Kapitel 24

Im Krankenzimmer roch es nach Sagrotan und Apfelsinen. Dahlmann saß etwas aufgerichtet und mit drei Kissen im Kreuz im Bett und las in der Zeitung. Er blickte verwundert hoch, als es kurz und militärisch klopfte und der dicke Faber hereinkam. Er war allein, die Stationsschwester hatte Auftrag, nicht eher zu stören, als bis sie herbeigeschellt wurde.

»Guten Tag«, sagte Faber und schob sich einen Stuhl ans Bett. »Was machen die Rippchen? Wußte gar nicht, daß Sie Selbstversorger sind ... wollte eigentlich Sauerkraut mitbringen. Rippchen mit Sauerkraut . delikat.«

Ernst Dahlmann verzog sein Gesicht zu einem müden Lächeln. Er war nicht aufgelegt, dumme Späße über sich ergehen zu lassen.

»Was führt Sie zu mir, Herr Kommissar?« fragte er geradezu. Der dicke Faber räusperte sich kräftig.

»Eine Routinesache, mein Lieber. Ich habe Ihre Aussage noch einmal durchgelesen und finde da eine Lücke.«

»Eine Lücke?« Dahlmanns Augen wurden lauernd. »Wieso?«

»Für eine Nachtfahrt fehlt uns eine Erklärung.«

»Nachtfahrt?«

»Ja. Sie waren in der Nacht vom dreiundzwanzigsten zum vierundzwanzigsten unterwegs. Sie kamen sehr spät - oder früh, wie man's nimmt - zurück. Wo waren Sie da?«

Ernst Dahlmann lächelte verzerrt. »Muß ich das sagen, Herr Kommissar?«

»Besser wär's, ehe wir anfangen, alles durch die Mangel zu drehen.« »Wenn es sich um eine Kavaliersangelegenheit handelt?«

Der dicke Faber betrachtete Dahlmann äußerst verblüfft. Man ist doch dämlich, dachte er dabei. An so etwas hätte ich eher denken müssen! Mal sehen, was dabei herauskommt.

»Vor der Polizei gibt es keine Kavaliere«, sagte er weise. »Nur Verdächtige -«

»Also muß ich?«

»Nur, wenn Sie sich nicht dabei schaden.«

»Nein. Also.« Dahlmann faltete umständlich die Zeitung zusammen. »Ich habe von einem Bekannten, von Dr. Forster, eine einsame Jagdhütte gemietet. Sie wissen, Herr Kommissar, eine solche Hütte, die flotte Ehemänner -« Er schwieg und blinzelte Faber zu. Der Kommissar nickte verständig.

»Weiter.«

»In dieser Hütte hatte ich ein Rendezvous.«

»Sehr schön. Mit wem?«

»Das Mädchen hieß Eva.«

»Sehr sinnig. Und weiter.«

»Weiter nichts.«

»Wieso?«

»Ich kenne den Nachnamen nicht.«

Der dicke Faber drückte das Kinn an den Kragen. »Sie waren mit einem Mädchen Eva in einer Waldhütte und wissen nicht den Nachnamen? Mein lieber Dahlmann, Sie müssen die Polizei nicht für Hornochsen halten.«

»Ich versichere, daß ich den Namen nicht kenne. Ich traf dieses Mädchen Eva am Tage vorher am Bahnhof, ein süßes Püppchen übrigens, wir tranken Kaffee zusammen, und ich lud sie ein zu einer Abendfahrt. Die machten wir dann auch ... und ich habe mich nie darum gedrängt, den Namen zu erfahren, weil es eine einmalige Episode bleiben sollte.«

»Sie sind ein tief moralischer Mensch, ich merke es.« Der dicke Faber kratzte sich die Nase. »Und diese Eva kennt auch Ihren Namen nicht?« »Nein.«

»Sie haben keine neue Verabredung getroffen?«

»Nein.«

»Schade. Diese Eva wäre etwas für das Sittendezernat. Schwamm drüber. Wo liegt die Jagdhütte?«

Dahlmann beschrieb Faber den Weg. Auf den Rand der Zeitung kritzelte er sogar eine kleine Lageskizze, die Faber abriß und in die Tasche steckte.

»Was werden Sie nun tun, Herr Kommissar?« fragte Dahlmann. Er atmete auf. Faber schien ihm die Geschichte mit der mysteriösen Eva abzukaufen.

»Wir sehen uns das Liebesnest mal an.«

»Aber zu meiner Frau kein Wort darüber.«

»Herr Dahlmann!« Der dicke Faber erhob sich ächzend. Krankenhausstühle sind immer unbequem. »Wenn wir Polizisten auch ungehobelte Knochen sind ... diskret sind wir! Auf Wiedersehen.«

»Guten Tag -« Dahlmann ließ sich in die Kissen zurücksinken. An der Tür drehte sich Faber noch einmal um.

»Ich habe ganz vergessen, zu fragen, wie es Ihnen geht.«

»Gesundheitlich ganz gut.«

»Das ist eine Einschränkung.«

Dahlmann hob die Schultern. Faber trat einen Schritt zum Bett zurück.

»Ärger zu Hause?« fragte er. »Mit Ihrer Frau?«

»Sie war seit sechs Tagen nicht mehr im Krankenhaus.« Dahlmanns Gesicht wurde hart und kantig. »Sie hat einen Geliebten . wissen Sie das, Herr Kommissar?«

»Nein. Wen denn?«

»Den Schauspieler Robert Sanden.«

»Sieh an, sieh an . von der Pille zum Kothurn -«

»Lassen Sie bitte die faden Witze, Herr Kommissar. Mir ist das nicht zum Lachen. Ich leide unter diesem Fehltritt meiner Frau -« »Aber sie hat keine Jagdhütte, mein Lieber!« Der dicke Faber lächelte gehässig. Dahlmann schwieg verbissen. »Lassen Sie sich scheiden«,

riet Faber und ging wieder zur Tür. »Es gibt so viele Evas.«

»Danke für den Rat.«

»O bitte. Bei einem Anwalt kostet er dreißig Mark.«

Dann war Dahlmann wieder allein. Die Schwester kam, rückte den Stuhl wieder an die Wand und legte drei rosa Pillen auf den Nachttisch.

»Haben Sie noch einen Wunsch, Herr Dahlmann?« fragte sie freundlich.

»Ja, Schwester. Ruhe! Völlige Ruhe!« Dahlmann sank ins Bett zurück. »Vor allem vor so greulichen Menschen, wie es dieser widerliche Faber ist -«

Jeden Tag, wie er versprochen hatte, sah Robert Sanden nach, wie es Luise Dahlmann ging. Fräulein Pleschke sorgte rührend für sie . es hatte sich nach außen hin ja nichts geändert, das Leben einer Blinden ging weiter wie bisher, mit Radio, mit Schallplatten, mit Tonbändern, mit Vorlesen, mit Blindenschriftüben, mit tastendem Gehen. Nur für Luise war es eine fast unerträgliche Belastung, blind zu sein und zu wissen, daß sie sehen konnte.

Daß sie ihren Mann im Krankenhaus nicht besuchte, fiel nicht auf. Sie schützte Augenschmerzen vor oder Übelkeit; nur wenn sie dann allein war, wurde sie unruhig und litt unter der Untätigkeit, zu der sie verurteilt worden war.

Nach drei Tagen Herumsitzens durchbrach sie zum erstenmal das Verbot Professor Siris. Sie konnte einfach nicht anders, sie war kein Übermensch. Aber sie wählte die Nacht dazu, ließ alle Jalousien herunter und nahm die Augenklappen erst ab, nachdem sie sich überzeugt hatte, daß das Dunkel in der Wohnung fast der Nacht glich, in der sie leben mußte. Der kaum wahrnehmbare Schimmer Licht aber, der durch die Jalousien glitt, genügte, die Gegenstände zu er-kennen und sich sicher zu bewegen.

Sie suchte etwas. Sie wußte nicht, was es sein sollte, aber sie hatte den unbändigen Drang, systematisch alles durchzuwühlen . jede Schublade, jeden Winkel der Wohnung.

Bei dieser Suche stieß sie am fünften Tag auf ein Anzugknäuel. Es war der blutverschmierte Anzug Dahlmanns, den er bei dem Unfall getragen hatte. Das Krankenhaus hatte ihn in die Wohnung bringen lassen, nachdem die Polizei ihn freigegeben hatte. In dem Anzug waren alle Wertsachen, die Dahlmann an diesem Tage bei sich getragen hatte . die Schlüssel, eine Zigarettendose, ein Feuerzeug, ein silberner Kugelschreiber, Taschentücher, die Führerscheintasche und seine Brieftasche.

Luise Dahlmann trug die Brieftasche aus der Besenkammer, in die das Hausmädchen den Anzug gelegt hatte, um ihn später zur Reinigung zu geben, hinüber ins Wohnzimmer.

Sie setzte sich ans Fenster und hielt die Krokoledertasche gegen den schwachen Lichtschimmer, der durch die Jalousien fiel. Aber er war so schwach, daß sie nur die Umrisse erkennen konnte ... die Briefe und Zettel, die in ihr lagen, waren unkenntlich, sie knisterten nur zwischen ihren Fingern.

Noch nie hatte Luise Dahlmann die Brieftasche ihres Mannes in der Hand gehabt. Es war ihr bisher nie der Gedanke gekommen, dort zu kontrollieren, wo ein Mann seine Geheimnisse aufzubewahren pflegt. In den Jahren ihrer glücklichen Ehe hätte sie das als einen unverzeihlichen Vertrauensbruch angesehen . so etwas tut man einfach nicht, hatte sie einmal im Freundinnenkreis gesagt, als die Rede darauf kam, daß man die Männer heimlich kontrollieren sollte. Vertrauen ist das Fundament einer Ehe ... ja, Vertrauen ist fast noch wichtiger als Liebe.

Später dann hatte sie keine Gelegenheit mehr gehabt, an Dahlmanns Brieftasche heranzukommen. Zweimal hatte sie es in der Nacht versucht . aber der Rock war leer, und Zeit zu suchen, wo er die Brieftasche hingelegt hatte, bekam sie nicht durch die Angst, er könne plötzlich erwachen und erkennen, daß sie sehen konnte.

Nun hielt sie die Brieftasche in der Hand, und sie war verurteilt, den Inhalt nicht im Hellen sehen zu können.

Luise zögerte lange. Sie starrte gegen das Fenster und die das Licht abschließende Jalousie.

Nur ein paar Sekunden, dachte sie. Ein kleiner Ruck, ein Spalt Licht, ein schnelles Durchblättern der Papiere . und dann wieder Dunkelheit. Diese wenigen Sekunden konnten keine Komplikationen auslösen, sie würden die Sehnerven nicht belasten . sie durften es einfach nicht.

Aber dann hörte sie die Worte Professor Siris und Dr. Savianos wieder. »Jeder Lichtstrahl kann uns um Wochen zurückwerfen! Seien Sie stark . stark . stark.«

Luise umklammerte die Brieftasche. Wie kann ich stark sein, dachte sie. Wie kann ich jetzt noch stark sein?! Jeder muß begreifen, daß ich jetzt Licht brauche. Jeder wird es mir verzeihen. Jeder wird doch einsehen, daß es unmöglich ist, die Brieftasche ungelesen wieder zurückzulegen.

Sie saß über eine Stunde vor dem Fenster, die Brieftasche in der Hand, und rang mit sich. Sie rief ihre Vernunft an und verlor den Ruf an den drängenden Gedanken: Hier wirst du Beweise finden. Wenn es einen Ort gibt, wo du etwas entdecken kannst, dann ist es diese Brieftasche! Du mußt sie ansehen, du mußt Licht machen, du mußt auf alle Gefahren hin, die daraus erwachsen, sehen können, lesen können. Und wenn es das Opfer deiner Augen ist . jetzt, jetzt kannst du nicht anders handeln.!

Sie legte die Brieftasche geöffnet auf die Fensterbank und ergriff die Jalousiegurte. Noch einmal zögerte sie, griff nach der schwarzen Brille, setzte sie auf und sah, daß es wieder tiefe Nacht war. Da riß sie die Brille herunter, krallte die Finger in den Gurt und zog.

Die Jalousie rollte sich knirschend hoch. Ein Spalt verbreiterte sich, Licht fiel auf die Fensterbank ... Luise blinzelte - so gedämpft das Abendlicht auch war, es blendete unerträglich, sie spürte einen stechenden Schmerz bis in die Haarwurzeln, quer durch das Gehirn ... dann sah sie, las sie, erkannte sie die Papiere, als würden sie von einem grellen Scheinwerfer angestrahlt.

Ein paar Briefe von pharmazeutischen Fabriken . eine Geldanweisung aus Südamerika ... drei Bankauszüge mit zusammen 61.796,43 Mark. Dahlmann hatte die Summe ausgerechnet und auf einen Auszug geschrieben . und dann die Blankoschecks . ohne Datum . Barschecks, mit der Unterschrift Luise Dahlmann.

Luise erkannte, daß es keine Fälschung war. Es waren alte Schecks, die sie unterschrieben hatte, als sie noch voller Vertrauen und mit der hingebenden Liebe der Blinden an ihrem Mann hing. Schecks, die Dahlmann bis jetzt mit sich herumgetragen hatte, ohne sie zu benutzen. Schecks, und das begriff Luise sofort, die Dahlmann ein neues Leben öffnen würden, wenn er sie mit der nötigen Summe einlöste. Mit über 61.000 Mark. Was sie jetzt in der Hand hielt, war das Ziel Ernst Dahlmanns - sie wußte es, ohne nachzudenken. Ein Ziel, das der Unfall nur verschoben hatte.

Luise nahm die Schecks an sich, klappte die Brieftasche zu und ließ die Jalousie herunterfallen. Dann lehnte sie sich zurück, schloß die Augen und faltete die Hände.

Verzeih mir, mein Gott, dachte sie plötzlich. Ich habe dich herausgefordert . aber es war keine Sünde, es mußte sein. In diesen wenigen Sekunden ist Ernst Dahlmann vernichtet worden -

Sie trug die Brieftasche zurück in die Kammer, steckte sie wieder in den Rock und faltete die Blankoschecks zu einem kleinen Häufchen zusammen. Dann suchte sie weiter im Schlafzimmer . aber dieses Mal war es kein planloses Herumtasten, sondern die Suche ging nach einem bestimmten Gegenstand, von dem sie geglaubt hatte, ihn nie gebrauchen zu können.

Der alte Apotheker Horten hatte einmal seinen Töchtern ein altmodisches Ding geschenkt, als sie so groß waren, daß sie mit der Schule Ausflüge und kleine Reisen unternahmen. Damals hatten Luise und Monika dankend das Geschenk angenommen, sich heimlich angesehen und gedacht, daß der Vater doch schon in einer Welt lebte, die mit der modernen nichts mehr gemeinsam hatte. Dann hatten sie das Geschenk weggelegt, aber nie weggeworfen, weil es eine Erinnerung an den Vater war. Nun kam das Geschenk endlich zu Ehren, allerdings anders, als es sich der alte Horten gedacht hatte.

Es war ein kleiner, lederner Brustbeutel mit einer gedrehten Kordel. Damals sollten die Hortentöchter darin ihr Taschengeld aufbewahren. »Ein Portemonnaie verliert man oft . aber was einem um den Hals hängt, kann man nicht vergessen.« Das hatte der alte Horten gesagt - nun sollte der nie gebrauchte Brustbeutel zum sichersten Versteck für Luise werden.

In einem Kasten mit Jugenderinnerungen fand sie endlich die lederne, kleine Mappe. Sie steckte die zusammengefalteten Schecks hinein, legte die Kordel um den Hals und verbarg den Beutel auf ihrer Brust.

Ein Gefühl des Triumphes durchrann sie . aber gleichzeitig auch eine bedrückende Traurigkeit. Alles, was sie an Illusionen von Liebe, Ehe, Treue, Glück, Zukunft und Erfüllung gehabt hatte, war gestorben. Übrig blieb eine nackte Welt, grausam und gnadenlos, die auch die Gegenwart Robert Sandens noch nicht wieder mit Liebe und Geborgenheit ausfüllen konnte. Der Fall aus dem Himmel der Ideale in die Hölle der Wirklichkeit war so tief, daß Luise Dahlmann sich wie ausgeleert vorkam, wie eine Hülle, die ein Nichts umschloß. Alles, was einmal der Sinn ihres Lebens gewesen war, gab es nicht mehr, und sie war in diesem Stadium ihres Lebens noch zu schwach, einen neuen Zweck des Daseins zu suchen oder zu erkennen. Nur die Enttäuschung war da, riesengroß, allmächtig, und der Haß war da, ebenso gewaltig . aber es waren zwei Dinge, die ein Leben zwar zerstören, aber nicht wiederaufbauen können.

In dieser Nacht schlief sie nicht. Sie lag im Bett, umklammerte den Brustbeutel und hatte den Wunsch, jetzt sterben zu können. Einschlafen . und nicht mehr aufwachen . wie herrlich mußte das sein. Und man würde Ruhe haben . endlich Ruhe . köstliche Ruhe vor den Menschen -

Als um halb acht Uhr morgens Fräulein Pleschke kam, hatte Luise nicht eine Stunde geschlafen. Aber sie war sich einer Erkennt-nis sicher geworden: Sie hielt die nervliche Belastung des grausamen Spieles nicht länger mehr aus -

Das Verhör durch den dicken Faber hatte Dahlmann mit neuer Energie geladen. Er wußte, daß die Kriminalpolizei jetzt die Jagdhütte Meter um Meter untersuchen würde, aber er war sich sicher, daß er keinerlei Spuren hinterlassen hatte. Nicht einmal Fingerabdrücke ... er hatte alles am Bett, was mit Monika in Berührung gekommen war, mit einem nassen Tuch abgewischt. Sie würden nichts finden, aber ebenso sicher war es, daß er in den Kreis der Verdächtigen einbezogen war. Die Zeit war also kostbar . er mußte ihr entgegenlaufen, um nicht von ihr überrollt zu werden.

In der Nacht nach dem Besuch des dicken Faber im Krankenhaus erlebte die Nachtschwester einen kleinen Schock.

Bei der Kontrolle der Zimmer fand sie das Bett des Herrn Dahlmann leer. Statt seines Kopfes, der um diese Zeit Schnarchlaute von sich geben mußte, lag ein Zettel auf dem Kissen, dessen Text durchaus nicht zur Beruhigung der Nachtschwester beitrug:

»Liebe Schwester Innozenzia,

keine Sorge, ich bin nicht weg, ich mache nur einen kleinen Ausflug und bin am Morgen wieder da. Bitte, schlagen Sie keinen Lärm ... mir geschieht nichts.

Ihr Dahlmann.«

Schwester Innozenzia nahm den Zettel und rannte mit fliegenden Kleidern und wehender Haube zum Zimmer des diensttuenden Arztes. In dieser Nacht hatte ein junger Stationsarzt Dienst, der ungehalten über die Klopferei an der Tür lange brauchte, bis er endlich durch einen Türspalt hinaus auf den Flur spähte. Weiter konnte er die Tür nicht öffnen, denn er war nicht allein. Die Schwesternhelferin Marianne brachte ihn menschenfreundlich über die langen Nachtstunden.

Der junge Arzt nahm den Zettel, las ihn, lachte und gab ihn an die entsetzte Schwester Innozenzia zurück.

»Seien Sie ruhig, Schwester«, sagte er voll Verständnis. »Der Dahlmann ist einen saufen gegangen. Kein Grund zur Aufregung -«

»Aber mit seinen Rippenbrüchen -«

»Er hat Bandagen um, und wer weiß, wie Durst schmerzen kann.« Der junge Arzt grinste. »Schwester Innozenzia . je weniger Sie darüber sprechen, um so besser! Sie haben einfach nichts gesehen. Gute Nacht.«

Er schloß die Tür, reckte sich, gähnte und setzte die vergnügliche Nachtwache mit Marianne fort. Schwester Innozenzia aber gehorchte dem Rat der Vernunft, zerriß den Zettel Dahlmanns, spülte ihn im Klo weg und nahm sich vor, wirklich nichts gesehen zu haben.

Sauflöcher, diese Männer, dachte sie bloß. Selbst gebrochene Rippen halten sie nicht von der Theke ab -

Um diese Zeit befand sich Ernst Dahlmann bereits in seinem Haus. Nachdem er aus seinem Parterrefenster geklettert und durch den Krankenhausgarten geschlichen war, hatte er ein Taxi genommen und sich geradewegs zur Mohren-Apotheke fahren lassen. Der Taxifahrer, an vieles gewöhnt, übersah, daß sein Fahrgast im Schlafanzug und mit einem Bademantel darüber eingestiegen war . es gab so viele Situationen, die es erforderten, in ausgefallenen Bekleidungen ein Taxi zu nehmen. Auch daß er vor dem Haus warten sollte, verwunderte ihn nicht; ein alter Taxifahrer ist ein Lexikon an Lebenserfahrung.

Ernst Dahlmann stand vor der Wohnungstür und lauschte. Das Problem, ohne Schlüssel in die Wohnung zu kommen, gab es für ihn nicht. Im Labor hing in einem Schlüsselkasten für alle Schlösser der Reserveschlüssel, säuberlich beschriftet, wie es eine mustergültige Ordnung erfordert. Der Hofeingang war immer unverschlossen ... vom Hof ging man in einen Zwischenflur, von dem Apotheke und Wohnhaus getrennt wurden.

Dahlmann wartete im Hof und sah durch die Fenster in den Waschraum der Apotheke. Der Provisor vom Nachtdienst war im Laden und bediente einen Kunden . es war die beste Gelegenheit, durch den Flur ins Labor zu huschen, den Schlüssel für die Dielentür wegzunehmen und über den Stichflur ins Wohnhaus zu rennen.

Nun stand Dahlmann vor der Wohnungstür und schloß ganz langsam und leise auf. Er zog hinter sich die Tür wieder zu, horchte am Zimmer des Hausmädchens, hörte sie tief im Schlaf atmen, schlich weiter zum Schlafzimmer und zog vorsichtig die Tür auf.

Auch Luise schlief fest, auf die Seite gedreht. Ihr Atem war regelmäßig und ruhig. Leise öffnete Dahlmann den Schrank, nahm einen Anzug heraus, Unterwäsche, ein Oberhemd, Krawatte, Strümpfe und Schuhe, ging ins Bad und packte sein Rasierzeug zusammen, trug das Bündel hinaus in die Diele und legte es auf einen Stuhl. Dann begann auch er zu suchen, aber planmäßig, nach kurzer Überlegungspause.

Wo hebt man einen Anzug auf, den man zur Reinigung bringen will, dachte er. Und wenn er schon weggebracht ist . wo legt man den Tascheninhalt hin?

Nach dreimaligem vergeblichem Nachsehen im Bad, im Schlafzimmer und in der Küche fand er in der Besenkammer seinen blutverschmierten Anzug. Er ließ alles in den Taschen, nur die Brieftasche steckte er in den Bademantel. Dann rannte er zurück zu seinem Kleiderhaufen, packte ihn unter den Arm, verließ die Wohnung, schloß wieder ab und ging zum wartenden Taxi zurück. Der Fahrer krauste zwar die Stirn, aber er fragte nicht. Verrückte gibt's überall, dachte er. Der da kommt aus dem Krankenhaus und holt in der Nacht seine Klamotten . was geht's mich an?! Diese Ansicht vertrat er besonders, als Dahlmann ihm vor dem Krankenhaus aus der Brieftasche einen Zwanzigmarkschein in die Hand drückte und dazu sagte: »Ist gut so ... aber Mund halten, Kumpel!«

Da dies alles schnell ging, bemerkte Dahlmann nicht das Fehlen der Schecks in der Brieftasche. Außerdem lagen die Geldscheine in einem Nebenfach.

Durch den Garten schlich er wieder zurück zu seinem Zimmerfenster, warf die Kleider in das Zimmer und kletterte ächzend und mit starken Schmerzen in der Brust hinterher. Dann saß er eine Zeitlang keuchend auf dem Bett und unterdrückte einen in der Brust bohrenden Husten.

Gewonnen, dachte er bloß. Ich habe das Rennen gewonnen. Morgen spaziere ich aus dem Krankenhaus, gehe zur Bank, löse die Schecks ein und fahre mit dem nächsten Zug nach Basel. Ehe sie merken, was geschehen ist, bin ich über die Grenze. Mit sechzigtausend Mark! Ein freier Mann!

Er war so froh bei dem Gedanken, daß er leise vor sich hin pfiff, die Kleidung in den schmalen weißen Schrank räumte und sich zufrieden ins Bett legte.

Bei der zweiten Nachtrunde fand Schwester Innozenzia ihren verlorengegangenen Patienten Dahlmann wieder im Bett vor. Er schlief fest und selig lächelnd.

»Saufloch!« sagte Schwester Innozenzia und verließ wütend und doch erleichtert das Zimmer.

Dahlmann aber träumte vom Süden, von Palmen und blauem Meer, von weißen Segeln und hübschen, langbeinigen Mädchen. Und sie alle hatten das Gesicht von Monika . aber das störte seinen Traum nicht ... er war viel zu glücklich -

Am nächsten Morgen, gleich nach der Visite, zog er sich an.

Das neue Leben konnte beginnen.

Es fiel nicht auf, daß er das Krankenhaus verließ. Die Stationsschwester machte mit der Schwesternhelferin in einem anderen Zimmer die Betten, die Pfortenschwester ließ ihn passieren, ohne ihn überhaupt anzusehen ... er war für sie ein früher Besucher, wahrscheinlich von der Entbindungsstation. In der Nacht waren sechs Kinder geboren worden.

Vor dem Krankenhaus nahm Dahlmann wieder ein Taxi und ließ sich zur Bank fahren. Er war in fröhlicher Stimmung, lehnte sich weit in die Polster zurück und fühlte sich so losgelöst und glücklich wie selten in seinem Leben. Auch wenn er nur einen Teil dessen erreicht hatte, was sich ihm geboten hätte, wenn die widrigen Verwicklungen nicht dazwischengekommen wären, hatte er doch das

Empfinden, endlich ein freier Mensch zu sein.

Was beginnt man mit sechzigtausend Mark, dachte er, als das Taxi aus der stillen Vorstadt, in der das Krankenhaus lag, hinein in den lärmenden Vormittagsverkehr Hannovers glitt. Zunächst wird man sich ausruhen von den Strapazen, liebender Ehemann einer Blinden zu sein und anders zu sprechen, als man handelt.

Ausspannen und nichts tun. Einen Monat lang. Vielleicht auf Ischia oder Mallorca, faul am Strand liegen, mit den Fingern im heißen Sand spielen, die Füße in den leise plätschernden Wellen, neben sich eine schicke Puppe, die die langen Abendstunden versüßt ... es war das Leben eines stillen Genießers, das dolce far niente des Südens.

Dann aber hieß es, klüger als klug zu sein. Sechzigtausend Mark klingen viel . in Wahrheit sind sie eine lächerliche Summe, wenn man mit ihr ein neues Leben aufbauen will. Man muß sie so anlegen, daß sie ein Fundament bilden, auf dem das neue Haus entsteht.

Ernst Dahlmann hatte in den letzten Monaten viel darüber nachgedacht und Pläne entwickelt und wieder verworfen. Alle Überlegungen endeten schließlich wieder bei der gutbürgerlichen Feststellung, daß Dahlmann ein Apotheker war und es auch bleiben würde. Pharmazie hatte er studiert ... darüber hinaus war er in Wirklichkeit ein hilfloser und unpraktischer Mensch, der keinen inneren Elan besaß, mit einer Handvoll Geld berufsfremde Dinge anzufassen, zu spekulieren, sich hochzuboxen, sein brachliegendes Leben zu kolonisieren, ein Pionier in einem Neuland zu sein. Das lag ihm nicht . er suchte keinen Kampf, er sehnte sich nach Ruhe und Sicherheit. Er war im Grunde seines Herzens ein bequemer Mensch, auch wenn er nach außen hin eine vitale Fassade vorwies und den Eindruck eines Strebenden erweckte. Seine große Sehnsucht war Unabhängigkeit und gesicherte Ruhe, ein Leben ohne Sorgen und Mühen, ein Müßiggehen in bescheidenem Rahmen, ein Beobachten von Mensch und Umwelt aus dem gemütlichen Winkel eines Pensionärs heraus.

Was sind da sechzigtausend Mark?

Ernst Dahlmann hatte keine andere Wahl erkannt . irgendwo auf der Welt, wo man sicher war, vielleicht in Südamerika, konnte er sich an einer Apotheke oder Drogerie beteiligen, vielleicht auch an einer Art Drugstore, wie die Amerikaner ihn kennen, ein kleines Kaufhaus in einer kleinen Stadt, ein Allroundgeschäft mit drei hübschen Verkäuferinnen und einem Kassierer. Am Abend würde man dann die Tageskasse zählen, einen Whisky trinken, vor dem Fernsehgerät sitzen und sich mit seiner Geliebten unterhalten.

Das war der einzige Luxus, den sich Dahlmann gönnen wollte. Ein Leben ohne Frauen schien ihm völlig unlebenswert. Frauen betrachtete er als eine unbedingte Notwendigkeit wie Essen und Trinken. Es war undenkbar, daß ein Mensch wie Ernst Dahlmann seine Tage ohne ein weibliches Wesen verbringen konnte. Das schien ihm die Krönung allen Lebens zu sein, der Gipfel des Erreichbaren, was das Dasein bieten konnte. Eine Frau, die in seinen Armen willenlos wurde. Ein Rausch, der ihm das Herz fast zerriß.

»Wir sind da, mein Herr.«

Dahlmann schreckte hoch. Das Taxi hielt vor dem Portal der Bank, der Fahrer kurbelte am Fahrpreiszähler.

»Fünf Mark fünfundsiebzig«, sagte er.

Dahlmann gab ihm sieben Mark und stieg aus.

Jeder Schritt ist jetzt Freiheit, dachte er beglückt.

Die fünf Stufen hinauf zur Schalterhalle, ein wenig warten, die fünf Stufen hinunter wieder auf die Straße ... dann war es geschafft. Adieu, du mieses Leben als Schatten einer reichen Frau. Adieu, ihr zweiundvierzig Jahre, in denen ich nie richtig glücklich war, sondern immer nur ein Mensch voller Komplexe und Minderwertigkeitsgefühle. Adieu, ihr Erinnerungen . ich will sie aus dem Gedächtnis streichen, ich will ein reines Hirn haben, bereit, die neuen Eindrücke des Lebens zu speichern.

In der Schalterhalle herrschte an diesem Morgen wenig Publikumsverkehr. Dahlmann setzte sich an einen der kleinen Tische mit den Formularkästen, nahm seinen silbernen Kugelschreiber aus der

Innentasche des Jacketts, klappte die Brieftasche auf und empfand einen unbeschreiblichen Vorgenuß bei dem Gedanken, gleich schreiben zu können: 60.000 DM, in Worten: Sechzigtausend Deutsche Mark. Empfänger: Ernst Dahlmann, Hannover.

Dahlmann stutzte. Die wenigen Schreiben und Kontoauszüge waren noch in der Brieftasche, aber die Schecks fehlten.

Er schüttelte den Kopf, blätterte die Auszüge durch, sah in den Seitenfächern der Brieftasche nach . nichts.

Über das Gesicht Dahlmanns rann plötzlich kalter Schweiß. Er fühlte ihn, aber er war zu gelähmt, um ihn abzuwischen. Noch einmal durchsuchte er mit zitternden Fingern die Brieftasche, obwohl er wußte, daß das Ergebnis nicht anders sein konnte.

Die Blankoschecks waren nicht mehr da. Sein neues Leben, aus einem einzigen, kleinen Formular in der Größe von DIN A 6 bestehend, war verschwunden. Mallorca gab es nicht mehr, kein Südamerika, keinen Drugstore, keine Geliebte.

Der Zusammenbruch war so plötzlich und elementar, daß Dahlmann steif und bleich vor seinem Tischchen sitzen blieb, unmöglich, sich bewegen zu können, aufzustehen und zu gehen.

Wie ist das möglich? dachte er immer nur. Wie ist das überhaupt möglich?

Es gab nur eine Erklärung dafür . die Polizei hatte bei der Durchsicht seiner Brieftasche zur Feststellung, wer der Verunglückte war, die Schecks verloren. Vielleicht schon auf der Straße, als man ihn bewußtlos hinter dem Steuerrad aus dem Wagen zog, auf den Asphalt legte und auf den Krankenwagen wartete.

Ich muß etwas tun, sagte er sich. Ich muß sofort etwas tun. Luise muß einen neuen Scheck ausschreiben ... unter irgendeinem Vorwand muß ich sie dazu bewegen. Bezahlung von Lieferantenrechnungen, Wechseleinlösungen, Rechnungen der Baufirmen, die den großen Neubau so weit fertig hatten, daß die Innenarbeiten beginnen konnten. Irgendein Vorwand wird mir noch einfallen.

Zunächst ließ er sich bei dem Direktor der Bank melden. Wie Blei schleppte er die Füße über den Marmorboden, als man ihn ins Chefbüro bat. Dann aber riß er sich zusammen . das Hervorstechendste seines Wesens, sein sichtbares Kapital half ihm wieder - die Blendung, die schon artistische Gabe, Sicherheit und Unbekümmertheit um sich zu verbreiten.

»Guten Morgen, lieber Herr Direktor -«, sagte er forsch. Obwohl er noch ein wenig blaß war, überspielte er den soeben erst erhaltenen Schock mit lauter Burschikosität. »Keine Angst, ich will Ihre Bank nicht plündern . ich möchte nur einen Scheckverlust anmelden. Einen, nein, zwei Blankoschecks. Ich habe sie anscheinend verloren.«

Der Direktor bot Dahlmann Platz an, schob eine Zigarrenkiste über den großen Schreibtisch. Dahlmann winkte ab.

»Betrachten Sie es nicht als Unhöflichkeit, Herr Direktor, aber ich bin in Eile. Leider kenne ich die Schecknummern nicht mehr, es waren ältere Schecks. Ich möchte Sie nur bitten, die Kasse anzuweisen, keinerlei Schecks einzulösen oder zu girieren, die ich nicht persönlich überbringe. Alle vorgelegten Schecks bitte ich zurückzuhalten und mich anzurufen, damit ich in der Ausgangsliste nachsehen kann, ob die Zahlung in Ordnung geht.«

»Selbstverständlich, Herr Dahlmann. Ich gebe es der Kasse gleich durch.« Der Direktor griff zum Telefon, aber bevor er abhob, sah er Dahlmann ein wenig verwundert an. »Übrigens ist das ja gar nicht nötig.«

Dahlmann spürte ein warnendes Zucken in der Brust.

»Wieso?«

»Die Horten-Dahlmann-Konten sind seit gestern sowieso gesperrt -«

Dahlmann war es, als übergösse man ihn mit eiskaltem Wasser. Haltung, sagte er sich. Nun heißt es, Haltung zu haben.

Er lächelte süßlich und etwas verzerrt. »Dann hat meine Frau schon schneller gehandelt als ich. Ich habe die Schecks gestern abend vermißt . wir haben dann nicht mehr darüber gesprochen. Meine Frau ist eben eine hundertprozentige Unternehmerin -«

Der Bankdirektor rückte an seiner Goldbrille. »Dr. Kutscher hat die Sperrung im Namen Ihrer Gattin durchgegeben.«

»Ja, natürlich.« Dahlmann atmete tief durch. Haltung, rief er sich zu. Haltung! »Dr. Kutscher hat einen Teil der Verwaltung übernommen. Ich bin durch Forschungsaufgaben völlig überlastet.« Er fand einen Teil seiner äußeren Sicherheit wieder. Er lachte sogar. »Na, dann erübrigt sich ja meine Sorge wegen der verlorenen Schecks.« Er verbeugte sich leicht. »Eine Empfehlung an die Frau Gemahlin -und guten Morgen, Herr Direktor -«

Dann stand Dahlmann wieder auf der Straße ... die fünf Stufen hinaus aus der Schalterhalle waren keine Stufen zu einem neuen Leben geworden. Ein wenig verwirrt starrte er auf den Straßenverkehr, zündete sich eine Zigarette an und versuchte, Klarheit in sein durcheinandergekommenes Innere zu bringen.

Er wollte sich nicht eingestehen, daß er das Rennen verloren hatte. Es ist nur eine Verzögerung, dachte er. Aber sie darf nicht länger dauern als einen Tag. Der dicke Faber ist gefährlich. Auch wenn er in der Jagdhütte nichts gefunden hat, ich bin ihm jetzt verdächtig. Monika wird man zwar nie finden, denn wer kommt schon auf den Gedanken, daß das Moor der beste Ort ist, eine Leiche lautlos und für immer verschwinden zu lassen? Aber das Leben ist oft unlogisch, es wäre völlig falsch, sich zu sicher zu fühlen.

Einen Tag noch! Das ist die höchste Frist. Und so kurz ein Tag sonst ist . dieser Tag wird lang werden . muß lang werden.

Er winkte ein Taxi heran und stieg ein.

»Ewaldstraße 17.«

Ist das nicht ein Witz, dachte er. Mein Leben hängt an einer kleinen Unterschrift -

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