Kapitel 4

Drei Monate blieb Luise Dahlmann in der Klinik von Professor Bohne. Drei Monate lang tat er nichts an den Augen, sondern schaltete einen Gesichtschirurgen ein, der die zerstörte Haut abtrug und neue Haut aus der Innenseite des Oberschenkels in großen gestielten Hautlappen überpflanzte.

»Die Augen haben Zeit«, sagte Professor Bohne, als Dahlmann sich über diese Behandlung wunderte. »Wir wissen jetzt, daß das Auge funktionsfähig ist, das heißt, daß Sehnerv, Pupille, Regenbogenhaut, kurzum das Auge, erhalten geblieben sind. Verätzt sind beide Hornhäute ... und wir werden zunächst im linken Auge eine neue Hornhaut transplantieren, da mir am linken Auge dazu die besseren Voraussetzungen gegeben scheinen. Dann wird Ihre Gattin wieder sehen können ... und was ist ihr erster Eindruck im Spiegel: Eine Fratze! Ihr eigenes Gesicht - eine Fratze. Glauben Sie, daß sie das glücklich macht?! Man muß auch die psychologische Seite berücksichtigen ... und deshalb bringen wir erst das Gesicht in Ordnung ... und dann das Auge.«

Ernst Dahlmann sah den Chirurgen kritisch an. »Sie haben ein ungeheures Selbstvertrauen, Herr Professor«, sagte er mit deutlichem

Sarkasmus. »Sie betrachten die Operation schon als gelungen, bevor sie begonnen hat -«

»Allerdings.« Professor Dr. Bohne putzte seine Brille. Dieser Ernst Dahlmann war ihm zuwider, er wußte nicht, warum, aber er empfand eine deutliche Antipathie. Er ist zu glatt, dachte er. Zu selbstsicher. Zu wenig mitgenommen von der Blindheit seiner Frau. Es ist, als ob er einen blinden Hund herumführt und an den Baum stellt. Komm, nun mach schon ... ja, das ist dein Baum ... riechst du ihn nicht.?

»Sie wird wieder sehen«, sagte Professor Bohne laut.

»Gott möge Ihnen helfen -«

Gott, dachte Professor Bohne. Es klingt merkwürdig, wenn dieser Dahlmann das sagt. Es klingt, als wünsche er, auch Gott sei blind.

An einem Dezembermorgen fand die Operation statt. Was hundertmal geübt war, was hundertmal erfolgreich gewesen war, geschah auch mit Luise Dahlmann. Über eine Stunde operierte Professor Bohne zusammen mit seinem Assistenten Dr. Neuhaus . dann wurden die Augen wieder verbunden, ein lichtundurchlässiger Verband, der einige Tage bleiben mußte.

In diesen Tagen der schwelenden Hoffnung wechselten sich Dahlmann, Monika und Dr. Ronnefeld am Bett Luises ab. Ihr Gesicht war wieder glatt, die neue Haut war gut eingewachsen. Die Narben und Schnittflächen sollten in einem kommenden Operationsgang entfernt werden. Sie störten noch, aber sie entstellten nicht mehr das Gesicht.

Es war ein lichter, kalter Nachmittag, ein glänzender Schneetag, an dem die Sonne über den Schnee flimmerte und ihn bläulich leuchten ließ, als Professor Dr. Bohne anordnete, die Binden von den Augen zu lösen. Er holte zu diesem wichtigsten und schönsten Moment im Leben eines Blinden Luise in sein Büro, verdunkelte es durch dicke Portieren und führte Luise an der Hand zu dem ledernen Stuhl, der mitten im Zimmer stand. Im Hintergrund warteten still, atemlos Dr. Ronnefeld, Monika und Ernst Dahlmann. Dr. Neuhaus, der Assistenzarzt, wickelte die Binden ab . einen Augenblick zögerte er, als er die Zellstoffschicht entfernte, die letzte Barriere vor den Augen Luises.

Sie hatte die Lider geschlossen, als Dr. Neuhaus die Zellstofflage abnahm. Professor Bohne sah sich um. Dann ging er selbst zur Gardine, schob sie einen Spalt auf, nicht viel, nur so viel, daß das Licht ins Zimmer fiel und in ein Halbdunkel tauchte.

»Bitte - öffnen Sie die Augen«, sagte Professor Bohne mit ruhiger, gütiger Stimme.

Luises Kopf begann zu zittern. »Ich habe Angst.«, sagte sie leise. »Ich habe plötzlich solche Angst.«

»Öffnen Sie die Lider ganz langsam und drehen Sie den Kopf nach rechts. Ja, so ist es gut. Und nun sehen Sie mich an.«

Professor Bohne trat vor Luise. Er hob drei Finger seiner rechten Hand hoch und hielt sie vor ihre Augen. Monika umklammerte Dahlmanns Arm. Jetzt . jetzt wird sie sehen. Auch Dr. Ronnefeld hielt den Atem an . es ist ein seltener Anblick, wenn ein Blinder aufschreit und seine Welt wiedererkennt.

Langsam öffnete Luise die Augen. Das rechte Auge war noch trüb, das linke hatte etwas Leben, Farbe und Glanz.

»Was sehen Sie?« fragte Professor Bohne ruhig.

»Dunkelheit -«

Es war wie ein Stöhnen. Mit einem fast wilden Satz sprang Professor Bohne zum Fenster, riß die schweren Portieren zur Seite und ließ das volle Sonnenlicht ins Zimmer fluten. Wieder hielt er seine drei Finger vor Luises Augen, ganz nahe, so nahe, daß sie fast ihre Nase berührten.

»Was sehen Sie -«, fragte er wieder. Aber dieses Mal war seine Stimme rauh und irgendwie brüchig.

Luise hob den Kopf und starrte mit weitaufgerissenen Augen in das grelle Licht.

»Ich sehe nichts als einen grauen Schatten.«, sagte sie schluchzend. »Wie dichter Nebel ist es . überall Nebel. Aber es ist keine Nacht mehr . es ist grau . hellgrau . wie eine Milchglasscheibe . hellgrau.«

In dem sonnendurchfluteten Zimmer war es geisterhaft still. Professor Dr. Bohne hielt noch immer seine drei gespreizten Finger vor Luise Dahlmanns Augen. Er bewegte sie hin und her, als veranstalte er Schattenspiele, er knickte die Finger und ließ sie wieder emporschnellen, sinnlose Bewegungen, denen die trüben Augen nicht folgten. Sie starrten ins Helle, weit aufgerissen, ohne ein Zeichen der Blendung.

»Schatten bewegen sich -«, sagte Luise leise, als niemand um sie herum mehr sprach. »Schatten im Nebel, Flecken. Ist . ist das der Anfang, Herr Professor?«

Professor Bohne sah zu seinem Assistenten. Dr. Neuhaus reichte ihm mit bebenden Händen die dunkle Binde. Langsam, fast mitleidig legte Professor Bohne den Verband wieder um die Augen Luises und senkte den Kopf. Dr. Ronnefeld im Hintergrund wandte sich erschüttert ab. Monika Horten hatte ihren Schwager umklammert. Ernst Dahlmann strich ihr begütigend über die hellblonden Haare, immer und immer wieder, den Blick nicht von seiner Frau lassend, die nun wieder mit verbundenen Augen auf dem Stuhl saß, mit zuckenden Schultern und ineinander verkrampften Händen, aber mit einer ungeheuren Tapferkeit.

»Es bedarf noch einer kleinen Korrektur, gnädige Frau«, sagte Professor Bohne. Er gab seiner Stimme einen sicheren und zuversichtlichen Klang. »Sie sehen schon Helligkeit und nehmen Schatten wahr . das ist ein großer Schritt vorwärts -«

»Hast du das gehört, Ernst?« Luise Dahlmann wandte den Kopf zurück in die Richtung, wo sie ihren Mann vermutete.

»Ja, mein Liebes.«, sagte Dahlmann und streichelte Monika weiter, die an seiner Schulter das Schluchzen unterdrückte.

»Ich werde wieder sehen können -«

»Bestimmt, Luiserl -«

»Ich bin so glücklich -«

»Wir alle sind glücklich, Luiserl -«

Dann warteten sie stumm, bis Dr. Neuhaus sie aus dem Zimmer geführt hatte, zurück in ihr Krankenzimmer, wo sie von der Stati-onsschwester sofort ins Bett gebracht wurde, um sich von den Anstrengungen zu erholen. Sie erhielt eine Beruhigungsinjektion und schlief schnell ein.

Ernst Dahlmann löste sich aus der Umklammerung seiner Schwägerin und trat an Professor Bohne heran, der mit dem Rücken zum Raum am Fenster stand und hinaus auf die Straße starrte.

»Bitte, sprechen Sie ehrlich, Herr Professor«, sagte Dahlmann heiser. »Verschweigen Sie nichts ... die Operation ist also mißlungen?«

»Der Erfolg ist nicht so, wie ich es erhofft habe.«

»Warum reden wir herum?« Dahlmanns Stimme hatte etwas Forderndes, Barsches an sich. Wieder kam in Professor Böhne die Abneigung hoch, die er schon bei der ersten Begegnung mit Dahlmann gespürt hatte, eine Abneigung, die es ihm schwerfallen ließ, höflich zu bleiben. Er drehte sich nicht um, sondern sah weiter aus dem Fenster. »Meine Frau bleibt also blind?«

»Im Augenblick - ja.«

»Was heißt das: Im Augenblick?«

»Die transplantierte Hornhautscheibe ist gut eingewachsen, aber sie hat sich wieder so weit getrübt, daß nur Licht und Schatten erkennbar bleiben. Ich befürchte, sie wird sich im Laufe der Zeit weiter eintrüben. Es wäre zu kompliziert, Ihnen jetzt den physiologischen Vorgang zu erklären, aber -«

»Mich interessiert lediglich, daß die Operation mißlungen ist.« Ernst Dahlmann tupfte sich mit einem Ziertaschentuch über die Stirn. Sie bleibt blind, dachte er. Sie wird herumsitzen, weiter Schallplatten und Tonbänder hören, ich werde ihr die Zeitung vorlesen, die Tageseinnahmen der Apotheke, die Korrespondenz, die privaten Briefe.

»Wir können sie in einem Jahr wiederholen -«, sagte Professor Bohne fast mit Widerwillen.

»Nein!«

Dieses harte Nein veranlaßte Bohne, sich doch herumzudrehen. Er sah in harte, braune Augen, die fern aller Erschütterung waren, ohne Mitgefühl, ohne seelische Ergriffenheit. Dr. Ronnefeld trat eben-falls vor. Er atmete schwer.

»Herr Dahlmann ... man muß jede Chance wahrnehmen«, sagte er laut.

»Das war die letzte ... und es ist auch mein letztes Wort! Ich möchte Luise noch einmal dieses Hoffen, Bangen und Warten und später den seelischen Niederbruch ersparen. Es ist eine Quälerei. Sie haben es gesehen, meine Herren!« Seine Stimme bekam einen glucksenden Klang. Welch ein Schauspieler, dachte Professor Bohne plötzlich, ohne sagen zu können, warum er es dachte und die plötzliche Weichheit Dahlmanns nicht für ernst nahm. »Dieses hier war der letzte Versuch. Ich glaube, auch Sie wissen nicht, an wen ich mich noch wenden sollte und wer mir garantiert, daß die Operation gelingt. Niemand wird das garantieren. Also finden wir uns damit ab, daß meine Frau blind bleibt. Damit ist ihr Leben ja nicht abgeschlossen . es ändert sich nur. Es gibt Schlimmeres, mit dem man sich abfinden muß.«

Professor Bohne schwieg und sah Dr. Ronnefeld an. Dann wan-derte sein Blick zu Monika Horten. Sie stand im Hintergrund des Zimmers an der Wand und weinte noch immer.

»Es ist gut, wenn man sich mit etwas abfinden kann«, sagte er doppelsinnig. »Das erleichtert vieles -«

Ernst Dahlmann überhörte die Untergründigkeit. Er nickte zustimmend. »Wer aber, meine Herren, will ihr sagen, daß sie blind bleibt? Sie hofft doch jetzt.«

»Ich werde das übernehmen.« Professor Bohne zog die Gardine vor das Fenster. »Ich glaube, sie ahnt es.«

Dr. Neuhaus kam zurück. Schon an der Tür nickte er seinem Chef zu. »Sie schläft, Herr Professor.«

»Hat sie noch etwas gesagt?«

»Nein. Kein Wort.«

»Keine Frage?«

»Nichts.«

»Dann weiß sie es.« Ernst Dahlmann atmete heftig. »Wie muß es jetzt in ihr aussehen! Und gerade das wollte ich ihr ersparen.«

Professor Bohne steckte die Hände in seinen weißen Kittel. Wenn diese kalten Augen nicht wären, könnte man ihm jede Erschütterung glauben, dachte er. Aber diese Augen blicken anders, als der Mund spricht ... und auf Augen verstehe ich mich, nicht nur anatomisch.

»Wir werden sie beruhigen, Herr Dahlmann. Und in drei Tagen können Sie Ihre Gattin heimholen. Vielleicht wächst im Laufe eines Jahres auch in Ihnen die Gewißheit, daß eine neue Operation ein Segen sein kann -«

Wenig später sah Professor Bohne zur Straße hinunter. Aus dem Eingang der Klinik kamen Dahlmann und Monika Horten. Sie waren allein, Dr. Ronnefeld besuchte in der Chirurgischen noch zwei Privatpatienten. Dahlmann hatte seine Schwägerin untergefaßt ... aber es war kein helfendes Stützen, sondern ein verliebtes Anschmiegen an ihren schönen, zarten Körper. Sie blieben vor dem Parkplatz stehen, er sagte etwas, er lachte sogar und drückte den Arm Monikas an sich.

»Sie wird doppelt blind sein«, sagte Professor Bohne und wandte sich vom Fenster ab. Neben ihm stand Dr. Neuhaus mit ernstem, fast verbissenem Gesicht. »So ist es im Leben, mein junger Kollege. In dreißig Jahren Praxis habe ich das immer wieder erlebt. Heuchelei und Lüge werden zu lindernden Pflastern für die Blinden -« »Man sollte dem Kerl eine runterhauen, Herr Professor«, zischte Dr. Neuhaus. »Man sollte es ihr sagen -«

»Warum? Was ändern Sie damit?« Professor Bohne hob resignierend die Schultern. »Der Charakter des Menschen ist die einzige Fehlschöpfung Gottes.«

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