Kapitel 18

Der folgende Tag war wieder ein sonniger Herbsttag. Fräulein Erna Pleschke erschien, um Luise Dahlmann zum Spaziergang abzuholen. Ernst Dahlmann bedauerte, nicht mitkommen zu können . er erwartete den Schreiner, der ein neues Schloß in den Giftschrank einsetzen mußte. In der Mohren-Apotheke sprach man nicht über den fehlenden Schlüssel ... die Standesehre verbot, überhaupt daran zu denken. Ein verschwundener Giftschrankschlüssel . der Gedanke allein gehört zu den Alpträumen eines Apothekers.

Im Park von Herrenhausen waren die Eisverkäufer verschwunden: Die Sommersaison war vorbei, bald würde die andere Fakultät, die Heiße-Würstchen-Verkäufer, Park und Schloß umwandeln. Gegenwärtig war so etwas wie ein Interregnum . für Eis zu spät, für Würstchen zu früh. Den Nutzen hatte das Schloßcafe, wo es auch Eis gab, aber in silbernen Bechern und natürlich dementsprechend teurer als eine Eiskugel zwischen zwei mit Wasser gebackenen Waffeln.

Robert Sanden wartete an einem der Tische auf der Terrasse. Er hatte Luise seit seinem versteckten Geständnis nicht wiedergesehen. Ein paarmal war er in der Apotheke gewesen und hatte Hustenbonbons gekauft, aber auch dort konnte er schlecht fragen, wie es ihr ging. Er hatte das bittere Empfinden, daß sie ihm die Worte übelgenommen hatte und nun für ihre Spaziergänge einen anderen Park als Herrenhausen aussuchte.

Dessenungeachtet saß er Tag für Tag im Park des Schlosses und wartete mit dem Trotz eines Asiaten, der sich sein Nirwana ersitzt. Er schwänzte ein paarmal die Proben am Theater, meldete sich krank, krächzte dem Intendanten etwas vor und brachte sogar ein Attest über akute Stimmritzenentzündung bei. Er saß auf der Cafeterrasse und verzehrte einige Liter Kaffee und zusammenhängend zwei ganze Torten, kannte bald jede Taube und jeden Zeisig, die herumhüpften und die Kuchenkrümel aufpickten.

Um so größer war die Freude, als er Luise am Arm von Fräulein Pleschke kommen sah. Er lief ihnen entgegen, und es kümmerte ihn überhaupt nicht, daß die beiden Kellnerinnen unverschämt grinsten und tuschelnd die Köpfe zusammensteckten.

Fräulein Pleschke wurde beurlaubt und war froh darum. In der Zeit ihres Urlaubs hatte sie einen jungen Leutnant der Bundeswehr kennengelernt, und nun war sie in einem argen Konflikt, wofür sie sich entscheiden sollte: Uniform oder Geist. Beides zusammen kommt äußerst selten vor. Heute hatte sie die Uniform bestellt, der angehende Lehrer saß über einer schriftlichen Arbeit, die das Plankton im Steinhuder Meer behandelte, ein Thema, das Erna Pleschke weniger interessierte als die flotten Berichte des jungen Leutnants über nächtliche Übungen im Bayerischen Wald.

Robert Sanden führte Luise zu einem der weißen Stühle und schob ihn an den Tisch.

»Was darf ich bestellen?« fragte er. »Kuchen? Kaffee?«

»Ein Stück Obstkuchen und eine Tasse Schokolade.«

Sie warteten, bis die Kellnerin gegangen war. Dann beugte sich Sanden vor. Sein Gesicht war voll Sorge.

»Sind Sie mir böse?«

»Nein.« Luise schüttelte den Kopf. »Warum?«

»Wegen meiner Worte.«

»Sie waren unbedacht, weiter nichts. So spricht ein großer Junge, habe ich gedacht. Mein lieber Freund -«, sie legte die Hand auf seine Finger, »man darf nie Mitleid mit Liebe verwechseln. Ich bin eine blinde Frau, ich bin gezeichnet, ich bin ein Jahr jünger als Sie . Sie sollten sich nach Mädchen umsehen, die zehn Jahre jünger sind. Nein, sagen Sie nichts, Robert! Im Augenblick und vielleicht auch noch ein paar Jahre ginge es gut . aber in zwanzig Jahren bin ich fünfzig, Sie einundfünfzig. Stellen Sie sich das vor: Eine blinde, alte, verhärmte Frau, und Sie ein Mann, der immer noch umschwärmt wird, ja, dessen graue Schläfen die Mädchen anlocken wie Honig den Bären. Was soll das? Wir müssen das Leben real sehen, nicht romantisch. Wir sind in einer unheimlichen Logik gefangen, aus der es kein Entweichen gibt, und diese Logik heißt: Man muß verstehen, daß man alt wird, also muß man verstehen, alt zu sein. - Das ist ein harter Satz, der härteste, den ein Mensch treffen kann. Aber was nützt aller Selbstbetrug, aller Singsang: Man ist so alt, wie man sich fühlt. Das ist Sandstreuerei, die den biologischen Verfall nicht abbremsen kann. Das ist Clownerie des Lebens. Die Wahrheit ist: Man wird alt, man ist alt . und eine Frau leider eher als ein Mann.«

Robert Sanden sah sie stumm an. Die dunkle Sonnenbrille verbarg ihre Augen. Er erinnerte sich, daß sie seit ihrer Reise nach Bologna anders geworden waren, klar und voll Leben, tote Augen, die sich in nichts von denen der Sehenden unterschieden.

Der Kuchen und der Kakao kamen. Luise tastete über den Tisch und schob den Zeigefinger in den Henkel. Vorsichtig hob sie die Tasse zum Mund. Das hatte sie geübt, hundertmal und mehr. Jeder, der dieses vorsichtige Trinken sah, glaubte an ihre Blindheit.

Robert Sanden wartete, bis sie die Tasse wieder absetzte. Ehe Lui-se ausweichen konnte, machte er eine schnelle Handbewegung, als wolle er auf etwas zeigen. Er stieß gegen die Tasse, sie kippte in Luises Finger um, und der heiße Kakao ergoß sich auf den Anzug San-dens.

»Wie ungeschickt ich bin!« rief er und sprang auf. Er sah jämmerlich aus, große Flecken glänzten braun auf Rock und Hosen.

»Der schöne hellgraue Anzug -«, sagte Luise.

Erst als sie es ausgesprochen hatte, wußte sie, was geschehen war. Sie erstarrte, ihre Hände krallten sich in das Tischtuch.

Sie sahen sich an, eine ganze Weile, stumm und auf das erste Wort des anderen wartend. Robert Sanden lächelte zaghaft und setzte sich langsam. Er nahm Luises Hände, sie waren eiskalt, wie gestorben.

»Ich habe es geahnt.«, sagte er stockend. »Ich habe es absichtlich getan. Ich weiß, daß Sie sehen können.«

Mit einem Ruck entzog sie ihm die Hände.

»Lassen Sie mich gehen -«

Sanden hielt sie fest, als sie aufspringen wollte.

»Nein. Flüchten Sie nicht. Ich weiß auch, wie es bei Ihnen zu Hause ist . in Ihrer Ehe, mit Ihrem Mann, Ihrer Schwester . ich weiß alles.«

»Lassen Sie mich gehen«, keuchte Luise und sprang auf.

»Ja.« Auch Sanden erhob sich. Die großen braunen Flecken auf seinem Anzug genierten ihn nicht. »Lassen Sie uns zusammen gehen . lassen Sie uns gemeinsam gehen . nicht nur heute . von jetzt an immer.« Er schluckte und senkte den Kopf. Wie ein kleiner Junge, der um fünf Pfennig für Bonbons bettelt, sagte er leise: »Ich liebe Sie, Luise.«

Ein alter, klappriger Lieferwagen mit einem Zeltplanenverdeck hielt vor der Mohren-Apotheke. Aus dem Führerhaus kletterte Monika

Horten, in langen, engen blauen Hosen und einem grellgelben Pullover. Ernst Dahlmann, der gerade einer Kundin ein Hormonpräparat zur Straffung schlaffer Altershaut erklärte, ließ sie stehen und stürzte auf die Straße.

»Bist du verrückt?« zischte er, als er neben Monika stand. Der Lastwagenfahrer klappte das Verdeck zurück. »Was willst du hier? Wenn dich Luise entdeckt.«

»Das soll sie ja.«

»Monika! Denk an unseren Pakt!«

»Ich will nur meine Sachen aus dem Atelier holen. Dann hast du Ruhe vor mir.«

»Und wenn Luise vorzeitig zurückkommt? Wenn sie dich hört?«

»Das braucht sie nicht. Ich bleibe so lange, bis sie zurückkommt.«

»Nein!«

»Willst du mich hindern, mich von meiner Schwester zu verabschieden?«

»Ja!«

»Affe!«

Sie ließ ihn stehen und ging mit dem Lastwagenfahrer ins Haus. Dahlmann stand wie betäubt. Kein Schlag hätte ihn mehr aus der Fassung bringen können als dieses eine Wort und die unendliche Verachtung, die in ihm lag. Und die Haltung Monikas, die entschlossen war, das neue Gebäude aus Liebe und Fürsorglichkeit zu zerstören, den letzten Trick, den Dahlmann in einer bereits panikartigen Hilflosigkeit versuchte.

Er rannte ihr nach und zog sie in die Wohnung. Sie schlug zwar um sich, aber da er sie nur ins Zimmer stieß und nicht hinter sich abschloß, sondern schwer atmend zum Barschrank ging und nach dem Kognak griff, schrie sie nicht um Hilfe, sondern setzte sich auf die Couch in der Blumenecke.

»Bitte, gebärde dich nicht als starker Mann!« Ihre Stimme troff von Spott. »So jung, um Siegfried zu sein, bist du auch wieder nicht. Das ist passe -«

Dahlmann atmete ein paarmal tief durch. Der Spott auf sein Al-ter, dieses Trauma, das ihn zu allen Handlungen trieb, brannte in ihm wie ein offenes Feuer. Er trank aus der Flasche und starrte Monika mit zitterndem Gesicht an. Sie saß aufreizend zwischen den Blumen, ein blaugelber Paradiesvogel mit leuchtendem goldenem Federhut. Ihre Zehen pendelten auf und ab.

»Was willst du Luise sagen?« fragte er tonlos.

»Alles.«

»Und warum?«

»Ich will einen Schlußstrich ziehen unter ein Leben, das gemein war. Ich will neu beginnen. Vielleicht verzeiht mir Luise, vielleicht auch nicht. Aber das ist unwichtig. Ich will den Druck von mir haben, dieses Wissen einer ungesühnten Sünde, ich will mich freireden ... verstehst du das nicht?«

»Nein.«

»Es ist meine Schwester, die ich betrogen habe. Ehe ich für immer aus eurem Gesichtskreis verschwinde, soll sie keinen Haß mehr haben.«

»Haß! Haß! Sie weiß doch nichts von uns!« schrie Dahlmann.

»Sie weiß alles.«

»Dummheit!«

»Sie kann sehen!«

»Nein!« Dahlmann trank wieder aus der Flasche. Der starke Kognak begann, in seinem Hirn Nebel zu bilden und seinen Körper leicht werden zu lassen. Es war ihm, als gehe er auf Wolken. Und mutig wurde er, schrecklich mutig. »Heute noch habe ich sie geprüft. Du bist eine hysterische Ziege!«

»Wenn schon. Ich will mit ihr sprechen.« Monika beugte sich vor. »Ich habe mir überlegt, was du mir gesagt hast. Luise will dir alles schenken. Dieser Entschluß wäre für mich der einzige Beweis, daß sie wirklich blind ist. Und wie ich dich kenne, bist du jetzt besonders lieb zu ihr, bist du der liebevollste Ehemann, wie er sonst nur in Märchenbüchern der Erwachsenen, den Schnulzen, vorkommt.«

»Allerdings -«

»Siehst du, und das will ich dir versalzen. Luise soll dich sehen, wie du bist.« Sie lehnte sich zurück. Ihr schöner, schlanker Körper lag fast auf der Couch. »Gib zu, daß du am Ende bist.«

»Noch nicht. Wenn ich deinem merkwürdigen Julius Salzer sage, daß du.«

Monika winkte ab. »Zu spät. Ich habe es ihm gestern abend selbst gesagt.«

Auf Dahlmanns Hirn fiel eine Bleiplatte. Er lehnte sich an die Wand. »Und -?« fragte er.

»Er hat mir den Mund zugehalten. Er will nicht wissen, was war . ihn geht nur die Zukunft an.« Monika lächelte. »Du siehst, die Sache wird einseitig. Ich habe nichts mehr zu verlieren.«

Dahlmann tappte in die Mitte des Zimmers. Er war betrunken und doch wieder so klar, daß er Monikas Lächeln sah und die Gefahr, die von ihr ausging.

Was soll ich tun, dachte er immer wieder. Was soll ich bloß tun? Sie darf Luise nicht sprechen! Er sah auf die Uhr. In zwei Stunden kam Luise zurück. Sie kam immer pünktlich, keiner wußte es so gut wie er und Monika. Sie hatten ein Jahr lang nach diesen Zeiten ihre Liebe eingeteilt. Liebe -

»Willst du Geld?« fragte er heiser.

»Nein. Ich kann mich selbst ernähren.«

»Willst du Anteile?«

»Sie stehen mir sowieso zu.«

»Willst du mehr Anteile?«

»Nein.«

»Was willst du denn?« brüllte Dahlmann voller Panik.

»Ein reines Gewissen . und das kannst du mir nicht geben! Das muß ich mir selbst holen.«

Das war der Augenblick, in dem bei Dahlmann der letzte Rest Vernunft zerbrach. Es geschah alles so schnell, so tierhaft, so lautlos, daß er nachher nie mehr sagen konnte, wie es gekommen war.

Er machte einen taumelnden Satz, er fiel mit seinem ganzen Gewicht über Monika, drückte sie in die Kissen, seine breite Hand preßte sich auf ihren zum Schreien aufgerissenen Mund, die andere Hand griff an ihre Kehle ... sie trat ihn in den Unterleib, er spürte es nicht, sie biß in seine Hand, er merkte keinerlei Schmerz ... er lag über ihr, fühlte ihren zuckenden Körper und drückte ihr die Kehle zu.

Als er sich erhob, lag sie mit bläulichem Gesicht in den Kissen. Er beugte sich über Sie ... ihr Herz schlug noch.

»Mein Gott -«, sagte er. »Mein Gott - jetzt muß ich etwas tun -«

Und er wurde schlagartig nüchtern.

Zunächst stellte er fest, daß sein Würgegriff nicht tödlich gewesen war. Das Herz setzte nicht aus, es schlug weiter. Die Sauerstoffzufuhr zum Gehirn setzte wieder ein, das Bläuliche im Gesicht verlor sich, die geschwollene Zunge ging zurück, die Augenlider begannen zu zittern. Das Leben kehrte zu Monika Horten zurück. Ein Leben, das den Untergang Ernst Dahlmanns bedeutete. Es gab gar keinen Zweifel ... die größte Gefahr bedeutete sie. Luise war blind und hilflos, aber hier war ein Mädchen, das nach dieser Stunde nur einen Gedanken haben würde: Vernichte ihn!

Dahlmann stand vor der Couch und starrte Monika an. Er sah in ihr nicht mehr die Geliebte, eine tiefe Gleichgültigkeit gegenüber den weiblichen Reizen hatte ihn ergriffen. Er sah in Monika nunmehr nur noch den Feind.

Die Frau, die alle Mittel in der Hand hielt, ihn um den Traum seines Lebens zu bringen. Um Geld, um Unabhängigkeit, um männliche Stärke, gestützt durch vergoldetes Ansehen.

Dahlmann wartete nicht ab, bis Monika aus ihrer Besinnungslosigkeit erwachte. Er holte aus seiner kleinen Hausapotheke eine Injektionsspritze und eine kleine 2-ccm-Ampulle mit Morphin, zog die wasserhelle Flüssigkeit auf und stach die Hohlnadel in den Oberschenkel Monikas. Sie zuckte ein wenig; es war in dem Augenblick des Hinübergleitens in das Bewußtsein. Dann streckte sich der Körper wieder, die Lider flatterten nicht mehr, die Atmung war normal, aber flacher ... sie schlief fest, betäubt und für Stunden gefahrlos.

Dahlmann spülte die Ampulle und die Hohlnadel durch das WC weg. Die Spritze steckte er in die Rocktasche. Er würde sie in der Apotheke mit anderen Spritzen auskochen und neu sterilisieren. Dann ging er hinauf ins Atelier.

Der Lastwagenfahrer saß auf einer Kiste und trank eine Flasche Bier.

»Was ist?« fragte er und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab. »Alles ist aufgeladen. Können wir fahren?« Er drückte den Klemmkorken auf die Flasche und steckte sie in eine ausgebeulte, alte Aktentasche. Dabei fiel ihm ein, daß er vor Zeugen Alkohol getrunken hatte. Er lächelte verlegen und wedelte mit der Hand.

»War nur 'ne halbe Flasche Bier, Meister. Das macht mir nichts aus. Ich fahre trotzdem wie aus dem Bilderbuch für Kraftfahrer.« Er tippte auf die Kiste und stand auf. »Nur noch diesen Brocken, dann sind wir soweit.«

»Sie können schon zurück nach Soltau fahren«, sagte Dahlmann leichthin.

»Und das Fräulein?«

»Fräulein Horten kommt mit der Bahn nach.«

»Aber sie wollte doch mit mir.«

»Sie hat es sich anders überlegt. Fräulein Horten ist meine Schwägerin, die Schwester meiner Frau. Und meine Frau ist noch nicht von einem Ausflug zurückgekommen. Sie will so lange warten, bis meine Frau kommt.«

»Das ist klar.« Der Fahrer grinste. »So schnell kommt man ja auch nicht von Soltau nach Hannover, was? Also denn, ich fahre.«

»Gute Fahrt.«

»Und von dem Bier . das bleibt unter uns, was?«

»Klar.« Dahlmann lächelte. »Ehrensache. Und nun schwirren Sie ab!«

Er wartete, bis der Fahrer die letzte Kiste hinausgetragen hatte. Dann blickte er sich in dem großen, leeren Raum um. Das Fluidum Monikas war verschwunden . es war ein nüchterner, heller, ungepflegter, häßlicher Dachraum, sonst nichts mehr. Der Zauber, den dieses Zimmer einmal auf ihn ausgeübt hatte, war zerstört. Nun sah er die schadhaften Dielenbretter, die häßlichen Flecken, wo einmal Bilder gehangen hatten, Löcher im Putz, Trostlosigkeit des Verfalls.

Dort stand die Staffelei, dachte er. Dort der Hocker mit den Paletten. Dort war ein Tisch, eine Kommode, ein Schrank. Unter dem Fenster standen zwei französische Sesselchen ... dort haben wir oft gesessen, hinausgestarrt in die Nacht, über die Dächer und Häuser, eine Stimmung wie auf Montmartre und doch viel, viel glücklicher, als man es beschreiben kann.

Ernst Dahlmann wischte sich über die Augen. Vorbei! Für immer vorbei! Unten lag Monika Horten in einem tiefen Morphiumschlaf, die gleiche Moni, die einmal dort am Fenster gesessen hatte und ihm ins Ohr flüsterte: »Ich bin so unendlich glücklich. Kann es überhaupt wahr sein ... du und ich.?«

Es war wahr. Und es war ebenso wahr, daß etwas geschehen mußte, daß die Gefahr, die jetzt von Monika ausging, beseitigt werden mußte.

Beseitigt. Dahlmann hob die Schultern, als fröre er. Er war kein Mörder. Er hatte nie den abscheulichen Mut aufgebracht, etwas Endgültiges mit seinen eigenen Händen zu tun. Oft hatte er Luise stumm angesehen und gedacht: Wie leicht wäre es, sie zu töten. Ein Unfall ist schnell konstruiert, und bei einer Blinden glaubt man an einen Unfall sofort. Aber dann war er immer wieder zurückgeschreckt, nicht aus Skrupel, nicht aus edlem Bedenken, sondern aus Feigheit, aus Angst, es selbst getan zu haben. Er erinnerte sich an den Augenblick am Rande des Baggerloches, als Luise kerzengerade und mit hocherhobenem Kopf das Bein hob und den Schritt zum Abgrund, zum Tode tat. Da hatte er sich auf sie gestürzt, mit einem wilden Satz, dessen Schnelligkeit er heute selbst nicht begriff, er hatte sie zurückgerissen, ins Leben zurückgeschleudert, und er hatte gespürt, wie ihn kalter Schweiß überzog und durch seinen Körper ein eisiges Zittern lief.

Er war nicht der geborene Verbrecher, er war kein eiskalter Mörder . er war ein äußerst sensibler, weibisch-weicher Mann, mit dem Komplex beladen, immer gegängelt, immer bevormundet zu werden, und dessen große Sehnsucht es war, einmal selbständig zu sein, Geld zu haben, das er ausgeben konnte, ohne Abrechnungen darüber vorzulegen, tun zu können, was ihm beliebte, ohne fragen zu müssen: Darf ich das? Er war ein Mann, der sich nach Freiheit sehnte, wie ein Zuchthäusler, der von seinem Zellenfenster die Weite des Landes sieht.

Alles, was er sagte, was er tat, wie er sich gab, wie er wirkte ... klug, charmant, elegant, fröhlich, ein Gesellschaftslöwe . alles das war nur eine Maske, hinter der die Öde seiner Seele lag. Er war sich selbst der Einsamste, so sah er sich auch und so verzehrte er sich innerlich auch an der Sehnsucht, frei zu sein in dem Sinne, wie er es verstand. So wurde aus Ernst Dahlmann die furchtbar gespaltene Persönlichkeit, die er jetzt war: ein kalter, in der Gemeinheit phantasiereicher Lump . und ein einsamer, sich elend fühlender Mann, der sich befreien wollte und sich doch immer wieder fing in seiner Feigheit, die eigentlich das Fundament seines Wesens war.

Ernst Dahlmann stieg die Stufen vom Atelier zur Wohnung hinunter und sah aus dem Dielenfenster hinaus auf die Straße. Der Lastwagen aus Soltau war abgefahren, in einer Stunde würde Luise zurückkommen. Es blieb also keine lange Zeit des Handelns mehr.

Handeln! Aber was? Wie? Wohin mit Monika?

Auf der Couch schlief Monika. Sie schnarchte leise, eine Nebenerscheinung, die man bei Morphiumbetäubten oft beobachtet. Dahlmann setzte sich neben sie und grübelte.

Er dachte alle Möglichkeiten durch, ja er flüchtete sich sogar in das Absurde und erinnerte sich einer Reihe von Szenen, die er in Kriminalromanen im Laufe der Jahre gelesen hatte. Wie ließen die Autoren dort die lästigen Körper verschwinden?

Dahlmann schloß die Augen. Vom Säurebad bis zum simplen Vergraben in Einzelteilen fiel ihm alles ein, nur waren es Dinge, die er nie mit der eigenen Hand hätte ausführen können. Grausamkeit lag ihm nur in der perversen Form psychischer Zertrümmerung ... manuell war er als Verbrecher völlig unbrauchbar.

Wie viele große Dinge aus dem Zufall entstehen, so kam auch hier der Zufall zu Hilfe. Die Lösung des Problems, wohin mit Monika, hatte so nahegelegen, daß sich Dahlmann jetzt wunderte, warum er überhaupt gegrübelt und Hilfe bei der Kriminalliteratur gesucht hatte. Das Einfachste lag oft so nahe, daß man es übersah. Wie sagt ein orientalisches Sprichwort: »Über einer schönen Eselin vergißt man das eigene Pferd.«

Dahlmann sprang auf und atmete erleichtert auf.

Er war seit sechs Jahren Mitglied eines Kegelklubs. In diesem Klub war auch ein Dr. Forster, ein Frauenarzt, der als großer Jäger galt, und nicht nur in den Wäldern. Er hatte eine Jagd gepachtet mit einer Jagdhütte, die ziemlich einsam lag, mitten in einem Hochwald aus Kiefern und Birken. Diese Hütte hatte er Dahlmann vor einigen Wochen angeboten. Sie war für Dr. Forster uninteressant und unwirtschaftlich geworden, nachdem seine Frau sie entdeckt hatte und eines Abends plötzlich dort auftauchte, just in der Stunde, in der sich Dr. Forster um den Abschuß einer berockten Ricke bemühte. Es ist verständlich, daß Frau Forster auf Aufgabe der Jagdhütte bestand, was Dr. Forster einsah nach Aufdeckung der Geheimhaltung. So kam Ernst Dahlmann zu dieser Hütte, während Dr. Forster vom Wald in den Dschungel der Großstadt ausgewichen war und sich dort ein kleines Appartement gemietet hatte. Im Kegelklub wurden bereits stille Wetten abgeschlossen, wann der kriminalistische Spürsinn Frau Forsters auch diese neue >Jagdhütte< entdeckte.

Ernst Dahlmann suchte in den Taschen seiner Anzüge nach dem Schlüssel, den ihm Dr. Forster gegeben hatte. Auch verwahrte er in irgendeiner Tasche den Plan, wie man die Hütte erreichen konnte. Es war gar nicht so einfach ... sie lag so einsam, daß selbst der Revierförster sie nur bei seinen Inspektionsgängen berührte, und das war bei der Ausdehnung des Waldgebietes alle vierzehn Tage.

Endlich fand Dahlmann Plan und Schlüssel. Er sah auf die Uhr ... ihm blieb noch eine halbe Stunde.

Was er jetzt tat, vollbrachte er mit Überlegung und Logik. Das Bewußtsein, nicht töten zu müssen und doch zum Ziel zu kommen, erzeugte in ihm eine fast euphorische Stimmung. Er hätte singen und pfeifen können, und die Melodie, die ihm einfiel, war so makaber wie sein Tun. »Machen wir's den Schwalben nach, bau'n wir uns ein Nest.«

Er baute es sich . erst rollte er Monika in eine Decke und trug sie hinunter in das Forschungslabor, zu dem nur er einen Schlüssel hatte. Von dort ging eine Tür in einen Innenhof Dorthinein fuhr er den Wagen und legte Monika auf die Hintersitze. Dann rannte er zurück in die Wohnung, schrieb einen Zettel für Luise, den Fräulein Pleschke vorlesen würde: »Bin in drei Stunden wieder zurück. Küßchen, Ernsti.«, legte ihn auf den Tisch neben eine Schale mit Obst (Luise würde ihn dort bestimmt finden, denn meistens ließ sie sich nach dem Spaziergang eine Apfelsine schälen), rannte zurück zum Wagen, klemmte den >Fahrplan< zur Jagdhütte an den Aschenbecher des Armaturenbretts, horchte an der Decke, wie Monika atmete, und fuhr dann ab.

Er stellte das Autoradio an, suchte einen flotten Sender und fuhr vergnügt durch Hannover nach Osten.

Wie abhängig der Mensch von Stimmungen ist, dachte er. Eben noch war ich verzweifelt, jetzt fühle ich mich leicht wie ein junger Adler in klarer Gebirgsluft.

Wirklich, der Mensch ist ein Phänomen.

Die Hütte lag tatsächlich abseits, »jenseits von Gut und Böse«, wie es Dr. Forster einmal gesagt hatte. Man erreichte sie nur über eine halbzugewachsene Schneise und dann in einer Slalomfahrt zwischen den Kiefern und Birken hindurch über einen weichen, federnden, an einen Sumpf erinnernden Humusboden. Hier war man vor Entdeckungen sicher, wenn man keine Frau wie Dr. Forster besaß. Es ist eine alte Weisheit, daß eifersüchtige Frauen einen phänomenaleren Spürsinn entwickeln als der ausgekochteste Kriminalist. Männer vergessen das nur zu oft in ihrer verliebten Gockelhaftigkeit. Wenn sie dann entdeckt werden, stehen sie vor einem Rätsel, das gar kei-nes ist.

Ernst Dahlmann hatte den Wagen hinter dem Haus geparkt und schleppte nun seine inhaltsreiche Decke in die Hütte. Es roch un-gelüftet, etwas muffig und schimmelig, vermischt mit kaltem Rauch und einem gewissen Hauch von süßlichem Parfüm, der aus der schaumgummigepolsterten Auflage strömte, mit der eine große Holzbank hinter einem mächtigen Bauerntisch bedeckt war. Der Auszug Dr. Forsters - oder vielmehr seine Austreibung aus dem Paradies - mußte so plötzlich und elementar erfolgt sein, daß der zarte Duft einer verbotenen Liebe nicht mehr in den Wald gelüftet werden konnte.

Dahlmann legte Monika auf die Bank. Das Halbdunkel störte ihn. Elektrisches Licht wäre hier ein Wunder gewesen, aber Dr. Forster hatte die Notwendigkeit mit der Romantik verknüpft. Es gab einige schöne Petroleumlampen aus Messing, mit bunten Schirmchen über den Glaszylindern. Dahlmann steckte zwei von ihnen an und leuchtete den großen Hüttenraum ab.

Ein Propangasherd, ein Holzofen, daneben Holzscheite, ein Bauernschrank mit Vorräten, buntbezogene geschnitzte Stühle, im Hintergrund ein Alkoven, vor dem breiten Bett ein bis zum Boden reichender, geblümter Vorhang. Lustig und fröhlich, wie es sich für die Abschirmung eines solchen Bettes gehört.

Um sicherzugehen, kontrollierte Dahlmann die Klappläden. Sie waren dick und dicht, die Sperriegel waren durch Eisenschienen gesichert und mit Schlössern versehen. Die Tür bestand aus dicken, doppelten Bohlen, die Wände waren massive Holzstämme, auf die außen noch eine Stulpschalung genagelt war. Ein einbruchsicheres Haus ... man konnte nicht hinein, ohne es zu zerstören, und (was für Dahlmann viel wichtiger war) man konnte auch nicht hinaus, ohne es einzureißen. Hier konnte man schreien und trommeln, an die Wände hämmern und mit den Tischbeinen gegen die Türe rennen ... es gab kein Entrinnen.

Der Vorratsschrank war leer. Nur eine Büchse Kakao war da und drei Büchsen Kondensmilch. Die letzte Besucherin Dr. Forsters muß-te ein Süßmäulchen gewesen sein. Ein paar Aluminiumtöpfe hingen an den Wänden. Monika würde also nach ihrem Erwachen sich nur eine Kanne Kakao kochen müssen. Das mußte reichen, bis er am nächsten Tag wiederkam und ihr genug an Verpflegung mitbrachte.

An Petroleum waren noch drei volle Zehnliterkannen vorhanden. Dr. Forster schien kein Freund der Dunkelheit gewesen zu sein . als Mediziner war er daran gewöhnt, Handgriffe nicht nur zu fühlen, sondern auch zu sehen. Das Petroleum würde also auch reichen. Warum lediglich der Kakao dageblieben war, schien Dahlmann ein Rätsel. Die sparsame Frau Forster hatte alles ausgeräumt und mitgenommen, als die Jagd geschlossen wurde. Nur den Kakao nicht. Vielleicht mochte sie keinen Kakao.

Ernst Dahlmann war mit sich und seiner Umgebung zufrieden. Er wickelte Monika aus der Decke und trug sie in das hohe Alkovenbett. Dort deckte er sie mit einer Steppdecke zu und schob eine Schüssel in ihre Kopfnähe. Morphinbetäubte übergeben sich leicht beim Erwachen.

Er beugte sich über sie. Ihr Gesicht war gelbblaß und wie eingefallen. Sie schlief fest. Dahlmann zog die Steppdecke über sie, strich ihr über die goldblonden Haare und das entspannte Gesicht.

»Schlaf schön, Moni«, sagte er.

Am Tisch schrieb er ein paar Zeilen und heftete den Zettel an den Schirm der am nächsten stehenden Lampe.

»Ich komme morgen wieder. Bitte, versuche nicht, irgend etwas anzustellen. Es wäre eine Dummheit. Warte auf mich und hab Vertrauen. Ernst.«

Er löschte die Petroleumlampen, ging noch einmal zurück zu Monika, zog den Vorhang vor den Alkoven und hatte dabei den Gedanken: Ende des 2. Aktes. Der Vorhang fällt.

Der Vorhang fällt.

Als er es dachte, war er sich der grausigen Wirklichkeit dieses Satzes noch nicht bewußt.

Für ihn war das Wichtigste das Wissen, daß er Zeit gewonnen hatte. Kostbare Zeit, in der viel geschehen sollte, in der man jede Stunde ausnutzen mußte. Er spürte, daß er aus dem Stadium des Im-provisierens herausgekommen war ... sein Leben entwickelte sich wie eine mathematische Formel, in der immer wieder neue Unbekannte auftauchten. Alles wurde nun auch eine reine Nervensache. Ernst Dahlmann fühlte sich stark genug, die stärkeren Nerven zu haben.

Er schloß hinter sich die dicke Bohlentür der Waldhütte ab und rappelte an der Klinke. Es war ein solides, dickes Sicherheitsschloß.

Dieser Geruch in der Hütte, dachte er noch beim Wegfahren. Muffig-süß, schimmelig-herb . wie auf einem Friedhof im Sommer, wenn die Sonne auf die Gräber brennt und die Erde atmet.

Ein verrückter Gedanke, aber er ließ ihn nicht mehr los.

Fräulein Pleschke saß mit dick verquollenen Augen wie ein verängstigter Hase im Wohnzimmer und zerrte an einem feuchten Taschentuch. Als Ernst Dahlmann hereinkam, weinte sie wieder los und drückte das Taschentuch gegen ihr Gesicht.

»Was haben Sie denn, Erna?« fragte Dahlmann und legte die Autoschlüssel aufs Büfett.

Statt einer Antwort begann Fräulein Pleschke laut zu schluchzen.

Dahlmann stand unschlüssig im Zimmer und sah auf das weinende Mädchen. Luise war nicht zu sehen, er hörte sie auch nicht in der Küche. »Was ist denn nun?« fragte er ärgerlich. »Hat Ihr Student Sie versetzt? Bekommen Sie ein Kind?«

Fräulein Pleschke sah trotz der Tränen äußerst beleidigt auf.

»Ich . ich verbitte mir das, Herr Dahlmann.«, weinte sie. »Ihre . Ihre.« Die Stimme versank in haltlosem Schluchzen. Dahlmann fuhr sich mit dem Zeigefinger zwischen Kragen und Hals. Er hatte auf dem Rückweg ein neues Hemd gekauft und das alte, blutige weggeworfen. Auf die Kratzwunden im Nacken hatte er Puder gestreut. Sie brannten noch, aber sie wurden vom Kragen verdeckt.

»Nun beherrschen Sie sich endlich und sprechen Sie deutlich! Was ist passiert?«

Fräulein Pleschke holte tief Atem. Dann schrie sie fast:

»Ihre Frau ist weg!«

Dahlmann legte den Kopf auf die Seite. Er begriff im ersten Moment nicht, was er da hörte. »Was ist?« fragte er deshalb zurück.

»Sie ist weg -«

»Was heißt - weg?«

»Ihre Frau ist verschwunden!«

»Reden Sie doch keinen Quatsch!« Dahlmann wurde es plötzlich heiß. »Sie waren doch mit meiner Frau in Herrenhausen. Wo ist sie denn jetzt?«

»Das weiß ich.«

»Aber Sie sind doch dazu da, auf sie aufzupassen!« brüllte Dahlmann. Plötzlich erkannte er die ganze Tragweite, auch wenn es schwer war, es zu begreifen. Luise weg; ... das war absurd. Das war einfach undenkbar!

Fräulein Pleschke zuckte zusammen und nickte. »Ich habe keine Schuld, Herr Dahlmann.«, stammelte sie. »Ihre Frau hatte mir freigegeben, nachdem ich sie im Schloßcafe abgesetzt hatte. Sie saß auf der Terrasse, unter einem Sonnenschirm. Als ich zurückkam, war sie nicht mehr da. Keiner wußte, wohin sie gegangen war.«

»Das ist doch Blödsinn!« Dahlmann rannte nervös im Zimmer hin und her. »Meine Frau kann doch nie allein gegangen sein. Sie war doch auf Ihre Hilfe angewiesen.«

»Das ist es ja.« Erna Pleschke weinte von neuem. »Die Kellnerinnen sagten, daß sie mit einem Herrn gegangen ist.«

»Mit einem Herrn?!« Dahlmann blieb wie angenagelt stehen.

»Ja. Der Herr war schon öfter im Schloßcafe. Die Mädchen kannten ihn, aber nur vom Sehen. Nicht seinen Namen. Man fragt ja keinen Gast, wie er heißt.«

»Weiter, weiter.«

»Mit diesem Herrn ist Ihre Frau weggegangen. Sie hat nichts hin-terlassen. Mein Gott -« Erna Pleschke drückte wieder das tränennasse Taschentuch an die Augen. »Man hat sie entführt -«

Ernst Dahlmann betrachtete diese Bemerkung als gar nicht so abwegig. Er rannte zum Telefon und rief Dr. Kutscher an. Nach einigen Wartesekunden meldete sich der Anwalt ... er wollte gerade zu einem Klienten.

»Was ist?« fragte Dr. Kutscher unhöflich, ohne Anrede.

»Meine Frau ist weg!« schrie Dahlmann aufgebracht.

»Schöner Trick! Dahlmann, zaubern Sie sie wieder heran, oder es geht drunter und drüber.«

»Doktor, ich flehe Sie an ... sie ist wirklich weg. Fräulein Pleschke, die Betreuerin, kann Ihnen den Vorfall schildern. Ein uns unbekannter Mann hat sie vom Schloßcafe Herrenhausen mitgenommen.«

»Einer von Ihren Privatkillern?«

»Doktor, lassen Sie die dummen Witze! Ich mache mir Sorgen! Luise ist entführt worden!«

Dr. Kutscher schwieg ein paar Sekunden. Er schien nachzudenken. Dann sagte er: »Dahlmann, seien Sie einmal ehrlich - es ist notwendig - Wer hätte außer Ihnen ein Interesse daran, eine blinde Frau zu beseitigen?«

»Ich könnte erpreßt werden -«

»Sie Witzknoten! Etwas Besseres könnte Ihnen ja nicht passieren! Sie weigern sich zu zahlen, und Ihre Frau geht hops! Und Dahlmännchen steht rein da wie Pontius Pilatus. Ich rate Ihnen noch einmal: Geben Sie den plumpen Trick auf und schaffen Sie Ihre Frau herbei -«

Dahlmann wischte sich mit zitternder Hand über die Augen. »Doktor -«, seine Stimme war ehrlich besorgt und niedergeschlagen, »glauben Sie mir doch. Ich werde sofort die Polizei benachrichtigen.«

»Sie wissen, daß Vermißtenmeldungen erst vierundzwanzig Stunden nach dem Feststellen des Verschwindens bearbeitet werden. Bis dahin kann Ihre Frau -«

»Ich brauche Ihren Rat!« brüllte Dahlmann außer sich. »Sie ist weg,

Fräulein Pleschke kann es bezeugen, und ich will jetzt von Ihnen wissen, was Sie zu tun gedenken.«

»Nichts -«

»Doktor, ich schwöre Ihnen, daß meine Frau weg ist!«

»Jetzt fangen Sie auch noch an, Gott zu belästigen!« Die Stimme Dr. Kutschers war voller Abwehr. »Aber wenn Sie wollen, komme ich vorbei und höre mir die Mär des Fräulein Pleschke an.«

»Und wenn Sie überzeugt sind, daß es stimmt?«

»Dann hat man Sie herrlich hereingelegt, Dahlmann. Dann werden Sie bald von den Brüdern hören, die Ihre Frau als melke Kuh ansehen. Und dann allerdings werden wir den ganzen Polizeiapparat in Bewegung setzen. Nur glaube ich nicht, daß es soweit kommen wird.«

»Und warum nicht?«

»Ich habe das im Gefühl.«

»Sie und Ihre Gefühle!« schrie Dahlmann. »Ich erwarte Sie sofort!«

Mit einem Hieb warf er den Hörer zurück.

»Sie bleiben hier, Erna!« brüllte er. »Wenn Sie sich weniger um Ihre Hormone und mehr um meine Frau gekümmert hätten, wie es Ihre Pflicht war, wäre so etwas nie vorgekommen!«

Erna Pleschke rettete sich in heftiges Schluchzen. Es blieb ihr auch nichts anderes übrig. Nur schuldig fühlte sie sich nicht. Man kann einen erwachsenen Menschen ja nicht dauernd mit sich herumschleppen wie die Chinesen ihre Säuglinge.

Als Dr. Kutscher eintraf, fand er Dahlmann in aufgelöster Verfassung. Das ist kein Theater mehr, dachte er. Das ist echt. Und auch ihm wurde es merkwürdig hohl in der Magengrube.

Zwei Stunden vorher noch hatte Dr. Kutscher ein kurzes Gespräch mit dem Psychiater Dr. Vierweg gehabt.

Dr. Vierweg, jung und ehrgeizig und erst im Aufbau einer eigenen Praxis, hatte sich hinter diesen mysteriösen Fall gekniet und ein Gutachten ausgearbeitet, das er der psychiatrischen Klinik einreichen wollte. Auch spielte er mit dem Gedanken, hintenherum der Presse einen Wink zu geben ... es war eine Patienten bringende Publicity, wenn einige Zeitungen den Fall brachten. Das Drama der blinden Luise ... ein roter Balkentitel in einem Boulevardblatt, im Artikel ein paarmal der Name Dr. Vierweg. Es würde bald bekannt werden, wo die Praxis dieses tüchtigen Psychiaters liegt. Dr. Vierweg hatte dabei keinerlei standesethische Bedenken ... wenn Ordinarien ihre Herz-Lungen-Maschinen-Operationen oder Transplantationsversuche der Presse zugänglich werden ließen, dann kann das ein kleiner, junger Arzt auch. Dr. Vierweg sah nicht ein, daß indirekte Reklame nur für Professoren da sein sollte. Er stieß damit zwar in ein Wespennest, aber auch gegen Wespen gibt es Mittel.

Dr. Kutschers Anfrage war deshalb schnell beantwortet.

Sie lautete:

»Doktor ... ist Ihrer Meinung nach Frau Dahlmann nicht voll geschäftsfähig?«

»Das ist sie auf gar keinen Fall.« Dr. Vierweg antwortete unkompliziert, was ihn auch wohltuend von anderen Ärzten unterschied.

»Es ist also unmöglich, daß sie testamentarische Änderungen vornimmt?«

»Völlig unmöglich.«

»Schenkungen?«

»Sie könnten aufgrund meines Gutachtens juristisch sofort an-gefochten werden.«

»Auch gegenüber dem Ehemann?«

»Auch da! Meines Erachtens müßte ein gesetzlicher Vormund und eine Vermögensverwaltung eingesetzt werden.«

»Sehr gut! Und die Aussichten auf Heilung?«

»Sind gut. Wenn man auch nicht sagen kann, wie lange es dauert. Aber solche Psychosen lassen sich durch Elektroschocks abdämpfen oder völlig verdrängen.« »Danke. Ich gratuliere zu dieser Diagnose.« Dr. Kutscher legte auf. Dann saß er nachdenklich am Schreibtisch und spielte mit der Löschblattunterlage. Nach einer Zeit läutete er seine Sekretärin ins Zimmer.

»Mädchen«, sagte er sehr ernst, »was würden Sie denken, wenn ich jetzt hier säße, mit dem Kopf wackelte und immer nur >da-da-da-da< sagte?«

»Ich würde denken: Mein Gott, der Chef ist übergeschnappt.«

»Und das würden alle denken?«

»Ja.«

»Danke.«

Verwundert verließ die Sekretärin das Zimmer. Dr. Kutscher trat ans Fenster und sah auf die belebte Straße.

Wie einfach ist es, als Verrückter zu gelten, dachte er. Und wie schnell finden sich die Menschen damit ab.

Er ahnte, daß der Fall Luise Dahlmann noch äußerst kompliziert werden konnte.

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