Kapitel 21

Die ganze Nacht blieb Luise auf und wartete. Dahlmann kam nicht zurück. Sie wußte dafür keine Erklärung, aber ihre Angst wuchs, daß sie sich dieses Mal verrechnet haben könnte. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder war er bei Monika - oder er hatte die Nerven verloren und war geflohen. Wohin, das würde sich bald feststellen lassen ... nur war dies nicht die Wesensart Dahlmanns, alle Brücken abzubrechen, ohne wenigstens die letzte Möglichkeit auszunutzen, einen Vorteil mitzunehmen. Daß er ohne Geld über die Grenze gegangen war, schien also unwahrscheinlich zu sein. Aber auch bei Monika konnte er nicht die Nacht verbringen . sie hatte ihn weggestoßen mit der Verzweiflung, vergessen zu wollen. Der Zauber, in den sie einmal gefangen war, die Hörigkeit, die Dahlmann in ihr erzeugt hatte, waren zerbrochen . die Ernüchterung, die an ihre

Statt getreten war, konnte nicht mehr übersprungen werden.

Und doch war es so.

Dahlmann saß die ganze Nacht über bei Monika.

Er war zur Waldhütte gerast und hatte die Tür so verschlossen gefunden, wie er sie verlassen hatte. Im Alkovenbett lag Monika, tot und steif, mit halboffenem Mund. Die zarte, rosa Haut war gelb geworden . er ließ den Vorhang schnell wieder vor das Bett fallen und taumelte zum Tisch.

Die Tasche! Wie kommt die Tasche in die Wohnung?

Dahlmann tastete die Decke ab, in die er Monika eingerollt hatte. Sie war nicht da. Er überwand sich, zog noch einmal den Vorhang vom Bett und schob die Steppdecke von dem starren Körper. Hinter Monika, zwischen ihrer rechten Hüfte und der Wand, lag ihre Handtasche. Eine rote Tasche, nicht eine weiße. Ernst Dahlmann schloß die Augen und lehnte sich an die Alkovenwand.

Die Nerven, dachte er. Ich habe die Nerven verloren. Wer aber hat die weiße Tasche in den Sessel gelegt? Wo kommt sie plötzlich her? Wem gehörten die tapsenden Schritte, die Luise gehört hatte?!

Wer hatte ihm diese Falle gestellt.?

Das war es nämlich, was ihm plötzlich völlig klar wurde: Die Tasche in dem Sessel war eine Falle gewesen! Jemand hatte sie dorthin gelegt, der seine Reaktion beobachten wollte. Wer aber? Wer? Luise war blind, und sonst war niemand im Haus gewesen. Davon hatte er sich selbst überzeugt. Aber unten auf der Straße? Hatte jemand auf sein Wegfahren gewartet und war ihm nachgefahren?

In Dahlmann stieg heiße Angst hoch. Er rannte aus der Waldhütte und blieb zwischen den Stämmen stehen. Er bemerkte keinen zweiten Wagen, hörte keinen Motor, keine Schritte, kein Knacken von Ästen oder das Rascheln von Laub. Und doch war er beobachtet worden, dessen war er sich jetzt sicher. Ebenso klar war er sich darüber, daß er nicht mehr nach Hause konnte, bis die Leiche Monikas im Sumpf versenkt war. Dann war es gleichgültig, wenn sie die Hütte fanden und durchsuchten. Es gab keine Spuren mehr. Auch einen Grund hatte Dahlmann anzugeben, warum er die Hütte von

Dr. Forster übernommen hatte. Auch die Polizei würde verstehen, wenn er mit einem Zwinkern der Augen antworten würde: »Ich liebe die Waldeinsamkeit ... ich habe sie für meine Freizeit und zur Erholung gemietet.«

Dahlmann rauchte hastig eine Zigarette und ging zur Hütte zurück. Es scheint doch einen perfekten Tod zu geben, dachte er. Ich habe nie daran gedacht, es zu demonstrieren . aber es scheint so, als müßte ich es tun.

Die ganze Nacht über saß er am Tisch und studierte beim Schein der Petroleumlampe die Karte von Norddeutschland, die er im Handschuhfach seines Wagens liegen hatte. Es waren viele Moore nördlich von Hannover, aber eines schien ihm besonders unbewohnt zu sein. Es war eine Gegend zwischen Scheeßel, Hetzwege und Mulmshorn . ein vierzehn Kilometer langer Streifen Moor, durchzogen von einigen Kanälen, Wasserrinnen nur, ein Flecken Einsamkeit mitten unter Menschen.

Er maß die Strecke aus, er suchte die besten Anfahrtswege. In drei Stunden kann man am Ziel sein, dachte er. Um ein Uhr nachts fahre ich hier weg . morgens um vier wird das Moor die einsamste Gegend der Welt sein, und um sieben werden selbst die Spuren des Autos verwischt sein.

Eine Perfektion vom Verschwinden eines Menschen, die so einfach war, daß sich Dahlmann wunderte, warum noch niemand auf diesen Gedanken gekommen war.

Kurz vor ein Uhr nachts begann der letzte, für Dahlmann schwierigste Teil: Er mußte den starren Körper Monikas wieder in die Decke rollen und sie zum Wagen tragen. Noch einmal sah er sie an, und sein Herz stockte bei der Erinnerung, wie glühend diese blassen Lippen hatten einmal küssen können, wie warm der schöne Körper gewesen war, wie anschmiegsam, wie voller Lebensgenuß. Dann schlug er die Decke über das Gesicht, verschnürte das Bündel wieder und trug es ächzend hinaus. Sie schien ihm jetzt schwerer als vorher zu sein . das Rätsel, warum Tote schwerer sind als Lebende, beschäftigte auch ihn. Mit Mühe - weil er die Beine nicht anwinkeln und das >Paket< nicht knicken konnte - brachte er sie auf den Rücksitzen unter und schlug die Tür zu.

Über eine halbe Stunde verwandte er darauf, alle Spuren zu verwischen. Als er die Hütte abschloß, war sie wieder so, wie er sie übernommen hatte.

Es war nicht mehr nachweisbar, daß in den letzten Tagen ein Mensch hier gewesen war. Es würde nie nachweisbar sein, daß in dem Bett eine Tote gelegen hatte.

Das wußte nur Gott . und ihn konnte man nicht fragen.

Niemand sah den Wagen, der gegen vier Uhr morgens über den schmalen festen Weg holperte, auf dem sonst die Moorkarren fahren. Niemand sah auch den Mann, der mit einer Deckenrolle über dem Rücken den festen Weg verließ und den Spuren der hochrädrigen, leichten Wägelchen nachging, die bis an die Grenze des begehbaren Bodens rollen.

Auch Dahlmann tastete sich mit seiner Last so weit in das Moor hinein, bis er spürte, wie der Boden unter ihm schwankte und schwebte und das Moorwasser ihm oben in die Schuhe lief. Da blieb er stehen und ließ die Deckenrolle von der Schulter rutschen.

Über dem Moor lag Nebel in dünnen, schwebenden, wie aus weißgrauer Seide gesponnenen Schleiern. Einzelne Schwaden zogen träge auf ihn zu, überwehten ihn und trugen den Geruch von Fäulnis und nasser Erde weiter ins Land.

Dahlmann schauderte und sah über das einsame, schwermütige und geheimnisvolle Land. Es sah so friedlich aus... und zwei Schritte weiter war es gnadenlos, grausam und feindlich. Ein lautloser Tod ... vielleicht nur ein Schmatzen des Sumpfes, wenn er sich über dem Körper schloß, das Schmatzen eines satten Todes.

Er blickte sich um und suchte einen harten Gegenstand, den er vor sich in das Moor werfen wollte, um zu sehen, wie weich der Boden war und wie schnell er einen Körper in sich hineinsaugte. Da er nichts fand, nahm er seine goldene Armbanduhr ab und warf sie vier Schritte weit von sich. Sie klatschte auf. und dann war es, als öffneten sich wulstige Lippen, umfingen die Uhr und verschluckten sie . nicht schnell, sondern langsam, ganz allmählich, millimeterweise, genußvoll fast . ein Aufsaugen, ein Vergehen.

Dahlmann starrte auf seine Uhr, bis sie im Moor versunken war. Er konnte sich keinen Begriff machen, wie tief der schwabbende Boden war. Zweifel kamen in ihm auf, daß ein menschlicher Körper völlig in ihm verschwinden könnte. Er erinnerte sich, daß einmal eine Kuhherde im Moor versunken war; er dachte an die vielen Geschichten, die er über Sümpfe gelesen hatte . ein ganzes Fahrzeug mit Pferden und Lenkern sollte einmal spurlos im Teufelsmoor verschwunden sein. Er hatte das immer als eine Sage angesehen, und auch jetzt, am Rande des lautlosen Todes, glaubte er nicht daran, daß es tief genug sein würde, um ewiges Schweigen über die Schuld des Ernst Dahlmann zu decken.

Um eine neue Probe zu machen, ging er zurück zum Wagen und holte seinen Wagenheber aus dem Kofferraum. Er warf auch ihn neben der Uhr in den schwabbenden Boden . und dieses Mal war der Mund gieriger . er umschloß den schweren Wagenheber mit gurgelnden Lauten und verschluckte ihn in weniger als zehn Sekunden. Dahlmann, ohne seine Uhr, zählte sie nach militärischer Art . einundzwanzig . zweiundzwanzig . dreiundzwanzig . Bei der zehnten Sekunde lag die Moorfläche glatt und ruhig wie vorher da, ein lauernder Moloch von trauriger, nebelschleierumwehter Schönheit.

Im Osten zeigte sich am weiten Horizont ein schwacher, hellgrauer Streifen, die Ahnung eines kommenden Tages, ein Hauch von Licht. Durch Ernst Dahlmann zog ein heftiges Frieren und Schütteln. Es gab kein Zurück mehr . die Trennung in das Ewige mußte geschehen.

Dahlmann hob die Decke mit Monika wieder über seine Schul-ter. Er versuchte, ob es möglich sei, sie mit beiden Armen von sich wegzustoßen und ein paar Meter weit hinein ins Moor zu werfen. Aber der zarte Körper war zu schwer, oder ihn hatten die Kräfte verlassen . es war unmöglich, Monika zu halten, die Deckenrolle rutschte ihm aus den Armen weg und stieß wieder auf den Weg.

Kalter Schweiß brach Dahlmann aus. Er drückte die Hand in den Rücken, reckte sich und griff wieder zu. Ächzend bückte er sich, schob die Rolle über seine Schulter und richtete sich auf. Er schob sie so zurecht, daß sich das Gleichgewicht nach vorn verlagerte ... dann schleuderte er von der Schulter aus, mit beiden Händen nachdrückend, die Tote in das Moor hinein. Der Schwung war so groß, daß er selbst mitgerissen wurde, nach vorne stürzte, auf die Knie fiel und mit ausgebreiteten Armen auf dem schwabbenden Boden lag.

Als er sich aufstützen wollte, fühlte er, wie der Boden unter seinen Händen nachgab, wie er in einen faulig riechenden Erdpudding griff, wie seine Finger sich im Breiigen verloren. Einen Augenblick war er versucht, zu schreien. Entsetzen ergriff ihn, Todesangst, winselnde Feigheit. Er preßte die Knie zusammen und spürte, daß der Boden unter seinen Beinen hart war, daß seine Brust noch auf fester Erde ruhte, daß es nur die Arme und Hände waren, die ins Moor reichten, in die saugende, alles verschlingende weiche Tiefe.

Er kroch zurück wie ein Molch und wagte erst dann, sich aufzurichten, als er beim Rundumtasten überall harten Grund fühlte. Zitternd stand er dann da, mit Lehm und schwarzem Moorbrei beschmiert. In seinem Kopf summte und rauschte es, vor den Augen drehten sich die Nebel und wurden von blauen, gelben und roten Punkten durchtanzt. Wenn man sich irgendwo anlehnen könnte, dachte er. Ausruhen, tief atmen, die Augen einen Moment schließen und an nichts denken. Aber um ihn herum war Moor, er stand auf einem schmalen festen Wegstreifen, Schilf und Gras wuchs neben ihm, aber kein Baum, an den er sich lehnen konnte, nicht einmal ein Strauch mit einigen biegsamen Ästen, an die man sich anklammern konnte.

Vor ihm versank langsam die Deckenrolle. Er starrte auf den Sumpf, wie er Monika in sich hineinzog. Es war ein Anblick, der ihn erschaudern ließ, aber er wandte das Auge nicht davon ab, es war ein Abschied von Monika für immer.

Er wartete, bis sie völlig versunken war und die Oberfläche des Moores wieder glatt war. Dann ging er langsam zurück zum Wagen und fuhr, mit einem Gefühl von Übelkeit im Magen, nach Hannover. Der Moorschmutz an seinem Anzug trocknete ab . kurz vor der Abfahrt von der Autobahn in die Innenstadt hielt er an einer Raststelle, klopfte seinen Anzug ab, säuberte die Hosenaufschläge von Pflanzenresten und die Schuhe vom festgeklebten Schlamm. Als die Geschäfte um acht Uhr öffneten, kaufte er sich einen neuen Anzug, zog sich in der Probierkabine gleich um und brachte den flek-kigen Anzug zur Reinigung. Expreß, bestellte er. In drei Tagen würde er ihn wieder brauchen.

In seiner Wohnung fand er Fräulein Erna Pleschke vor. Sie war bestellt worden, wie jeden Tag zu kommen. Dahlmann begrüßte sie brummend und ging ins Zimmer. Fräulein Pleschke konnte er am wenigsten gebrauchen; außerdem wußte er nicht, was sie hier sollte. Es war nicht denkbar, daß Luise spazierenging, wenn man ihre Schwester suchte.

»Bist du es, Ernst?« fragte Luise. Sie saß blaß und übermüdet in der Blumenecke. Ihre Augen brannten unter den dunklen Gläsern und tränten etwas. Mit letzter Kraft kämpfte sie gegen eine ohnmachtähnliche Müdigkeit an. Daß sie, im Sessel sitzend, eine Stunde geschlafen hatte und durch die Geräusche, die Fräulein Plesch-ke verursachte, geweckt wurde, wußte sie nicht. Sie glaubte, sie wäre nur ein wenig eingenickt.

Ernst Dahlmann setzte sich. Luise musterte ihn. Er hat einen neuen Anzug an, dachte sie. Was soll das bedeuten? Wo kommt er jetzt her? Aber sie fragte ihn nicht danach. Sie hatte sich ein anderes Mittel ausgedacht, Dahlmann zum eigenen Verräter werden zu lassen. Auf Fragen würde er immer eine Antwort wissen ... man mußte ihn überraschen, ihn plötzlich treffen, so wie es mit der Handtasche Monikas gelungen war. Nur ging dieser Schuß ins Leere, weil Dahlmann schneller war als seine Verfolger.

»Ja. Ich bin's, Luiserl.« Er lehnte sich weit zurück und sah an die Decke. Die Morgensonne stach grell durch das breite Fenster. Ein schöner Herbsttag begann . vielleicht war es der letzte in diesem Jahr. In Bayern lag schon Schnee, von Schweden wurde das gleiche gemeldet. Es würde nicht lange dauern, bis auch nach Hannover der Winter gekommen war. Dahlmann genoß die Stille, die Sonne, die Blumenranken, den Duft von Rosen und Dahlien, er genoß es, in einem weichen Sessel zu sitzen, die Beine weit von sich zu strecken und zufrieden zu sein.

Das war er: zufrieden! Wenn er eitel gewesen wäre, hätte er sagen können: Ich habe die Methode des perfekten Mordes entdeckt. Nicht aus Gemeinheit, aus einem verbrecherischen Instinkt heraus, sondern aus der Angst, der Notwendigkeit, einen Menschen spurlos verschwinden zu lassen, dessen Tod man nie, nie gewollt hatte.

Er griff in die Tasche, zog eine Schachtel Zigaretten heraus und begann zu rauchen. Was nun, dachte er dabei. Der zweite Tag der vier Tage ist gekommen. Ich werde mir die Fahrkarte nach Zürich bestellen, einige Koffer packen und sie als Reisegepäck vorschicken. Das fällt nicht auf. wenn sie es später erfahren, wird die Spur verwischt sein.

»Wie hast du geschlafen, Luiserl?« fragte er, um etwas zu sagen und die Stille aufzulockern.

»Gar nicht.«

»Gar nicht? Aber warum denn?«

»Da kannst du noch fragen?«

»Verzeih.« Dahlmann sog an seiner Zigarette. »Du erkundigst dich gar nicht, wo ich diese Nacht gewesen bin?«

»Nein. Du wirst es mir ja auch so sagen.«

»Hast du keine Angst, daß ich dich belüge?«

»Nein. Du hast mich nie belogen.« Luise kam es völlig frei von den Lippen. »Warum sollten wir uns jetzt noch etwas vormachen? Ich war auch ehrlich zu dir, Ernst . wenn du mir sagst, du warst

diese Nacht bei einer anderen Frau ... es berührt mich nicht mehr.«

Luises Kopf flog hoch. Sie sah Dahlmann an ... er war verschwommen, und die Augen tränten wieder, als sie in die Sonne sah. Sie nahm ein Taschentuch, schob es zwischen die Brillengläser und drückte es gegen die Augen. Sie tupfte die Tränen ab. Dahlmann kehrte aus dem Verschwommenen in die Klarheit zurück.

»Aber das war ich nicht. Ich habe Monika gesucht.«

»Du hast Monika gesucht? Wo denn? Keiner weiß doch, wo sie hingegangen ist! Hat sie dir etwas gesagt?«

»Nein. Aber ich bin ein Mensch, der das Systematische liebt. Ich habe sämtliche Hotels abgeklappert.«

»Du hast -«

»Ich wußte gar nicht, daß es in Hannover so viele Hotels, Fremdenpensionen, Privatpensionen und Einzelzimmervermietungen gibt. Ich bin die ganze Nacht herumgesaust, kreuz und quer durch den Stadtplan, und habe gefragt. Ein paarmal hätten sie mich bald verprügelt. Ich bin bis zu den Spelunken hinabgestiegen und hinauf bis auf Dachkammern, die man auch stundenweise vermietet. Von Monika keine Spur. Sie ist entweder nicht mehr in Hannover . oder sie lebt irgendwo privat. Dann kann es nur ein Mann sein.«

»Monika ist keine Hure -«, sagte Luise kalt.

»Das will ich damit auch nicht angedeutet haben! Aber ich denke an diesen blonden Träumer Julius Salzer, der sich Rechte an Monika anmaßt - und wie lange kennt er sie? Ein paar Tage! Das zeugt nicht gerade für ein zimperliches Verhalten deiner Schwester, und jungfräuliche Angst sieht anders aus -«

Luise schwieg. Es war ihr widerlich, darauf zu antworten. Auch glaubte sie ihm nicht, daß er die Hotels abgesucht hatte . er war davongerast, hinaus aus Hannover, nach Osten, und dort irgendwo mußte Monika verborgen sein. Warum sie sich verborgen hielt, konnte Luise nicht erraten, sie sah keinerlei Grund darin, daß Monika ihre Möbel nach Soltau holen ließ und am gleichen Tage vor Julius Salzer sich versteckte. Auch daß Dahlmann sie wieder zu sich hinübergezogen hatte und ihre Hörigkeit wieder ausgebrochen war, hielt sie für unmöglich. Sie kannte ihre Schwester . sie war eine Horten, ein harter Kopf, wenn es sein mußte, vor allem aber unnachgiebig, wenn sie beleidigt wurde. Die Weichheit, die sie in die Arme Dahlmanns getrieben hatte, war Luise deshalb um so rätselhafter. Es gab nur eine Deutung: Dahlmann mußte sie gezwungen, überwältigt haben, er mußte eine Schwäche Monikas ausgenutzt haben . und dann war es hinterher zu spät, sich von ihm zu lösen. Niemand wußte besser als Luise, wie Dahlmann lieben konnte und wie es fast unmöglich war, sich dem Zauber dieser Liebe wieder zu entziehen.

Dahlmann zerdrückte die Zigarette und erhob sich. Luise legte den Kopf zur Seite.

»Du gehst schon wieder?«

»Ja. Ich frage bei der Polizei an, ob die etwas weiß.«

»Sie weiß nichts.«

»Wer sagt das?«

»Dr. Kutscher. Er rief an, kurz bevor du hereinkamst.«

»Verstehst du das, Luiserl?«

»Nein.«

»Hättest du Monika das zugetraut? Schon ihr plötzlicher Auszug aus unserem Hause hat mich verwirrt.«

Du Schuft, dachte Luise.

»Ob sie krank ist?« fragte Dahlmann besorgt.

»Krank?«

»Ich meine . nervlich. So wie Monika benimmt sich doch kein vernünftiger Mensch.«

»Vielleicht sind wir Hortentöchter alle ein bißchen überdreht -«, sagte Luise leise. Dahlmann ergriff ihre schlaffen, kalten Hände.

»Du doch nicht, Luiserl.« Sie entzog ihm ihre Finger durch einen Ruck.

»Ich auch. Denk an das Ticken, das ich immer höre . das furchtbare Tropfen.«

»Aber das ist doch vorbei, Luiserl.«

»Nein! Nein! Heute nacht hat es wieder getickt . immer in Abständen von zwei Sekunden . tick - tack. Ich bin fast irrsinnig geworden.«

Dahlmanns Kopf flog zum Büfett herum. Auf dem Schrank stand seine teuflisch-geniale Konstruktion. Sie war abgestellt, aber sie stand auf dem Büfett. Dahlmanns Hände wurden schweißig und verkrampften sich ineinander. Er wußte ganz genau, daß er den Apparat unten im Privatlabor in einen Schrank eingeschlossen hatte. Er wollte ihn in den nächsten Tagen vernichten, vor seiner Abreise. Er hatte noch einige Glaskolben auf den Tisch gestellt, um Platz im Schrank für den Apparat zu haben.

Nun stand er auf dem Schrank im Wohnzimmer! Er war plötzlich da ... wie die Handtasche von Monika.

»Wer war hier, Luiserl?!« fragte er mit belegter Stimme.

»Hier? Niemand!«

»Du hast nichts gehört?«

»Dieses Ticken, ja.«

»Keine Schritte?«

»Nein.«

»Nicht wieder ein leises Tapsen?«

»Gar nichts, Ernst. Was hast du? Deine Stimme ist so unsicher. Ist eingebrochen worden? Fehlt etwas?« Sie hob den Arm und krallte sich in Dahlmanns Rock fest. »Ich habe solche Angst, Ernst. Du darfst mich nicht mehr allein lassen, hörst du ... du darfst nicht mehr weggehen. War wirklich jemand im Zimmer heute nacht.?«

Es war ein vorzüglicher Monolog. Dahlmann streichelte ihr wie abwesend über das Haar. Dabei sah er auf die Klopfmaschine. Das Rätsel lastete auf seinem Herzen wie ein Bleiklumpen.

»Es war niemand hier, Liebes«, sagte er stockend. »Ich dachte nur. Du mußt dir keine Sorgen machen wegen des Klopfens ... es ist nichts.«

»Ich habe Angst, Ernst. Ich habe Angst, irrsinnig zu werden.«

»Du darfst an so etwas nie denken, Liebes!«

»Auch Dr. Vierweg sagt, daß.«

»Ich werde mit diesem grünen Jungen einmal reines Deutsch sprechen. Er soll als Psychiater heilen, aber nicht Psychosen noch fördern!«

Dahlmann hörte in der Küche Fräulein Pleschke wirtschaften. »Was soll die Pleschke hier?« fragte er.

»Sie macht Kaffee. Ich habe die ganze Nacht wach gesessen, du weißt es doch. Trinkst du mit? Bitte, bitte, sag nicht nein . trink mit mir Kaffee.«

»Solltest du dazu nicht lieber Herrn Sanden holen?« fragte er giftig.

»Ach, laß ihn doch, Ernst. Ich mache mir solche Sorgen um Monika.« Sie beobachtete ihn dabei. Dahlmann zeigte keinerlei Bewegungen, sein Gesicht war nachdenklich und noch immer von dem Rätsel gefangen: Wie kommt die Klopfmaschine auf das Büfett?!

»Monika geht es vielleicht besser als uns.«, sagte er beiläufig.

»Bleib heute bei mir, ja?« bettelte Luise.

»Aber die Apotheke. Ich muß noch in die Stadt, ich habe eine Verabredung mit einem pharmazeutischen Fabrikanten.«

»Sag ab ... verschieb es. Ich habe ein dumpfes Gefühl, daß Monika etwas zugestoßen ist. Und da möchte ich, daß du bei mir bist . noch bist du mein Mann, Ernst.«

»Ja. Noch -«, sagte er bitter.

»Ich habe in dieser Nacht manches eingesehen.«

»Ach -«

»Ja.« Luise nickte und lehnte den Kopf an Dahlmanns Hüfte. »Zugegeben - ich war einmal nicht stark genug . ich habe mich verirrt . heute weiß ich gar nicht, wie das vorkommen konnte. Wenn du mir diesen einen Fehltritt verzeihen könntest, Ernst.«

Dahlmann hielt den Atem an. O verdammt, dachte er.

»Was dann?« fragte er kaum hörbar.

»Wenn du zu mir sagen kannst: Luiserl, ich vergesse es. Ich weiß es gar nicht mehr . wenn du das sagen kannst, und wenn Monika zurückkommt, dann will ich nur noch für dich leben. Ich will dir und Monika alles schenken, was ich von Vater habe.«

Dahlmann kam sich vor, als habe man ihn in glühendes Öl ge-taucht und dann mit einem Eiswasserstrahl wieder abgespritzt.

»Und ... und Sanden.«, stammelte er.

»Ich werde diesen Namen nie mehr nennen.«

»Luiserl . verzeih, aber mir fehlen die Worte.«

Sie fehlten ihm wirklich. Am Ziel, dachte er und konnte sich zerreißen. Am Ziel! Und doch so weit entfernt wie nie. Nicht nur entfernt . es war nun unerreichbar geworden.

»Weißt du, was ich mir ausgedacht habe?« Luise zog Dahlmann an der Hand zu sich. »Komm, setz dich zu mir ... hier, auf die Lehne. So ... so fühle ich dich. Ich habe mir gedacht, daß wir hier in Hannover alles aufgeben.«

»Aufgeben?«

»Wir verpachten die Apotheke. Wir haben Geld genug auf der Kasse, die Pacht sichert uns den täglichen Unterhalt, unsere Medikamente bringen Lizenzgebühren. Wir ziehen irgendwohin, wo es besonders schön ist . an die Ostsee, an einen Holsteinischen See, an den Rhein, an einen bayerischen See, in ein Bad . die Welt ist ja so groß, und wir haben das Glück, uns davon ein kleines Stück zu kaufen. Ein winziges Stück, aber es soll unser Paradies werden. Was hältst du davon?«

Es war eine grausame Angel, die Luise auswarf. Dahlmann starrte in die Blumenecke und in die Morgensonne, die sie mit hellstem Gold übergoß.

»Das . das wäre wunderschön.«, sagte er leise, weil er einfach keinen Atem mehr für lautes Sprechen hatte. Ihm war die Brust zugedrückt, als läge ein Felsen darüber. »Aber was soll Monika dabei?«

»Das ist die einzige Bedingung . nein, keine Bedingung, das ist meine große und letzte Bitte ... daß Monika mitkommt.«

»Und dieser Jammerjüngling Salzer?«

»Sie wird ihn vergessen. Wenn sie es nicht kann oder will . gut, dann zahlen wir sie aus. Sie kann dann leben nach ihrer Fasson. Aber erst müssen wir sie ja finden.«

Sie sah zu ihm hoch. Sein Gesicht zuckte heftig. Er sprang auf und rannte im Zimmer hin und her. »Es ist zum Kotzen!« sagte er heiser. »Verzeih, Liebling, den Ausdruck, aber es ist so. Erst läuft sie uns weg, jetzt läuft sie diesem Salzer weg ... und du nimmst noch Rücksicht auf sie und machst unser Glück von ihren Launen abhängig.«

Wie schön du das wieder gesagt hast, dachte Luise. Wie glatt und gewandt. Jede Blinde müßte es glauben.

»Sie ist meine Schwester, Ernst.«

»Benimmt sie sich schwesterlich?!«

»Wenn man einen Menschen immer für sein Benehmen bestrafen wollte, wäre Güte ein Wort aus dem Märchen.«

»Aber wenn sie nicht wiederkommt?«

»Sie kann nicht einfach verschwinden, Ernst.«

»Ins Ausland?«

»Ohne Geld?«

»Mit einem reichen Freund.«

»Den sie innerhalb vier Stunden kennenlernt? Nein! Nicht Monika!«

»Legst du dafür die Hand ins Feuer?«

»Ja!«

»Und wenn sie wirklich nicht wieder auftaucht?«

»Dann hat man sie umgebracht!«

»Unsinn! Wer soll sie umbringen? Und warum?«

»Es gibt genug Sexualmörder.«

»Mein Gott, du hast zuviel Kriminalhörspiele gehört. Monika war so selbständig, daß ein Mörder sich fluchtartig entfernt hätte.«

»Dann muß sie wiederkommen.«

»Hoffen wir es«, sagte Dahlmann heiser vor Erregung.

»Zumindest wird sie schreiben, wo sie ist. Monika wird nie für alle Zeiten aus unserem Leben gehen.«

»Und wenn sie erst in einem Jahr schreibt . in zwei Jahren. Soll unser ganzes ferneres Leben davon überschattet sein?« Dahlmann sah eine große Möglichkeit. Auch Luise hatte daran gedacht und hielt eine Antwort bereit. »Sollen wir immer nur warten, warten und älter werden und uns das Leben stehlen lassen von einem kapriziösen

Mädchen?! Luiserl ... laß uns deinen Plan ausführen ... laß uns alles verpachten, verkaufen und wegziehen. Monikas Anteil hinterlegen wir bei einer Bank . sie kann es sich dort abholen, wann sie will. Wir aber leben nur für uns ... wie du sagst, in einem winzigen Paradies, in das wir niemanden hereinlassen und aus dem uns auch niemand vertreiben kann.« Er ergriff ihre Hände, er wurde von seiner Idee selbst mitgerissen. »Sag ja, Luiserl. Sag ja! Und wenn es jemals eine Krise zwischen uns gegeben hat . sie war nur ein böser Traum, weiter nichts -«

Der Satan mit der Engelstimme, dachte Luise. Sie zog die Schultern hoch. Die heiße Berührung seiner Hände erzeugte in ihr versteinernde Kälte. Als er sie küssen wollte, bog sie den Kopf zurück ... so unwillkürlich, als habe sie einen Laut gehört und lausche danach.

»Wir sollten das alles einmal in Ruhe überlegen, Ernst«, sagte sie leise. »Ich bin jetzt so weit, daß ich, wenn Monika in diesem Augenblick zur Tür hereinkommt, gleich den Notar verständigen würde.«

Ernst Dahlmann schloß die Augen. Was er nie für möglich gehalten hätte, warf ihn jetzt fast nieder: Er hatte sich selbst vernichtet. Er hatte dem Strudel, der sich um ihn gebildet hatte, diesem unverständlichen Strudel menschlicher Leidenschaften und Inkonsequenzen, nicht standgehalten, er hatte nicht die Ruhe gehabt, die nötig gewesen wäre, um abwarten zu können, um genau das zu tun, was er sich immer vorgesagt hatte: Laß die Zeit für dich arbeiten. Dann kam dieser Robert Sanden, und er war der Panik erlegen. Robert Sanden, der - wie sich jetzt herausstellte - nur eine Episode war, eine Verirrung, die Luise selbst nicht mehr verstand. Eine Erkenntnis, die zu spät kam. Monika war geopfert worden.

Dahlmann atmete schwer. Seine Selbstanklagen, die gleichzeitig eine Selbstberuhigung sein sollten, stimmten nicht. Monika war durch ihn getötet worden, bevor er etwas von Sanden wußte . seine verhängnisvolle Morphininjektion und das Fernbleiben Luises in der Nacht waren zusammengefallen, es war ein Tag gewesen. Er hatte Monika nicht geopfert . sie war seiner hündischen Angst erlegen.

»Woran denkst du?« fragte Luise. Dahlmann schrak auf.

»An Monika!« sagte er ehrlich.

»Ich auch. Du wirst sehen ... es wird alles gut.«

Dahlmann schwieg. Sein Gesicht war gelbweiß, blutleer und alt. Er war in einer Verfassung, die ihn wünschen ließ, er möge die Augen schließen, umfallen und Monika in die Ewigkeit folgen.

Es war eine seelische Schwäche, die nur Minuten dauerte. Als es klingelte und Fräulein Pleschke hereinkam, war der Anfall von Lebensmüdigkeit wieder vorbei.

»Die Polizei ist da, Herr Dahlmann«, sagte Fräulein Pleschke. »Sie möchte Sie sprechen -«

Kommissar Ludwig Faber war ein gemütlicher, dicker Mann, der gerne aß, noch lieber trank und am liebsten eine Zigarre rauchte. Mit seinem berühmten Berliner Kollegen der zwanziger Jahre, dem Kriminalrat Gennat, hatte er somit Statur, Gewicht und Lieblingsdinge gemeinsam ... nur Kuchen, wie ihn Gennat tellerweise gegessen hatte, mochte er nicht. In Hannover wußte jeder, daß der dicke Faber die Mordkommission leitete; seitdem er aus dem Aasee einmal einen Männerkopf gefischt hatte und wie Hamlet in stiller Betrachtung ihn vor sich hinhielt, war er in Fachkreisen sagenhaft. Sein Humor war schwarz und derb . aber wenn er eine heiße Spur hatte, verlor er allen Witz und hetzte den Täter mit der Konsequenz eines hungrigen Löwen, der einer Gazelle nachjagt.

Auch Ernst Dahlmann und Luise kannten Ludwig Faber aus der Presse. Es kostete Luise ungeheure Anstrengung, die Blinde weiterzuspielen, während Dahlmanns Gesichtsfarbe noch fahler wurde.

»Faber -«, sagte der Dicke und hielt einen Ausweis vor. Dahlmann nickte und winkte zu einem Sessel.

»Bitte, setzen Sie sich. Sie sehen mich einigermaßen erschrocken, daß die Mordkommission zu uns kommt.«

»Mordkommission!« schrie Luise auf und tastete nach Dahlmanns Hilfe. »Was ist mit Monika? Hat man Monika gefunden?!« Sie sprang auf. Ihr Aufschrei war echt. Dahlmann drückte sie in den Sessel zurück.

»Entschuldigen Sie, Herr Kommissar. Ich muß Ihnen erklären. Meine Frau ist blind und.«

»Ich weiß.« Faber verbeugte sich kurz vor Luise. »Ich habe von dem Unglück damals gehört. Zunächst eins: keine Sorgen!«

»Also Sie wissen auch nicht, wo sie ist?« Luise schloß die Augen. Faber und Dahlmann verschwammen wieder vor ihrem Blick, die Augen tränten und brannten.

»Nein.«

»Aber die Mordkommission.« Dahlmann schluckte. »Sie werden verstehen, niemand ist begeistert, von der Mordkommission besucht zu werden.«

»Solange mir die Leichen nicht an der Tür entgegenfallen, bin ich ein höflicher Mensch.« Der dicke Faber setzte sich und holte sich eine seiner Zigarren hervor. »Einmal erlebte ich, daß ich einen Lokus suchte, durch die Wohnung irrte, eine Tür aufriß und in eine Besenkammer blickte. Und in der Besenkammer stand eine mumifizierte Frauensperson.«

»Ihre Erzählungen in allen Ehren, Herr Kommissar, und sie mögen in Fachkreisen sicherlich auch geschätzt werden . sagen Sie uns bitte, warum Sie hier sind?!« Dahlmanns Stimme bebte. »Verstehen Sie, daß wir in einer unerträglichen Erregung sind. Meine Frau ist an der Grenze des Erduldbaren.«

Faber brannte sich erst seine Zigarre an, in aller Ruhe, fast zelebrierend. Dabei beobachtete er Dahlmann durch die kleine tanzende Flamme seines Streichholzes. Er ist nervös, dachte er. Er benimmt sich anders als die Verwandten, aus deren Mitte ein Mensch verschwindet. Er lauert auf irgend etwas, er schmort gewissermaßen im eigenen Saft. Lassen wir ihn weiterschmoren.

»Eine Routinesache«, sagte der dicke Faber gemütlich. »Das Vermißtendezernat hat mich um Amtshilfe gebeten.«

»Das tut man nur bei Mordverdacht!«

»Ein plötzliches Verschwinden schließt diese Möglichkeit nie aus. In den Hotels und Pensionen Hannovers ist Ihre Schwägerin jedenfalls nicht. Das wissen wir.«

»Ich auch. Ich habe ebenfalls nachgeforscht.«

»Kleiner Sherlock Holmes, was?« Faber lächelte breit. Aber hinter dieser Freundlichkeit stand eine erbarmungslose Gefährlichkeit. Dahlmann wußte es. Er bezwang sich, mitzulächeln.

»Ich wollte meine Frau damit beruhigen. Vielleicht wäre es doch möglich gewesen, sie zu finden.«

»Natürlich.« Faber rauchte intensiv. »Ich möchte mich bei Ihnen etwas über die Lebensgewohnheiten Ihrer Schwägerin bzw. Schwester erkundigen. Auch aus einer Charakterisierung der Gesamtperson gewinnt man oft verblüffende Einblicke in Motive. War sie sehr schwierig?«

»Nein, nie«, sagte Luise schnell. Dahlmann wog den Kopf. Faber hob die Augenbrauen.

»Sie sind anderer Ansicht?«

»Sie war das, was man kapriziös nennt. Eine Künstlerin. Zu schnellen Entschlüssen neigend, unkompliziert in allen Dingen des täglichen Lebens, sorglos fast, möchte man sagen. Sie lebte, und das war für sie die Hauptsache. Was um sie herum vorging, kümmerte sie wenig. Sie war immer ein wenig wirklichkeitsfremd, wie man es bei Künstlern oft findet. Ein Musentyp.«

»Sie hätten Psychologie studieren sollen, das liegt Ihnen.« Faber lachte gemütlich. »Nach diesem Charakterbild wäre Monika Horten wohl nicht zu Dummheiten, aber doch zu Unbedachtheiten fähig gewesen.«

»Ja. Durchaus.«

»Du kennst Moni nicht.« Luise beugte sich vor. Faber betrachtete seine Zigarrenspitze. Sie hatte einen schönen weißen Brand. Für sechzig Pfennig kann man das verlangen, dachte Faber. Eine Sechzig-Pfennig-Zigarre ist für einen Beamten schon ein Luxusstengel.

»Wieso kennt Ihr Gatte Monika nicht?«

»Nicht so gut wie ich! Monika ist eine Horten. Sie hat einen durchaus realen Sinn für das Leben. Natürlich ist sie Künstlerin . aber sie hat keinerlei Anlage zur Boheme! Im Gegenteil, wenn man sagen kann, daß ein Künstler nüchtern ist, dann war es Monika.« Sie strich sich über die Haare. »Mein Gott... wir alle sagen immer >war< ... sie ist es noch! Wir tun ja, als ob sie schon abgeschrieben ist -«

»Verzeihung.« Faber schob die Unterlippe vor. »Das sind so dumme grammatikalische Verirrungen, die wir an uns haben. Wenn ein Mensch nicht da ist, ist er für uns weg . sehr klug, was?« Er lachte wieder sein joviales, in Fett eingebettetes Lachen. »Sagen wir also ab jetzt >ist<. Also: Fräulein Horten ist real?!«

»Sehr.«

»Luiserl.« Dahlmann blinzelte Faber zu. »Du hast Moni über ein Jahr lang nicht mehr beobachten können. Sie hat sich gewandelt.«

»Nein.«

»Aber ja. Ich war selbst erstaunt über sie. Denk nur an den plötzlichen Auszug.«

»Was für'n Auszug?« hakte Faber schnell hinterher.

»Meine Schwägerin ist plötzlich, von einer Stunde zur anderen, weggezogen. Sie hatte hier im Hause, oben unter dem Dach, wie es sich gehört für einen Maler, ein Atelier. Das hat sie aufgegeben und ist weggezogen. Nach Soltau, wie Sie wissen.«

»Interessant. Und keine Gründe?«

»Nein!« sagte Dahlmann fest. Auch Luise schwieg. Ob sie jetzt sagte, warum Monika fluchtartig gegangen war, oder ob sie schwieg ... es brachte Faber doch nicht weiter. Sie wußte: Die Lösung des Geheimnisses lag bei Dahlmann, allein bei ihm . und auch ein Ludwig Faber würde ihn nicht zum Sprechen bringen. Das konnte nur sie . sie und das Vermögen der Hortens, um das Dahlmann so erbittert kämpfte.

»Merkwürdig.« Faber sah in den Rauch seiner Zigarre.

»Das haben wir auch gesagt. Und in Soltau lernte sie dann einen

Mann kennen.«

»Ach!« Faber kratzte sich die dicke Nase. »Sie kennen ihn?«

»Natürlich. Er war gestern abend noch hier.«

»Hier?«

»Ja. Auch er suchte Monika. Schließlich war er ja ihr freundschaftlicher Begleiter.«

»Das haben Sie sehr charmant ausgedrückt.« Faber legte seine Zigarre auf den Rand des Aschenbechers. Er witterte etwas. »Wie lange kennt Ihre Schwägerin diesen Herrn?«

»Ein paar Tage -«

»O jejeje! Und dann gleich im siebten Himmel?«

»Es scheint so.«

»Wie heißt der Herr?«

»Julius Salzer. Er ist Schriftsteller.«

»Salzer. Der hat doch erst die Anzeige gemacht und uns alarmiert.«

»Ja.«

»Er rief zusammen mit Dr. Kutscher an.« Faber nahm ein Notizbuch aus der Tasche und beleckte nach alter Sitte die Spitze seines Bleistiftes. »Salzer wohnt auch in Soltau, nicht wahr?«

»Ja. Im >Grünen Krug<. Er ist dort Hausbursche und Kalfaktor für alles.«

»Ich denke Schriftsteller?«

»So nennt er sich. Was er schreibt, muß nach dem, was er erzählt, völlig versponnen sein! Keiner druckt es.«

»Also ein armes Schwein.«

»Eine verhungerte Kirchenmaus.«

»Und Ihre Schwägerin hatte Geld?«

»Sie erwartete es.«

»Das ist ja alles Dummheit, Dummheit!« rief Luise dazwischen. »Salzer ist ein völlig harmloser Junge.«

»Woher willst du das wissen? Du hörst ihn ja nur, Luiserl.« Dahlmann legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. Sie schüttelte sie ab wie ein ekliges Insekt. »Natürlich ist dieser Julius Salzer, der sich Jules Salaire nennt, ein harmloser Bursche.« Aber es klang so, als wollte er sagen: Auch ein Wolf in Schafskleidern bleibt immer noch ein Wolf.. Der dicke Faber erhob sich ächzend. Der Sessel war tief und weich, man versank darin. Faber war nur harte Beamtenstühle gewöhnt, auf denen man in strammer Haltung sitzen mußte, sichtbares Denkmal deutscher Obrigkeit. Aus tiefen Sesseln mußte er sich immer mit einem Klimmzug befreien.

»Das war's also«, sagte er schnaufend, als er stand.

Dahlmann sah ihn verwundert an.

»Mehr wollten Sie nicht wissen?«

»Nein. Warum? Gibt's mehr?«

»Ich wüßte nicht.«

»Also!« Faber nahm seine Zigarre wieder zwischen die Finger. »Was sagte Ihre Schwägerin, als sie von Ihnen wegging?«

»Guten Tag. Und grüß mir Luise. Ich komme am Abend wieder.«

»Und dabei blieb es?«

»Wie Sie sehen -«

»Danke.«

Der dicke Faber verabschiedete sich und ging. Dahlmann kehrte ins Wohnzimmer zurück. Er fand Luise in der Blumenecke. Sie weinte still. Er sah es an den Zuckungen ihrer Schulter.

»Verstehst du das, Luiserl?« fragte er leise.

Sie schwieg. Fräulein Pleschke blickte herein und fragte:

»Kann ich den Kaffee bringen?«

»Ja doch.« Dahlmann wandte sich ungnädig herum. »Das nächste Mal klopfen Sie an.«

Erna Pleschke verzog den Mund. »Er hat mich übrigens auch gefragt.«

»Der Kommissar?«

»Ja.«

»Was denn?«

»War Herr Dahlmann in letzter Zeit verreist.«

Nach Dahlmanns Herz griff eine eiskalte Hand. »Und was haben Sie geantwortet?«

»Was wahr ist. Ich weiß es nicht.«

Dahlmann nickte mehrmals. »Es ist gut, Fräulein Pleschke. Bringen Sie den Kaffee. Und machen Sie ihn schön stark ... wir haben es nötig -«

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