von den besten Augenchirurgen aus aller Welt bekommen hatte . nur waren diese Briefe nie geschrieben worden. Dahlmann las ihr Schreiben vor, die er selbst aufgesetzt hatte. Sie glaubte ihm alles, und mit jedem Brief, den er vorlas, wurde in ihr die Gewißheit stärker, daß ihre Blindheit unabänderlich war. »Du glaubst also nicht, daß es Zweck hätte, es noch einmal zu versuchen?«

»Ich bin strikt dagegen.« Dahlmanns Stimme war hart. »Es wird für dich wieder eine Qual sein, eine große seelische Belastung, um so mehr, wenn die Operation wieder mißlingt. Noch hast du deine Augen . willst du sie durch das sinnlose Experimentieren ganz verlieren? Ich werfe jeden hinaus, der mir noch ein Wort von Operation sagt . du sollst endlich deine Ruhe haben!«

Luise Dahlmann nickte und schwieg. Sie wandte sich wieder der Musik zu und lauschte mit geneigtem Kopf der Oper, als habe das Gespräch nicht stattgefunden. Dahlmann sah sie mit gerunzelter Stirn an. Sie darf nicht wieder sehen, dachte er. Jetzt nicht mehr! Hundert Meter weiter wächst ein Haus aus dem Boden, oben unter dem Dach wartet Moni auf mich, in ein paar Monaten werde ich so weit sein, daß sie mir die Apotheke überschreibt - ich habe da schon einen Plan -, sie wird hier sitzen und glücklich sein in ihrer Dunkelheit, und wir werden glücklich sein unter der Sonne, Moni und ich. Nein! Sie darf nie wieder sehen ... unser Schicksal hat jetzt seinen Lauf genommen -

»Ich gehe noch eine Stunde ins Labor«, sagte er und stand auf. »Die Schmerztabletten sind zur Neige gegangen, und ich will eine Füllung durchstanzen. Bis gleich, Luiserl.«

»Bis gleich, Ernst.«

Er wölbte die Lippe vor, kratzte sich die Nase und verließ das Zimmer. Aber er ging nicht nach hinten ins Labor ... er stieg die Treppen hinauf zum Atelier.

Monika Horten stand vor dem Zeichenbrett und entwarf ein Plakat für eine Modemesse. Sie zuckte zusammen, als sie von hinten umfangen wurde. Sie hatte weder eine Tür klappen noch einen Schritt gehört.

»Komm -«, sagte Dahlmann leise und küßte ihre Halsbeuge. »Wirf deinen Pinsel weg ... eine Stunde haben wir Zeit... solange die Oper läuft.«

Pünktlich, wie versprochen, kam Robert Sanden in den Park. Luise saß wieder auf der Bank und sonnte sich. Nur war dieses Mal nicht Fräulein Pleschke mitgekommen, sondern Ernst Dahlmann selbst hatte sie begleitet. Fräulein Pleschke hatte ihren freien Tag. Monika mußte den Entwurf fertig machen, da hatte sich Dahlmann überwunden und für einen Nachmittag die Apotheke verlassen. Auf Wunsch Luises war er nun losgegangen, den Eiswagen zu suchen, der um diese Zeit an der großen Parkkreuzung stehen mußte.

»Ich habe die Adresse«, sagte Robert Sanden glücklich und setzte sich neben Luise auf die Bank. »Drei Stunden habe ich gesucht in den alten Zeitungen . aber dann hatte ich den Artikel. Der Wunderdoktor heißt Professor Dr. Battista Siri und lebt in Bologna. Soll ich Ihnen den Artikel aus der Zeitung vorlesen? Ich habe ihn herausgerissen.«

»Nein, bitte nicht. Mein Mann ist heute mitgekommen . und er ist gegen jede weitere Operation.« Sie wandte den Kopf zu dem Weg hin, den Ernst Dahlmann zurückkommen mußte, so als könne sie ihn sehen. »Sie kennen meinen Mann?« fragte sie mit fliegendem Atem.

»Ja -«

»Sehen Sie ihn?«

»Nein.«

»Wie kann ich Sie erreichen?«

»Am besten ist, Sie geben mir Nachricht ins Stadttheater. Der Portier hebt sie für mich auf. Aber warum?«

»Es würde zu lange dauern, Ihnen jetzt alles zu erklären.« Luise Dahlmann war unruhig und rang die Finger ineinander. »Sehen Sie meinen Mann?«

»Nein. Doch ja. Ganz hinten kommt er, mit zwei Eisbechern in den Händen -«

»Dann haben wir keine Zeit mehr.« Luise sprach jetzt schnell, gehetzt, mit fliegendem Atem. »Ich habe die ganze Nacht darüber nachgedacht. Bitte, bitte, schreiben Sie an diesen Professor Siri, schildern Sie ihm alles. Ich werde in vierzehn Tagen zur Erholung fahren . vielleicht nach Montreux . von dort lasse ich Ihnen schreiben, und Sie geben mir nach Montreux Nachricht, was Professor Siri Ihnen mitgeteilt hat. Vielleicht operiert er mich . dann werde ich es heimlich machen lassen . und wenn es gelingt. Herr Sanden, stellen Sie sich das vor . wenn es gelingt . als Blinde bin ich weggefahren, als Sehende komme ich wieder. Das wird eine Überraschung für meinen Mann geben -« »Es ist gut. Ich warte auf Ihre Nachricht.« Sanden drückte Luise die Hand. Er sah dabei Dahlmann entgegen, der seinen Schritt beschleunigte, als er einen Mann bei seiner Frau stehen sah. »Ich werde Professor Siri genau informieren ... und ich glaube fest daran, daß er die Operation an Ihnen ausführt. Viel, viel Guck.«

Er gab Luise nicht einmal die Hand, nickte Ernst Dahlmann freundlich zu und ging davon.

Dahlmann stellte die Eisbecher auf die Bank und sah Robert San-den mit gerunzelter Stirn nach.

»Wer war denn dieser Lackaffe?« fragte er grob.

»Es ist ein Herr Sanden. Robert Sanden vom Stadttheater. Du weißt, wir haben ihn -«

»Ach der? Ein Frauenheld, ein übler Bursche, wie man so hört. Was wollte er von dir? Hat er dich belästigt?«

»Er kennt mich von früher aus der Apotheke. Zufällig kam er hier vorbei, erkannte mich und begrüßte mich kurz.«

»Wenn ich ihn noch mal bei dir finde, haue ich ihm eine runter!« Dahlmann drückte Luise den Eisbecher in die Hand. »Erdbeereis. Das magst du doch besonders gern.« Er setzte sich und scharrte mit den Fußspitzen in dem sandigen Boden. Luise hörte es und lächelte.

»Nervös, Ernst?«

»Dieser Kerl hat mich wild gemacht. So ein hohler Komplimen-tenkopf!«

»Eifersüchtig?« Sie lachte hell. »Mein Lieber, wie kann man auf eine blinde Frau eifersüchtig sein?«

»Ich liebe dich . vielleicht mehr als vorher.«, sagte Dahlmann. Die Worte kamen ihm geschmeidig und glaubwürdig von den Lippen.

»Das ist schön, Ernst.« Sie legte den Kopf an seine Schulter und sah in die Sonne, die sie nicht mehr blenden konnte. »Seit einem halben Jahr hast du es wieder gesagt.«

»Hast du es nicht immer gespürt, Luiserl?«

»Doch, doch . aber eine Frau hat es gern, wenn man es ihr sagt. Immer und immer wieder. Wir Frauen sind ein komisches Geschlecht wir wollen nicht nur fühlen, sondern auch hören.«

»Was hat dieser Kerl . dieser Sanden zu dir gesagt?«

»Nichts. Nur das übliche. Guten Tag, gute Besserung. Höflichkeiten.« Sie aß das Eis und rieb ihre Wange an seiner Schulter. »Das Eis schmeckt gut . vielleicht besonders gut, weil du es mir geholt hast.«

»Du bist wie ein Kind, Luiserl.«, sagte Dahlmann und lachte. Auch das gelang ihm überzeugend. »Übrigens . das Hotel in Montreux ist bestellt. Ich habe die Reservierungsnachricht. Willst du fahren?«

»Aber ja. Ich freue mich so darauf. Der Genfer See, die Fahrten mit den Schiffen, die reine Luft . ich werde einige Wochen richtig Erholung tanken. Wie lange darf ich denn bleiben?«

»Solange du willst, Luiserl.«

»Und du?«

»Ich werde es erdulden müssen, daß Monika für mich sorgt. Aber auch das stehe ich durch. Es geht jetzt nur um deine Gesundheit, um nichts anderes.«

»Und wenn . wenn ich vielleicht zwei Monate bleibe?«

»Dann muß es so sein. Ich werde mich dann doppelt freuen, dich gesund, braungebrannt und fröhlich wiederzusehen.«

»Du bist so lieb, Ernst -«

»Du weißt, daß ich für dich alles tue, Luiserl.«

Zwei Monate, dachte er beglückt. Zwei Monate allein mit Moni. Morgens, mittags, abends, nachts . nur Moni. Ihre langen blonden Haare, in die man sich einwickeln kann, ihren zarten, schlanken Körper, ihre junge, betörende, duftende Wärme . ihre Liebe, die wild ist wie ein Sturm und doch nach Rosen duftet . zwei Monate lang nur sie . sie . sie.

»Wann willst du fahren?« fragte er mit ausgedörrter Kehle.

»Für wann hast du die Zimmer bestellt?«

»Auf Abruf.«

»Dann in vierzehn Tagen? Ist es recht?«

»Aber ja, Luiserl -«

Sie saßen noch eine Stunde auf der Bank, selbst als die Sonne hin-ter den Bäumen stand und die Bank im Schatten lag. Dann gingen sie zurück zum Wagen, Arm in Arm, wie ein junges, verliebtes Paar, für das die Umwelt nichts ist als eine Kulisse ihrer Liebe.

Mein Gott, wenn ich wieder sehen werde, dachte sie, als sie über den Parkweg gingen. Wenn ich zurückkomme aus Montreux und kann wieder sehen. Er wird verrückt werden vor Freude.

In vierzehn Tagen, dachte er und drückte Luises Arm an sich. Dann habe ich Moni zwei Monate für mich allein. Man bestreitet, daß es je ein Paradies gegeben hat ... ich werde es erleben! Und ich will ertrinken in diesem Meer von Wonne ... ich will nicht daran denken, was nachher werden wird ... nach zwei Monaten, wenn sie zurückkommt -

»Ich liebe dich -«, sagte Luise, ehe sie in den Wagen stieg.

»Ich dich auch, Luiserl -«

»Küß mich -«

Und er küßte sie und dachte dabei an Monika. Er sah Luises seliges Lächeln und schloß die Augen, weil es ihn fror.

Warum ist sie nicht gestorben, dachte er plötzlich. Es war ein Gedanke, der zum Wunsch wurde.

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