Kapitel 22

Es ist das Recht der Polizei, alle Spuren, selbst die dümmsten, zu verfolgen, wenn es um die Aufklärung eines angenommenen Verbrechens geht. Nichts kann dumm und absurd genug sein, als daß es im menschlichen Leben nicht eine wesentliche Rolle spielen könnte.

Ludwig Faber rief daher zunächst Dr. Kutscher an und erfuhr, daß Julius Salzer nach Soltau zurückgekehrt sei. Auf den Rat Dr. Kutschers hin. Er sollte in Soltau warten - vielleicht schickte Monika Horten eine Nachricht.

»Machen wir'n Ausflug, Leute«, sagte der dicke Faber zu seinem Sekretär und seinem Wachtmeister, der den Dienstwagen fuhr. »Kennt ihr die Heide? Nicht? Herrlich, sag' ich euch! Wacholderbüsche, Birken, Weiden, Heidekraut, Stille, Frieden, das Gefühl, am Rande der Welt zu sein, jenseits von Gut und Böse.«

»Und dahin fährt nun die Mordkommission -«, sagte der Sekretär sinnig. Faber lachte breit.

»Sie sehen daraus, daß es keine Paradiese mehr gibt. Die biblische Austreibung ist endgültig! Los, gondeln wir in die Heide.«

Julius Salzer hockte in dem kleinen Zimmer Monikas, als die Beamten aus Hannover im >Grünen Krug< erschienen. Die Möbel Monikas standen noch herum und versperrten Flure und Dielen. Faber schüttelte den Kopf. Ein Mensch besinnt sich nicht anders, wenn er seine Möbel an einen neuen Ort bringen läßt. Vor allem keine Frau! Eine Frau hängt viel zu sehr an Kleinigkeiten, als daß sie diese einfach stehen lassen kann. Faber kannte das, er war seit dreißig Jahren verheiratet. Noch heute verwahrte seine Elfriede den Bronzekopf Dantes, den sie zur Hochzeit geschenkt bekommen hatten. Ein Kopf mit einem Lorbeerkranz, von dem Faber respektlos sagte: »Wenn's wenigstens echter Lorbeer wäre, dann nützte Dante noch was für die Suppe.« Aber da es ein Hochzeitsgeschenk von Tante Sophie, dem Senior der Familie, war, wurde auf Dantes Kopf seit dreißig Jahren auf dem Büfett Staub gewischt.

Die Wirtin vom >Grünen Krug< setzte sich sofort auf die Milchkanne, die vor der Tür stand, als Faber seinen Ausweis zeigte.

»Das ist in der dreihundertjährigen Geschichte des >Grünen Kru-ges< das erste Mal, daß die Polizei.«

Faber winkte lässig ab. »Sie brauchen für dieses Ereignis keine Bronzetafel am Haus anzubringen. So wichtig ist das nicht. Herr Salzer.?«

»Oben -«, stammelte die Wirtin. »Er ist ganz gebrochen.«

»Dann richten wir ihn wieder auf.«

Julius Salzer sah nicht hoch, als Faber in die kleine Stube trat. Er saß vor Monikas Staffelei und starrte vor sich hin. Auf der Staffelei hing ein Entwurf zum Umschlag eines Buches von Jules Salai-re.

>Die Macht der Liebe< hieß es.

Faber nickte gedankenschwer.

»Der Titel ist ein wenig abgeklappert. Ich würde vorschlagen: Liebe ist Macht! Das klingt revolutionär! Das knallt! Heute will man was Hartes lesen.«

Salzer drehte sich langsam herum. »Wer sind Sie denn?« fragte er müde.

»Ludwig Faber von der Mordkommission -«

Salzer schnellte hoch. »Mordkommission!?« schrie er.

»Himmel, wie so ein Name wirkt.« Faber hob beide Hände. »Nun drehen Sie keinen Salto, junger Hemingway. Es ist noch gar nichts passiert! Außer, daß wir Ihre Monika noch nicht haben. Apropos, Ihre Monika. Wie lange kennen Sie sie?«

»Ein paar Tage.«

»Und schon untrennbar?«

»Ich nehme an, Sie halten nicht viel von der großen, aufflammenden Liebe.«

»Warum?«

»Als Beamter.«

»Auch Beamte sind Menschen. Auch der deutsche Beamte. Stimmt ... es ist schwer, manchmal daran zu denken, aber es ist so.« Faber lächelte und setzte sich auf Monikas Bett. Es war der einzige Sitzplatz im Raum außer dem Hocker, der hinter Salzer stand. »Hier wollte also Monika Horten leben! Finden Sie nicht, daß dies eine ungewohnte Umgebung für eine an sich reiche junge Frau ist?«

»Sie war Künstlerin.«

»Das habe ich heute schon oft gehört. Anscheinend haben die doch einen Tick.«

»Was wollen Sie?« Julius Salzer hatte sich gefaßt. Er konnte wieder klar denken. »Wollen Sie mich verhören?«

»Ja«, sagte Faber schlicht. »Das will ich. Wo waren Sie in der Nacht, in der Monika Horten verschwand? Hier?«

»Nein.«

»Wo?«

»In Soltau.«

»Ach. Und warum?«

»Ich erfuhr von dem Transporteur, daß Monika in Hannover geblieben war, um noch ihre Schwester zu sprechen. Sie wollte mit dem Zug nachkommen. Da bin ich nach Soltau gefahren, um sie von der Bahn abzuholen. Ich wollte sie überraschen. Aber sie kam nicht . ich habe bis zum letzten Zug gewartet.«

»Bis wann?«

»Bis gegen neun Uhr abends. Dann bin ich nach Hannover gefahren.«

»Was wollten Sie denn da?«

»Ich wollte zu Dahlmanns gehen und sehen, ob Monika noch dort war. Ich hatte ein unerklärliches Angstgefühl in mir. Ich habe manchmal diese Ahnungen . einmal habe ich einen Brand geträumt, der vier Tage später wirklich stattfand.«

»Das hätte genügt, Sie im Mittelalter zu verbrennen.« Ludwig Fa-ber betrachtete Salzer kritisch. Ein netter, junger Mann, dachte er. Offen und ehrlich. Nach der Physiognomielehre des alten Lombroso mußte Salzer ein wahrer Engel sein. Aber Faber hatte schon Mariengesichter erlebt, hinter denen die Giftmörderin lauerte. »Was haben Sie in Hannover gemacht?«

»Was verliebte Jünglinge immer tun ... ich habe Wache vor dem Hause der Dahlmanns bezogen.«

»Warum haben Sie nicht geschellt?«

»Ich ... ich schämte mich.«, sagte Salzer leise.

»Sie hatten keinen Mut dazu?«

»Auch.«

»Und weiter?«

»Nichts weiter. Monika kam nicht heraus. Ich erfuhr ja erst später, daß sie schon längst weggegangen war. Herr Dahlmann fuhr noch einmal weg.«

»Ach! Der fuhr weg? In der Nacht?«

»Nein. Am späten Abend. Aber er kam bald wieder. Frau Dahlmann war ja auch diese Nacht auswärts . er war beim Polizeirevier.«

Faber nickte. Das stimmt, dachte er. Dahlmann hatte für jede Minute einen Beleg. Und ein Alibi, das die Polizei ausstellt, ist bestimmt sicher. Er sah Salzer wieder an und rümpfte die Nase. Es tat ihm leid, aber er mußte es sagen. In über dreißig Berufsjahren hatte er das Unmöglichste Wahrheit werden sehen.

»Sie haben also keinen Beleg, wo Sie nachmittags und die Nacht über gewesen sind?«

Salzer starrte Faber verständnislos an. »Wie meinen Sie das?«

»Einen Zeugen!«

»Am Bahnhof von Soltau ... wie sollte ich das? Wenn mich keiner der Beamten gesehen hat . oder die Bauern. Ich kann Ihnen keinen nennen.«

»Und in Hannover?«

»Noch weniger. Da stand ich dem Hause Dahlmann gegenüber in einer Türnische.«

»Also völlig ohne Alibi.«

»Wozu brauche ich ein Alibi?« Salzer starrte den dicken Faber groß an. »Sie haben doch nicht etwa denVerdacht, daß ich . ausgerechnet ich.«

»Mein Lieber . beim Militär sagte man: Ich habe schon Pferde kotzen sehen, und das vor der Apotheke. Es tut mir leid, aber der deutsche Beamte ist nun mal stur! Nehmen Sie Ihre Zahnbürste, waschen Sie sich noch einmal die Ohren, und dann kommen Sie mit.«

»Verhaftet.«, stotterte Julius Salzer. »Ich werde verhaftet!«

»Erschrecken Sie nicht! Sie können darüber ein neues Buch schreiben, wenn Sie wieder 'rauskommen. Aber im Augenblick steht es so, daß ich Sie mitnehmen muß!«

»Aber das ist doch völlig absurd! Ich liebe Monika, und gerade ich soll -«

»Sie sollen gar nichts, lieber Dichter! Es hat sich bei uns so eingebürgert, Verdächtige erst einmal zu verhaften und hinter Gitter zu bringen. Sicher ist sicher. Stellt sich ihre Unschuld hinterher 'raus, bekommen sie einen warmen Händedruck. Für Untersuchungshaft gibt es keine Entschädigung, falls Sie damit rechnen sollten. Jeder deutsche Staatsbürger hat sich so zu verhalten, daß er nicht verdächtig wirkt! Tut er es, ist er selbst schuld. Sie sehen - wir Beamten haben Nerven! Auch der dicke Faber. Also . können wir?«

»Ja.«

Salzer ging in den Nebenraum. Er packte ein Ersatzhemd ein, die Zahnbürste und ein Buch über das Leben Lord Nelsons. Dann gingen sie hinunter zum Wagen, wo der Sekretär und der Wachtmeister warteten, belauert von der Wirtin des >Grünen Kruges<. Salzer blieb bei ihr stehen . sie wich vor ihm zurück, als sei er bereits als Mörder überführt. Salzer lächelte schmerzlich.

»Ich bin bald wieder zurück«, sagte er stockend. »Die Beamten tun nur ihre Pflicht.«

Er stieg in den Wagen und blickte nicht zurück, als sie schnell abfuhren. Der Sekretär blieb zurück. Er hatte die Aufgabe, das Wirts-

haus >Grüner Krug< vom Keller bis zum Dachstuhl zu untersuchen, vor allem die Zimmer von Salzer und Monika Horten. Ludwig Faber ahnte, daß irgendwo ein Hinweis war, der ihn weiterbrachte. Vor allem ahnte er, daß es sich hier nicht mehr um eine Vermißte, sondern um eine Tote handelte.

Und Ludwig Faber war berühmt für seine gefühlsmäßigen Verbrecherdiagnosen.

Am Morgen nach Dahlmanns Ausflug zum Moor meldete sich bei der Polizeistation in Hetzwege der Moorbauer Onno Lütje. Er roch stark nach Schnaps, schwankte und lehnte sich gegen den Tisch des Feldgendarms.

»'raus!« sagte der Polizist. »Du bist besupen, Kerl.«

»Jo, isch bin besupen!« Onno Lütje nickte schwer. »Aber so be-supen, daß isch Geister sehe, bin isch nich, nich?!«

»Geister? Wieso?«

»Im Moor -«

»Geh noch Hus und leg disch nieder.« Der Polizist wedelte den Alkoholdunst von seinem Gesicht weg. Onno Lütje blies eine steife Brise gegen den Vertreter der Obrigkeit. Er wackelte mit dem Kopf und umklammerte die Tischkante wie eine Segelstange auf einem sturmgeschaukelten Schiff.

Was er erzählte, war eine Mischung von Trunkenheit und Rätsel.

In der Nacht hatte er bei Karle Budje gesoffen. Einen Köhm, und noch einen, und dann Rum und zuletzt 'nen Klaren. Eine ganze Flasche. Rein aus Kornsaat! Das ging in die Beine und ins Gemüt. Und dann war er nach Hause gewankt, und da es schon spät war, so um die vier Uhr morgens 'rum, kürzte er den Weg ab und schlurfte durch das Moor.

Da hatte er erst zwei große, feurige Augen gesehen, dann einen

Mann mit einem Baumstamm auf dem Rücken . aber die waren plötzlich weg wie verschluckt. Er hatte noch dagestanden und sich gesagt: Onno, Düwel gibt es nicht! Und was die Moormuhme immer verschnackte, das is ja man doch nur olles Spinnertkram. Also war er weitergeschwankt, hatte sich ins Bett gelegt und geschlafen. Am Morgen aber hatte er wieder einen Köhm getrunken, um den Brand zu löschen, und nun war er da, um dem Herrn Gendarmen zu erzählen, daß er den Düwel im Moor gesehen habe.

»Zwei große, feurige Augen.« Onno Lütje hob beschwörend beide Arme hoch empor. »Glaub es mir, Enno.«

Der Feldgendarm setzte sich und packte sein Frühstücksbrot aus. »Ich glaube es dir. Wo war's denn?«

»Im Moor von Hermes-Fiedje.«

»Da ist doch gar kein Weg. Nur ein Pfad, der mitten im Sumpf endet.«

»Eben drum! D'Düwel war es, Enno!«

Onno Lütje lamentierte noch eine Weile auf der Polizeiwache herum, bis er ging. Jedem, den er traf, erzählte er vom Moorteufel, den er gesehen hatte. Und alle, die es hörten, nickten beifällig und lachten. Wenn der Lütjen-Onno einen sitzen hatte, hatte das Dorf einen fröhlichen Tag. Man kannte das.

Auch der Feldgendarm Enno Bollstedt vergaß den Düwel im Moor. Ab zehn Uhr stand er an der Abzweigung zur Autobahn BremenHamburg und kontrollierte Radfahrer, ob sie eine Klingel hatten und der Rücktritt funktionierte. Er kassierte bis zwölf Uhr mittags dreimal fünf Mark Strafgebühren und war mit dem Vormittag sehr zufrieden.

Nur Onno Lütje saß wieder in der Wirtschaft und trank einen Klaren. Die Neumondzeit begann . da kam der Onno so richtig in Tritt.

Seinen Erzählungen lauschte auch ein pensionierter Postinspektor, der in Hetzwege ein Haus geerbt hatte. Für ihn war es nicht das Geschwafel eines Betrunkenen . er merkte sich alles sehr genau.

Zwei große, glühende Augen können zwei Autoscheinwerfer sein, dachte er. Was aber macht ein Auto um vier Uhr morgens mitten im Moor.?

Als Luise aufwachte, wußte sie im ersten Augenblick nicht, wie spät oder wie früh es morgens war. Die Gardinen waren noch vor die Fenster gezogen, es lag ein fahles Halbdunkel im Raum - aber das Bett neben ihr war leer und die Steppdecke zurückgeschlagen. Ernst Dahlmann mußte schon lange aufgestanden sein, denn aus dem Badezimmer hörte sie keinen Laut mehr. Sie wandte sich um und sah auf die kleine Reiseuhr, die auf dem Nachttisch stand.

Acht Uhr morgens.

Verwundert richtete sie sich auf. Aus der Küche hörte sie Tellerklappern. Das Hausmädchen spülte das Geschirr vom Abend. Luise hatte nach dem aufregenden Tag tief geschlafen, so traumlos und fest, daß sie keinerlei Bewegungen oder Geräusche wahrgenommen hatte, als Dahlmann aufstand, sich wusch und wegging.

Sie sprang aus dem Bett und zog die Gardinen zur Seite. Draußen war ein trüber Tag, ein grauer Himmel, graue Häuser, graue Straßen, graue Menschen . ein Herbsttag, den man am besten verschlafen sollte, weil alles eine Farbe hat, deren dauernder Anblick zum immerwährenden Gähnen reizt.

Eine halbe Stunde später saß sie am Tisch und trank Kaffee. Das Hausmädchen, das die Kanne hereinbrachte, trug ein leichtes, ausgeschnittenes Kleid und schien zu schwitzen. Luise betrachtete sie unter der dunklen Brille äußerst verwundert. Auch ihr war es aufgefallen, daß die Wärme im Zimmer in einem krassen Gegensatz zu der grauen Herbststimmung vor den Fenstern stand. Es war, als habe jemand die Heizung auf die höchste Stufe gedreht.

»Ist etwas mit der Heizung los, Else?« fragte Luise und tastete nach den fertig geschmierten Brötchen. Das Hausmädchen sah sie an, als verstehe es die Frage nicht.

»Mit der Heizung? Wieso?«

»Es ist so heiß im Zimmer, Else.«

»Ach so. Nein!« das Mädchen lächelte. Aber in diesem Lächeln lag alles Mitleid, das sie fühlte. Sie fühlt es ja nur, natürlich, dachte es. Sie kann ja nicht sehen, wie es draußen ist. Sie sieht weder Sonne noch Regen, Wind oder Nacht. Sie kann es nur ahnen.

»Draußen ist ein verrückter Tag, gnädige Frau. Heißer als im Sommer, und das im Herbst! Im Radio haben sie heute morgen gesagt, daß man so was seit hundert Jahren noch nicht erlebt habe -«

»Es ... es ist draußen heiß.«, sagte Luise leise. Sie setzte die Tasse wieder zurück auf den Unterteller, ihre Hand begann zu zittern. »Und . und die Sonne scheint.«

»Ja! Und wie! Grell sogar. Wenn das heute mittag kein Gewitter gibt.«

»Und keine Wolken?«

»Nein. Keine!«

»Wo ist mein Mann?«

»Der gnädige Herr ist schon früh weggegangen. In die Stadt, wie er sagte. Er ist zu Mittag wieder da. Ich sollte Sie nicht wecken, gnädige Frau, und.«

»Es ist gut, Else. Es ist gut. Ich läute, wenn Sie abräumen können.«

Luise wartete, bis das Mädchen das Zimmer verlassen hatte. Dann sprang sie auf und rannte an das große Blumenfenster. Es war ein Hinstürzen voller Verzweiflung.

Was sie gesehen hatte, blieb . sie sah einen grauen Tag, eine graue Straße, graue Häuser, einen grauen, bleiernen Himmel, graue Menschen. Auch als sie die Brille abriß, blieb es grau . ein Tag zwischen den Zeiten, ein Übergang von Nacht zum Licht, aber noch mehr Dunkelheit als Helle. Die Menschen aber, die grauen, frierenden Menschen auf der grauen Straße vor den grauen Häusern hatten luftige Kleider an, die Männer liefen in offenen Hemden um-her ... sie sah, wie ein Mann stehenblieb, gegenüber der Apotheke, ein Taschentuch herauszog und sich seufzend über das Gesicht wischte, ein von der Hitze erschöpfter Mensch, grau in grau, ein schwitzendes Gespenst.

Das Entsetzen in Luise war so groß, daß sie keinen Laut geben konnte . sie lehnte an der Wand, starrte in den grauen Tag und spürte jetzt wieder das Brennen und Jucken in den Augen, das sie schon gestern gereizt hatte, ohne es zu beachten. Aber so versteinert sie in diesen Minuten war, so stark war der Gedanke, der - in Grauen und Angst eingepackt - ihr ganzes Wesen überrannte: »Die Augen . sie werden wieder trüb . sie verlieren das Licht. Ich werde wieder blind . blind . blind.«

Der Zustand völliger Erstarrung war nur kurz, aber für Luise war es, als läge sie stundenlang in einer Eiswanne. Sie hob langsam die Hand und deckte sie über beide Augen. Dann ließ sie sie wieder fallen und sah erneut aus dem Fenster. Das Bild blieb.

Ein grauer Herbsttag.

Es war, als zögen Zentnergewichte ihre Beine auf den Boden, als sie versuchte, vom Fenster wegzukommen. Mühsam schleppte sie sich zurück ins Schlafzimmer, legte sich aufs Bett, träufelte Antibiotikatropfen in die Augen und drückte dann die Lider fest zusammen. So lag sie eine Weile mit geschlossenen Augen, die Tropfen kühlten und brannten zugleich, und sie wagte nicht, die Lider wieder zu öffnen und vor den Fenstern den trüben Himmel zu sehen, der in Wahrheit fahlblau war und vor Hitze glühte.

Ob es eine Stunde war, die sie so in stummer Angst auf dem Rücken lag, wußte sie nicht. Sie hörte das Hausmädchen weggehen, einkaufen für das Mittagessen. Heute war Markttag, Else würde also länger bleiben, denn auf dem Marktplatz trafen sich die Mädchen und benutzten den Einkauf zum Austausch von Informationen und Erlebnissen vom vergangenen freien Sonntag. Dahlmann kam auch vor Mittag nicht zurück, wie er gesagt hatte. Es war jetzt auch unwichtig geworden, wo er hingegangen war und was er wieder vorbereitete. Das Grauen überdeckte alles, was bisher noch für Luise ein Inhalt ihres Lebens gewesen war, vor allem die Rache an ihrem Mann ... das Grauen einer neuen Blindheit, von der es keine Rettung mehr geben würde, die endgültig war, bei der auch Professor Siri nicht mehr helfen konnte. Eine wirkliche, ewige Nacht -

Luise sprang vom Bett, noch immer mit geschlossenen Augen, und tastete sich zu einem der Fenster. Sie schob die Gardine zurück, lehnte die Stirn an die warme Scheibe und preßte die Fäuste gegen das Herz.

Sieh hin! Gab sie sich selbst ein Kommando. Mach die Augen auf! Sieh dir den sonnigen Tag an. Du siehst ihn ja . du siehst ihn . es war eben nur eine Schwäche der Augen . du wirst nicht wieder blind . es ist alles vorbei. Du siehst das Leuchten der Sonne, das Flimmern der Luft über dem Straßenasphalt... alles, alles siehst du.

Sie riß die Augen auf und starrte hinaus.

Ein Herbsttag. Grau in grau.

Schnell schloß sie die Augen wieder und zuckte mit dem Kopf vom Fenster. Es hat keinen Sinn, vor der Wahrheit zu flüchten, sagte sie sich, aber die Panik, die in ihr aufkam, war stärker und verscheuchte alle Vernunft. Sie lief im Schlafzimmer auf und ab, die Augen bis zu einem Spalt geschlossen, mit ringenden Händen und vor Angst trommelndem Herzschlag.

Was soll ich tun, dachte sie immer wieder. Mein Gott, hilf mir, hilf mir. Was soll ich tun?! Wenn ich jetzt wirklich blind werde, ist alles zu Ende. Ich könnte es nicht mehr überleben, ich hätte einfach nicht mehr die Stärke dazu.

Sie ging hinüber ins Wohnzimmer und setzte sich ans Fenster. Immer wieder begann sie, ihre Augen zu testen, und immer wieder brach sie ab, wenn sie merkte, wie wenig von der Umwelt noch in ihr Sehbewußtsein kam.

Die rote Blüte einer Kaktee war zwar dunkler als die Blätter, aber nicht mehr rot. Der schöne helle Isfahanteppich mit den blauen und rosa Blütenranken war ein großer graubrauner Fleck, auf dem die Blumen fahl und leblos lagen, als seien sie mumifiziert. Jetzt erst fiel Luise auf, daß sie schon vor drei Tagen verwundert durch ihre dunkle Brille geblickt hatte, als das Mädchen zum Abendessen Tatar angerichtet hatte und ihr das sonst frische, durchgedrehte, hellrote Fleisch merkwürdig alt und graulich vorkam, so, als habe es schon zwei Tage herumgelegen. Aber da sie ja nichts sehen durfte, aß sie davon und fand es trotzdem frisch und saftig, ganz anders, als es aussah. Damals hatte sie sich nichts dabei gedacht, es auf das Fleisch geschoben . jetzt wußte sie, daß schon vor zwei Tagen ihre Augen begonnen hatten, ganz langsam wieder den Schleier vor eine Welt zu ziehen, die sich in den letzten Monaten vor der sehenden Blinden als eine Zusammenballung von Gemeinheit und Intrige enthüllt hatte.

Luises Erschrecken und Ratlosigkeit dauerten über eine Stunde. Sie hörte das Mädchen vom Markt zurückkommen, früher als erwartet. Es stellte in der Küche das Radio an und sang die Schlager mit. Auf dem Markt mußte eine sehr zufriedenstellende Unterhaltung stattgefunden haben.

Es muß etwas geschehen, dachte Luise. Es muß sofort etwas geschehen. Aber wie? Ob Robert Sanden einen Weg weiß ... er war jetzt der einzige, der helfen konnte, weil er der einzige war, der wußte, daß sie sehen konnte.

Sie setzte die dunkle Brille wieder auf und schlich aus der Wohnung. Leise zog sie die Tür hinter sich zu . das Radio und Elses etwas quäkender Mitgesang überdeckten alle Geräusche. Dann rannte sie die Treppe hinunter, verließ das Haus durch den hinteren Privatlaboreingang und lief bis zum nächsten Taxenstand.

»Zum Stadttheater«, sagte sie, als sie sich auf den Rücksitz warf. »Bitte schnell -«

»Probe verpaßt, was?« Der Taxifahrer grinste. »Na, woll'n mal sehen, ob wir den zweiten Akt noch retten.«

Es war kurz vor zehn Uhr morgens. Luise sah es auf der Uhr, die über dem Geschäft eines Optikers hing.

Um zehn Uhr stand Ernst Dahlmann im Büro einer großen Fluggesellschaft an der Theke und verhandelte für eine Buchung nach Zürich. Alle Maschinen waren für eine Woche im voraus ausgebucht.

Dahlmann bot die doppelte Passagesumme als Äquivalent, wenn es gelingen würde, doch noch einen freien oder zurückgegebenen Platz für übermorgen auf seinen Namen zu buchen.

Um zehn Uhr hatte der dicke Faber in seinem Zimmer in der Mordkommission einen Stapel Briefe durchgelesen und fand es an der Zeit, nach dieser schönen Arbeit zum zweitenmal zu frühstücken. Schinken mit Ei und eine Pulle Bier. Was er gelesen hatte, war ein kleiner Roman in Briefen, eine Liebesschnulze, wie sie nur der Alltag schreiben kann, mit Küßchen und Schätzchen, Sehnsucht und Treueschwüren, Ermahnungen zur Bravheit und Erinnerungen an Gemeinsamkeiten.

Ein Briefroman über eine verbotene Liebe, über eine Sünde zuviel. Kriminalsekretär Erich Papenrinck hatte den kleinen Briefstapel bei der Haussuchung im >Grünen Krug< unter der Matratze Monika Hortens gefunden und damit des dicken Fabers Vermutung bestätigt, daß in dem Heidekrug der Schlüssel zum Verschwinden Monikas zu finden wäre.

Nun lag dieser Schlüssel vor Faber, eindeutig und unleugbar. »Unsere Nächte waren heller als die Tage.« stand da.

Um zehn Uhr stand Robert Sanden auf der Probebühne auf einem Podest und wartete auf sein Stichwort. Er spielte den Puck im >Sommernachtstraum< zum erstenmal. Vor ihm zankten sich in ihrer Rolle Oberon und Titania. Gleich mußte sein Auftritt kommen, zwar nur ein Satz, aber es kam darauf an, wie man diesen Satz sprach -

»Rund um die Erde zieh ich einen Gürtel in viermal zehn Minuten...«

Robert Sanden freute sich auf diese Puck-Rolle. Sie war fröhlich, quicklebendig, voller Lebenslust, so, wie er sich selbst im Inneren fühlte, seit er wußte, daß er Luise Dahlmann liebte, und seit der Befreiung von dem inneren Druck, nachdem er es ihr gesagt hatte.

Ein Sommernachtstraum . für ihn konnte er Wahrheit werden.

Zehn Uhr vormittags. Ein Zeitpunkt, an dem vier Schicksale zusammentrafen, ohne es zu merken.

Es dauerte ziemlich lange, bis sich der Bühneneingangsportier erweichen ließ, Robert Sanden in der Probe zu stören. Bei Ernst Dahl-mann hatte es damals überzeugendere Argumente der Dringlichkeit gegeben ... die Versicherung einer Dame, daß es wichtig sei, war noch kein Grund, den Sommernachtstraum zu stören.

»Warten Sie bis elf Uhr, da ist Probenpause«, sagte der Portier und starrte auf das Anschlagbrett mit den Probezeiten. »Ich kann doch nicht zur Bühne durchläuten und sagen: Unten steht eine Frau, die will unbedingt Herrn Sanden sprechen. - Der Intendant wirft mich 'raus.«

»Verlassen Sie sich darauf. es ist wichtig.« Luise umklammerte den Rahmen des Schiebefensters, hinter dem der Portier wie der Wächter vor einem Paradies thronte. »Sie könnten Unannehmlichkeiten haben, wenn Sie Herrn Sanden nicht rufen!«

Der Portier schob die Unterlippe vor. Sie droht, dachte er. Auch das noch! Sie droht mir!

»Elf Uhr Probenpause!« sagte er stur und schob das Fenster zu.

Luise trommelte mit den Fingern gegen das Glas. Der Portier nahm die Tageszeitung hoch und las. Auf der Seite, die Luise entgegenleuchtete, las sie in großen Buchstaben: Wieder eine Steuererhöhung?

Als sie das Klopfen und Trommeln nicht aufgab, beugte sich der Portier vor und riß das Fenster wieder zur Seite.

»Wenn Sie keine Frau wären, Sie.«, schrie er.

»Aber ich bin eine! Und ich muß Herrn Sanden sprechen.«

»Wer sind Sie denn überhaupt?!«

Und da sagte Luise Dahlmann etwas, was sie nie gesagt hätte, wenn die Panik ihr nicht das Herz bis zur Kehle getrieben hätte.

»Ich bin Herrn Sandens zukünftige Frau.«

»Was?!« Der Portier steckte den Kopf durch das Schiebefenster und starrte Luise an. »Davon weiß ich ja noch gar nichts.«

»Das ist wirklich tragisch! Aber ich bin's. Kann ich nun zu Herrn Sanden?«

»Ich ... ich lasse ihn herausrufen.« Der Portier fiel auf seinen Stuhl zurück. Der Sanden, dachte er. Sieh an. Man hat immer gedacht, der ist brav und nur auf der Bühne ein Lüstling. Und nun.? Da sieht man wieder, wie man sich täuschen kann. Zieht sich eine ver-heiratete Frau an Land. »Was soll ich sagen?« fragte er.

»Luise ist da.«

»Luise?«

»Ja.«

»Das genügt?«

»Völlig!«

»Glauben Sie?«

»Ich weiß es.«

Der Portier hob die Schultern. Nennt ihren Namen nicht, dachte er. Schon verdächtig! Eine schlüpfrige Sache, das alles! Aber wenn man über dreißig Jahre beim Theater ist . nein, da erschüttert einen nichts mehr.

Er rief zur Probenbühne hinauf und ließ es sich nicht entgehen, dies mit folgenden Worten zu tun: »Hier ist eine, die Luise heißt und den Sanden sprechen will. Jawohl, nur Luise . das genüge, meint sie.« Dabei räusperte er sich, als habe er eine Kröte im Hals.

Luise achtete nicht darauf. Sie ging vor dem Glaskasten des Portiers hin und her, die Hände ineinander verkrampft, den Kopf gesenkt. Der Portier beobachtete sie mit hängenden Mundwinkeln.

Nervös ist sie, dachte er. Sehr nervös. Schlechtes Zeichen. Sieht aus, als wenn sie ein Kind von dem Sanden bekommt und gleich hier eine Szene abrollt, die nicht von Shakespeare ist. Er steckte den Kopf wieder durch das Fenster und hustete. Luise drehte sich um.

»Er kommt sofort.«

»Das habe ich doch gesagt.«

Es gab keine Szene, als Robert Sanden die Treppe heruntergerannt kam und mit ausgebreiteten Armen auf Luise zuging.

»Laß uns irgendwo hingehen«, sagte Luise leise, als er vor ihr stand. Der Portier, der mit langen Ohren an der Scheibe saß, hörte nichts als einen Hauch von Stimme. Gemeinheit, dachte er. Infamie! Einem kleinen Mann nicht einmal das zu gönnen.!

»Ich habe Probe, Luise.« Sanden hielt beide Hände Luises fest.

»Du mußt mitkommen. Ich brauche dich. Ich . ich . verliere wieder mein Augenlicht.«

Robert Sanden nahm diesen Schlag mit einer bewunderungswürdigen Haltung hin. Nur seine Lippen zuckten, und seine Bak-kenknochen bohrten sich durch die Haut.

»Komm.«, sagte er leise und legte den Arm um Luises Schulter. »Gehen wir zu mir.«

»Die Probe.«, rief der Portier aus dem Glaskasten, als er sah, daß Sanden das Theater verlassen wollte.

»Sagen Sie Herrn Mohreg, er soll meine Rolle markieren. Ich bin in einer Stunde wieder da . es ist wichtig.«

Der Portier grunzte und schob das Fenster zu.

Wichtig. Was? Er hatte nichts von dem Flüstern verstanden. Also doch ein Kind, dachte er. Warum sonst so eine Geheimnistuerei?! Es ist immer dasselbe mit den Künstlern ... auf der Bühne Helden, und im Leben rutschen sie aus -

In der Wohnung Sandens konnte Luise endlich weinen. Hier fühlte sie sich geborgen, hier war ein Mensch, der mit ihr fühlte, der sie liebte und den sie auch zu lieben begann. Hier fiel alle Starrheit und Stärke von ihr ab ... sie warf sich auf die Couch, verbarg das Gesicht in den Kissen und weinte haltlos und laut.

Robert Sanden ließ sie weinen. Er saß vor ihr, umklammerte ein Glas mit Whisky und sah auf den zuckenden Kopf mit den dunklen Locken. Die Mitteilung, daß Luises Augen wieder dunkler wurden, hatte ihn getroffen wie ein tödlicher Schuß. Erst jetzt kamen ihm alle Konsequenzen einzeln zum Bewußtsein, die eine neue Blindheit, und diesmal eine endgültige, auslösen mußte und würde.

»Wir müssen sofort nach Bologna zu Professor Siri«, sagte er, als Luises Weinkrampf sich etwas beruhigt hatte. »Er ist der einzige, der helfen kann.«

Luise nickte. Sie stützte den Kopf in beide Hände und starrte in die Kissen. Ein graudumpfes Kissen, und sie wußte, daß es roter, leuchtender Samt war.

»Und wenn nicht.?« fragte sie kaum hörbar.

»Was nicht?«

»Wenn er nicht mehr helfen kann?« »Es ändert sich nichts. Ich liebe dich weiter wie bisher ... muß man darüber sprechen? Ich habe dich geliebt in dem Glauben, daß du blind seist, vergiß das nie! Daß du in Wirklichkeit sehen konntest, war ein Geschenk Gottes an mich.«

»Und nun werde ich doch blind.«

»Professor Siri wird helfen! Wir müssen sofort hin!«

Luise nickte. Und dann sagte sie das, was auch Sanden dachte.

»Aber wie?«

»Es gibt jetzt keine Rücksichten mehr. Es geht nicht mehr um dein Geld, nicht mehr um Monika und deinen Mann, um die Rache an einem Betrug, um die Sühne einer Sünde, um Unterschlagungen und Geldgier ... es geht jetzt nur noch allein um deine Augen!« Sanden setzte sich zu Luise und drückte ihren zuckenden Kopf an sich. »Ich werde Dahlmann die volle Wahrheit sagen . und dann fahren wir nach Bologna.«

»Er ... er wird dir etwas antun!«

»Dazu ist er zu feig! Aber es ist endlich Schluß mit diesem Spiel! Ich habe es nie für richtig gehalten.«

»Jetzt geht es auch um Monika, Robert.«

»Dazu ist die Polizei da.«

»Aber wenn ich andere Möglichkeiten als die Polizei habe, die Wahrheit zu erfahren.?«

»Es ist Schluß!« Sanden sprang auf. Seine sonst schöne, weiche Stimme war hart und metallisch. »Es geht allein um dich . um nichts anderes mehr. Wenn du willst . auch um mich! Nichts auf der Welt ist jetzt wichtiger als deine Augen. Wir müssen zu Professor Siri, und wenn es durch die Hölle zu ihm geht. Komm . ich bringe dich nach Hause. In einer halben Stunde ist das ganze Dahlmann-Drama vorbei, und wir fahren nach Bologna.« Er riß Luise von der Couch zu sich hoch und drückte sie fest an sich. »Was kann uns jetzt noch aufhalten?! Alles ist doch so nichtig gegen das Licht in deinen Augen.«

»Ich habe Angst -«, sagte Luise tonlos.

»Angst? Vor deinem Mann? Das ist in einer Stunde Vergangenheit.« »Angst vor allem! Vor Professor Siri, der Untersuchung, dem neuen Blindsein, dem Leben. Ich habe Angst, daß ich nicht zum zweitenmal die Kraft aufbringe, blind zu sein, jetzt, wo ich weiß, was Licht wirklich ist.« Sie drückte das Gesicht an seine Brust und klammerte sich an ihm fest. »Ich weiß, daß ich die Kraft nicht mehr habe.«, weinte sie.

Robert Sanden wußte es auch. Was auf Luise zukam, war mehr, als ein Mensch ertragen konnte. Hier half keine Liebe mehr, kein Zureden, keine Zärtlichkeit, kein Reichtum, keine Bemühung, die wieder versunkene Welt durch das Gehör weiterleben zu lassen. Wenn Luises Augen erneut verloschen, war es auch ein Verlöschen des Menschen Luise. Professor Siri hatte jetzt nicht nur das Licht zweier Augen zu retten, sondern ein Leben.

»Ich rufe in Bologna an«, sagte Sanden heiser.

Das Blitzgespräch kam in zwanzig Sekunden durch. Das Sekretariat der Clfnica St. Anna ließ Dr. Saviano rufen.

»Sofort kommen!« rief der Assistent Professor Siris. Man hörte, wie entsetzt er war. »Der Professore ist heute nicht hier. Ich werde es ihm sagen, heute Nacht noch. Kommen Sie mit Flugzeug . sofort . und legen Sie auf alle Fälle eine Binde um die Augen . sofort eine Binde. Sie darf nicht mehr sehen, sie darf kein Pünktchen Licht mehr haben. Noch besser . verkleben Sie ihr die Augen mit Leukoplast.«

Robert Sanden legte auf. Luise saß auf der Couch und sah ins Leere. Kein Licht mehr . sofort verbinden. Leukoplast auf die Augen ... er brachte es nicht fertig, es Luise zu sagen.

»Was meint Dr. Saviano?« fragte sie ohne aufzublicken.

»Sofort kommen. Mit dem Flugzeug.«

»Hat er noch Hoffnung?«

»Davon hat er gar nicht gesprochen. Er muß dich ja erst sehen.«

»Wovon hat er sonst gesprochen?« Luise sah auf, als Sanden nicht sofort antwortete. In seinen Augen las sie die Wahrheit. »Kein Licht mehr, nicht wahr.« sagte sie leise.

Sanden nickte stumm. Seine Kehle war ausgedörrt und rissig. Er brachte keinen Ton heraus.

»Freiwillig blind also?«

»Bis zur Untersuchung.« Seine Stimme hatte jeglichen Ton verloren.

»Womit?«

»Eine Binde . Watte mit Leukoplast . oder . oder.«

»Ich habe alles zu Hause.« Sie schloß die Augen und setzte die dunkle Brille auf. »Komm ... bring mich nach Hause. Ich verspreche dir, die Augen zuzuhalten. Ich will nicht einmal mehr blinzeln. Fahr mich nach Hause.«

Sie tastete nach seiner Hand und merkte, wie schwer es ihr wieder war, sich im Dunkeln erneut zurechtzufinden. Er faßte sie, und seine Finger waren eiskalt. Langsam, Schritt für Schritt gingen sie hinaus aus dem Haus und zu Sandens kleinem Wagen. Ein paarmal stolperte Luise, und immer wieder war sie versucht, die Lider zu heben und schnell zu sehen. Aber sie tat es nicht . kein Licht mehr, hatte Saviano gesagt. Ab sofort! Ob es noch eine Chance gab? Für diese Hoffnung jetzt freiwillig blind zu sein, war kein Opfer mehr. Es waren nur noch Stunden . wie winzig sind sie, wenn man mit ihnen das Licht des Tages und die Sterne der Nacht retten kann.

Ernst Dahlmann hatte nach Rücksprachen bei dem Direktor der Fluggesellschaft endlich die Zusicherung erhalten, einen Platz in der Maschine nach Zürich zu erhalten. Er fuhr zu einem anderen Reisebüro und bestellte dort eine Bahnkarte nach Flensburg. In einem dritten Büro kaufte er eine Fahrkarte nach Paris, in einem vierten eine Karte nach Calais-Dover-London. Dann trank er zufrieden eine Tasse Kaffee und einen Kognak dazu.

Man soll sich totlaufen, dachte er vergnügt. Ob Zürich, Dänemark, Paris oder London ... überall kann Ernst Dahlmann hingefahren sein.

Es wird sich nie feststellen lassen, wohin er wirklich geflüchtet ist und welche Grenze er überschritten hat. Er hat sich in alle vier Winde aufgelöst... das wird von allen Nachforschungen übrigbleiben.

Dahlmann hatte also allen Grund, zufrieden zu sein. Noch zwei Tage, und das große Spiel war zwar nicht gewonnen, aber doch mit einem Teilsieg abgebrochen worden. Übermorgen früh, bevor er zum Flughafen abfuhr, würde er bei zwei Banken seine ausgefüllten Blankoschecks abheben ... an diesen Tagen waren zusammen 63.865 Mark Bargeld auf den Konten. Die Mohren-Apotheke hatte nach Südamerika die Herstellung von Dahlomed, einem ungefährlichen Schmerzmittel ohne Barbitur, als Lizenz verkauft. Die Außenhandelsbank hatte angerufen und zugesagt, daß die Anzahlung des Lizenzbetrages zur Auszahlung vorliege und bis morgen auf dem Konto Dahlmanns verbucht sei.

Das Glück kommt mir entgegen, hatte Dahlmann gedacht, als er diesen Bescheid erhielt. Er erhöhte seine Beute um 20.000 Mark.

Gegen elf Uhr, fast um die gleiche Zeit, als Robert Sanden langsam durch das Verkehrsgewühl mit Luise zur Mohren-Apotheke fuhr, bestieg Ernst Dahlmann sein Auto und stellte das Radio an. Er suchte nach flotter Tanzmusik und fuhr erst an, als er sie gefunden hatte. Der Hitze wegen legte er den Sicherheitsgurt nicht um, ohne den er sonst keine Strecke Auto fuhr, selbst nicht den kleinsten Weg zur Post oder zur Bank. Er schob das Schiebedach zurück, sah in den blauen Himmel und dachte, wie schön doch das Leben sei, wenn das Herz glücklich ist. An Monika wollte er in diesem Augenblick nicht denken . jetzt, wo sie im Moor versunken war, kam ihm das alles wie ein tragischer Unglücksfall vor, den man überwinden muß, weil er ein unabwendbares Schicksal war. Damit tröstete er sich auch, ja, es war schade, nicht nach Mitleid anderer suchen zu können, denn auch ihn hatte ja das Unglück schwer getroffen. Es war eine Moralakrobatik, die Dahlmann allem Bösen entzog und sein Gewissen blank scheuerte.

Kurz vor dem Hauptbahnhof Hannover mußte Dahlmann plötzlich bremsen, weil ein sichtlich betrunkener Radfahrer einfach über die Fahrbahn torkelte, ohne nach rechts oder links zu blicken. Der Tritt auf die Bremse, das Aufkreischen der Räder und das Stillstehen des Wagens kamen so plötzlich, daß zwei hinter Dahlmann fahrende Wagen seinen Stillstand erst merkten, als sie sich beide mit aller Wucht in den Kofferraum bohrten und den stehenden Wagen vor sich herschoben.

Blech verbog und zerbarst, Scheiben klirrten, Stoßstangen schepperten über den Asphalt, einige Passanten schrien auf, der Schutzmann an der Kreuzung pfiff und rannte zu dem Autoknäuel, das mitten auf der Bahnhofzufahrt stand.

Ernst Dahlmann lag über dem Lenkrad und war besinnungslos. Aus seinem linken Mundwinkel, der abwärts hing, lief ein dünner Blutfaden über den weißen Kragen und das Hemd.

»Schädelbasisbruch«, sagte einer der herumstehenden Fußgänger sachkundig. »Sehn 'se das Blut aus'n Mund?!«

Zehn Minuten später lag Ernst Dahlmann auf dem Operationstisch im Unfallkrankenhaus. Er hatte das Bewußtsein noch nicht wiedererlangt. Eine Krankenschwester und ein Pfleger zogen ihm die Kleider aus. Im Sekretariat untersuchte ein Polizist vom Peterwagen die Papiere in der Brieftasche, die man Dahlmann abgenommen hatte.

»Wir fahren bei ihm vorbei.«, sagte der Polizist und steckte die Brieftasche ein. »Ich kenne die Mohren-Apotheke und Herrn Dahlmann. Hab' schon oft bei ihm 'n Rezept eingelöst. Seine Frau ist blind, wissen 'se. Und nun auch das noch!«

Im OP begann die Untersuchung des Verletzten.

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