„He, Jim, wach auf!"
Jim richtete sich auf, rieb sich die Augen und fragte verschlafen:
„Was is' denn?"
„Es ist Zeit", sagte Lukas. „Wir müssen gleich losfahren."
Mit einem Schlag war Jim hellwach. Er schaute zum Fenster des Führerhäuschens hinaus. Der Platz war menschenleer. Es war noch dämmerig. Die Sonne war noch nicht aufgegangen.
Eben öffnete sich die Küchentür, und Herr Schu Fu Lu Pi Plu trat heraus. Er hatte eine große Tüte in der Hand und schritt auf Emma zu. Hinter ihm drein kam der kleine Ping Pong, das winzige Gesicht in kummervolle Falten gelegt. Aber er gab sich sichtlich Mühe, eine würdevolle Haltung zu bewahren.
„Hier", sagte der Oberhofkoch, „ich habe noch ein paar belegte Brote als Reiseproviant für die ehrenwerten Fremdlinge gemacht. Sie sind nach lummerländischer Art gestrichen. Hoffentlich schmecken sie Euch."
„Danke", antwortete Lukas. „Das ist aber nett, daß Sie daran gedacht haben!"
Plötzlich fing Ping Pong an zu weinen. Er konnte seinen Schmerz beim besten Willen nicht mehr unterdrücken.
„Huhuhu, ihr ehrenwerten Lokomotivführer", schluchzte er und wischte sich die Tränen aus dem winzigen Gesicht, „entschuldigt bitte, daß ich weine. Aber kleine Kinder in meinem Alter - huhuhu - weinen eben manchmal, man weiß nicht recht, warum…"
Lukas und Jim lächelten gerührt, und dann schüttelten sie ihm vorsichtig seine kleine Hand, und Lukas sagte:
„Wir wissen es, Ping Pong. Leb wohl, unser kleiner Retter und Freund!"
Schließlich kam auch der Kaiser. Er war noch blasser als gewöhnlich und schien sehr ernst.
„Meine Freunde", sprach er, „möge der Himmel euch beschützen, euch und meine kleine Tochter. Von nun an werde ich mir nicht mehr nur um Li Si Sorgen machen, sondern auch um euch beide. Denn ich habe euch lieb gewonnen."
Lukas stieß dicke Rauchwolken aus seiner Pfeife vor Rührung und brummte:
„Na, es wird schon alles gut gehen, Majestät."
„Hier ist noch etwas heißer Tee für euch", sagte der Kaiser und überreichte Lukas eine goldene Thermosflasche. „Heißer Tee ist immer gut auf einer Reise."
Lukas und Jim bedankten sich, dann stiegen sie ein und schlossen die Türen des Führerhäuschens. Jim ließ das Fenster herunter und rief:
„Auf Wiedersehen!"
„Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen!" antworteten die Zurückbleibenden.
Emma setzte sich in Bewegung, und alle winkten, bis sie einander nicht mehr sehen konnten.
Die Reise nach der Drachenstadt hatte begonnen.
Zuerst ging die Fahrt eine Weile durch die menschenleeren Straßen, dann erreichten sie das flache Land und ließen die goldenen Dächer von Ping hinter sich.
Die Sonne ging auf, und das Wetter war so strahlend schön, wie man es sich für eine Expedition nur wünschen kann.
Sie fuhren den ganzen Tag, ohne eine einzige Unterbrechung, quer durch das Land China immer auf das geheimnisvolle „Tal der Dämmerung" zu.
Am zweiten Tag kamen sie an weiten Gärten und Feldern vorüber und dampften durch Dörfer, wo ihnen die chinesischen Bauern und Bäuerinnen mit ihren Kindern und Kindeskindern zuwinkten. Niemand hatte jetzt mehr Angst vor Emma. Die Nachricht, daß zwei Fremde auf einer Lokomotive auszogen, um die Prinzessin Li Si zu befreien, hatte sich natürlich wie ein Lauffeuer im ganzen Land verbreitet.
Am dritten Tag erblickten die beiden Freunde eines der berühmten chinesischen Schlösser aus weißem Marmorstein. Es lag mitten in einem See. Auf vielen zierlichen Säulen schwebte es über dem Wasser. Dort wohnten junge chinesische Edeldamen. Lukas und Jim konnten die Mädchen mit ihren seidenen Fächern winken sehen und winkten ihnen mit ihren Taschentüchern zurück.
Wo immer sie anhielten, kamen die Leute herbei und brachten große Körbe mit Früchten und Süßigkeiten aller Art für die beiden Freunde und Wasser und Kohlen für die Lokomotive.
Am siebenten Tag ihrer Reise gelangten sie endlich zu dem westlichen Tor in der großen Chinesischen Mauer. Die zwölf Soldaten, die hier Posten stehen mußten, und die ganz ähnlich aussahen wie die Palastwache, schleppten einen riesenhaften Schlüssel herbei, so groß, daß drei Männer ihn kaum halten konnten. Sie steckten ihn in das Schloß und drehten ihn mit äußerster Anstrengung herum. Mit lautem Knarren öffneten sich die gewaltigen Flügel des westlichen Tores. Seit Menschengedenken war das nicht mehr vorgekommen.
Als Emma an ihnen vorüber zum Tore hinausdampfte, salutierten die Wächter und riefen: „Hoch! Hoch! Hoch die Helden aus Lummerland!"
Wenige Minuten später waren die Reisenden schon mitten im „Tausend-Wunder-Wald".
Es war wahrhaftig keine Kleinigkeit, hier einen Weg zu finden, der für eine Lokomotive einigermaßen befahrbar war, und ein Lokomotivführer, der sein Handwerk weniger gut verstanden hätte als Lukas, wäre wohl rettungslos steckengeblieben. Der „Tausend-Wunder-Wald" war ein gewaltiger wilder Dschungel aus farbigen Glasbäumen, Schlingpflanzen und sonderbaren Blumen. Und weil alles durchsichtig war, konnte man eine Menge seltener Tiere sehen, die hier wohnten.
Es gab Schmetterlinge, so groß wie ein Sonnenschirm. Bunte Papageien turnten wie Akrobaten in den Zweigen. Zwischen den Blumen krabbelten große Schildkröten mit langen Schnurrbärten in ihren weisen Gesichtern, und auf den Blättern krochen rote und blaue Schnecken mit Häusern auf dem Rücken, die viele Stockwerke hatten und ganz ähnlich aussahen wie die Häuser in Ping mit ihren goldenen Dächern, nur natürlich in verkleinertem Maßstab. Manchmal zeigten sich zierliche gestreifte Eichhörnchen, die so große Ohren hatten, daß sie tags damit in der Luft herumsegeln konnten, und nachts, wenn sie zu Bett gingen, wickelten sie sich hinein wie in eine warme Decke. Kupferglänzende Riesenschlangen ringelten sich um Baumstämme. Sie waren aber ganz ungefährlich, weil sie nämlich an jedem Ende einen Kopf hatten und dadurch beständig in Meinungsverschiedenheiten mit sich selbst gerieten, wohin sie kriechen wollten. Dabei war natürlich nicht daran zu denken, daß sie jemals ein Tier fingen. Sie mußten sich eben von Gemüse ernähren, das nicht weglaufen konnte.
Einmal sahen Jim und Lukas sogar eine Gruppe der scheuen, rosafarbenen Tanzrehe, die auf einer Waldlichtung miteinander tanzten.
Das alles war natürlich ungeheuer interessant, und Jim wäre zu gerne ausgestiegen, um eine Weile im „Tausend-Wunder-Wald" herumzustrolchen. Aber Lukas schüttelte den Kopf. Das müsse man auf später verschieben, meinte er. Für diesmal hätten sie keine Zeit dazu. Erst müßten sie jetzt so rasch wie möglich die kleine Prinzessin befreien.
Drei Tage brauchten sie zur Durchquerung des Dschungels, denn sie kamen nur langsam vorwärts. Aber am dritten Tage öffnete sich plötzlich das Dickicht wie ein farbenprächtiger Vorhang, und ganz nahe vor ihnen erhob sich das rot und weiß gestreifte Gebirge, das den Namen „Die Krone der Welt" trug. Aus der Tatsache, daß Jim und Lukas dieses gewaltige Massiv schon vom Meeresstrand, viele hundert Meilen entfernt, hatten wahrnehmen können, mag man ersehen, wie unvorstellbar hoch diese Gipfel waren.
Die beiden Freunde waren von dem majestätischen Anblick sehr beeindruckt.
Die Berge standen so eng beieinander, daß an ein Durchkommen nicht zu denken war. Hinter der ersten Reihe kam eine zweite und hinter der zweiten eine dritte und dahinter noch eine und immer noch eine. Die Gipfel reichten bis in die Wolken hinauf und zogen sich von Norden quer durch das ganze Land nach Süden.
Jeder einzelne Berg schimmerte rot und weiß gestreift, waagerecht oder schräg, in Wellenlinien oder auch im Zickzack. Manche waren sogar kariert oder mit richtigen Mustern versehen.
Nachdem die beiden Freunde eine Weile lang alles betrachtet und sich gegenseitig auf die Gipfel mit den hübschesten Verzierungen aufmerksam gemacht hatten, zog Lukas die Landkarte hervor und breitete sie aus.
„So", sagte er, „jetzt wollen wir doch mal feststellen, wo eigentlich dieses,Tal der Dämmerung' liegt."
Er hatte es bald entdeckt, was Jim mit ehrfürchtigem Staunen erfüllte, denn er konnte auf dem Papier bloß ein Gewirr von bunten Linien und Punkten erkennen, sonst nichts.
„Schau her", erklärte Lukas und zeigte mit seinem Finger auf die Karte. „Hier stehen wir, und hier ist das,Tal der Dämmerung'. Wir sind also etwas zu weit nördlich aus dem Wald herausgekommen. Deshalb müssen wir jetzt ein Stück nach Süden fahren."
„Ganz wie du meinst, Lukas", sagte Jim vertrauensvoll.
Sie fuhren also ein Stück nach Süden, immer an dem Gebirge entlang, und bald erblickten sie einen schmalen Einschnitt zwischen den hohen Gipfeln und hielten darauf zu.