Die Jahre vergingen, und Jim Knopf war nun schon fast ein halber Untertan. In einem anderen Land hätte er sicher bereits auf einer Schulbank sitzen müssen, um lesen, schreiben und rechnen zu lernen, aber in Lummerland gab es keine Schule. Und weil es keine Schule gab, fiel es einfach niemand ein, daß der Junge alt genug war, um lesen, schreiben und rechnen zu lernen. Jim selbst machte sich natürlich darüber keine Gedanken und lebte fröhlich in den Tag hinein.
Jeden Monat einmal wurde er von Frau Waas gemessen. Er mußte sich barfuß an den Türpfosten der kleinen Küche stellen, und Frau Waas kontrollierte mit einem Buch, das sie ihm auf den Kopf legte, wieviel er wieder gewachsen war. Dann machte sie einen Bleistiftstrich an den Türpfosten, und jedesmal war der Strich ein kleines Stückchen höher.
Frau Waas freute sich sehr über Jims Größerwerden. Aber jemand andrer machte sich schwere Sorgen darüber: der König, der das Land regieren mußte und der die Verantwortung für das Wohl seiner Untertanen trug.
Eines Abends rief er Lukas den Lokomotivführer zu sich in seinen Palast zwischen den beiden Gipfeln. Lukas trat ein, nahm seine Mütze ab und seine Pfeife aus dem Mund und sagte höflich:
„Guten Abend, Herr König!"
„Guten Abend, mein lieber Lukas der Lokomotivführer", erwiderte der König, der neben seinem goldenen Telefon saß, und wies mit der Hand auf einen leeren Stuhl, „bitte, nimm doch Platz!"
Lukas setzte sich hin.
„Nun denn", begann der König und räusperte sich ein paarmal, „Fürwahr, lieber Lukas, ich weiß nicht recht, wie ich es dir sagen soll. Aber ich hoffe, daß du es trotzdem verstehen wirst."
Lukas antwortete nichts. Das bedrückte Aussehen des Königs hatte ihn stutzig gemacht.
Der König räusperte sich noch einmal, blickte Lukas mit ratlosen und bekümmerten Augen an und begann von neuem:
„Du warst doch immer ein verständiger Mann, Lukas."
„Worum dreht sich's denn?" fragte Lukas vorsichtig.
Der König nahm seine Krone ab, hauchte darauf und putzte sie mit dem Ärmel seines Schlafrockes blank. Er tat das, um Zeit zu gewinnen, denn er war sichtlich verwirrt. Dann setzte er die Krone mit einem entschlossenen Ruck wieder auf seinen Kopf, räusperte sich noch einmal und sagte:
„Mein lieber Lukas, ich habe lange nachgedacht, aber endlich bin ich zu dem Ergebnis gekommen, daß es nicht anders geht. Wir müssen es tun."
„Was müssen wir tun, Majestät?" fragte Lukas,
„Habe ich das nicht eben gesagt?" murmelte der König enttäuscht. „Ich dachte schon, ich hätte es eben gesagt."
„Nein", antwortete Lukas, „Sie haben nur gesagt, daß wir etwas tun müssen."
Der König blickte versonnen vor sich hin. Nach einer Weile schüttelte er verwundert den Kopf und sagte:
„Seltsam, ich hätte wetten können, daß ich eben gesagt habe, wir müßten die alte Emma abschaffen."
Lukas dachte, er hätte nicht recht gehört, darum fragte er:
„Was müssen wir Emma?"
„Abschaffen", antwortete der König und nickte ernst. „Es muß natürlich nicht sofort sein, aber doch so bald wie möglich. Ich weiß wohl, es ist für uns alle ein schwerer Entschluß, uns von Emma zu trennen. Aber wir müssen es tun."
„Niemals, Majestät!" sagte Lukas entschlossen. „Und außerdem: wieso überhaupt?"
„Sieh mal", meinte der König begütigend, „Lummerland ist ein kleines Land. Ein ganz außerordentlich kleines Land sogar im Vergleich zu anderen Ländern wie Deutschland oder Afrika oder China. Für einen König, eine Lokomotive, einen Lokomotivführer und zwei Untertanen reicht es gerade. Aber wenn nun noch ein Untertan dazukommt…"
„Es ist aber doch nur ein halber!" warf Lukas ein.
„O gewiß, gewiß", gab der König kummervoll zu, „aber wie lange noch? Er wird von Tag zu Tag größer. Ich muß an die Zukunft unseres Landes denken, dafür bin ich der König. Es wird gar nicht mehr lange dauern, dann ist Jim Knopf ein ganzer Untertan. Und dann will er sich doch ein eigenes Haus bauen. Nun sage mir bitte, wo sollen wir noch ein Haus hinstellen? Es ist doch überhaupt kein Platz mehr da, weil jede freie Stelle voller Gleise ist. Wir müssen uns einschränken. Es hilft nichts."
„Verflixt!" brummte Lukas und kratzte sich hinter dem Ohr.
„Siehst du", fuhr der König eifrig fort, „unser Land leidet jetzt einfach an Übervölkerung. Fast alle Länder der Welt leiden daran, aber Lummerland besonders. Ich mache mir schreckliche Sorgen. Was sollen wir tun?"
„Ja, ich weiß es auch nicht", sagte Lukas.
„Entweder müssen wir Emma, die Lokomotive, abschaffen, oder einer von uns muß auswandern, sobald Jim Knopf ein ganzer Untertan ist. Du bist doch Jims Freund, lieber Lukas. Willst du, daß der Junge von Lummerland weggehen muß, sobald er groß geworden ist?"
„Nein", sagte Lukas traurig, „das sehe ich schon ein."
Und nach einer kleinen Weile fügte er hinzu: „Aber von Emma kann ich mich auch nicht trennen. Was ist denn ein Lokomotivführer ohne eine Lokomotive?"
„Nun denn", meinte der König, „denke einmal darüber nach. Ich weiß, daß du ein vernünftiger Mann bist. Du hast ja noch etwas Zeit, dich zu entscheiden. Aber ein Entschluß muß gefaßt werden."
Und er gab Lukas die Hand, zum Zeichen, daß die Audienz beendet war.
Lukas erhob sich, setzte seine Mütze auf und verließ mit gesenktem Kopf den Palast. Der König sank seufzend in seinen Sessel zurück und wischte sich mit seinem seidenen Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Das Gespräch hatte ihn sehr angegriffen.
Lukas ging langsam zu seiner kleinen Station hinunter, wo Emma, die Lokomotive, stand und auf ihn wartete. Er klopfte ihr den dicken Leib und gab ihr etwas Öl, weil sie das besonders gerne mochte. Dann setzte er sich an die Landesgrenze und stützte den Kopf in die Hände.
Es war einer von den Abenden, an denen das Meer glatt und still dalag. Die untergehende Sonne spiegelte sich im endlosen Ozean und baute mit ihrem Licht eine goldene, glitzernde Straße vom Horizont bis vor die Füße des Lokomotivführers Lukas.
Lukas schaute auf diese Straße, die in weite Fernen führte, in unbekannte Länder und Erdteile, niemand konnte sagen, wohin. Er sah zu, wie die Sonne langsam unterging und wie die Straße aus Licht immer schmaler und schmaler wurde und zuletzt verschwunden war. Er nickte traurig und sagte leise:
„Gut. Wir werden gehen. Alle beide."
Ein leichter Wind wehte vom Meer herüber, und es wurde ein wenig kühl. Lukas erhob sich, ging zu Emma und betrachtete sie lange. Emma merkte wohl, daß irgend etwas geschehen war. Lokomotiven haben zwar keinen großen Verstand - deshalb brauchen sie ja auch immer einen Führer -, aber sie haben ein sehr empfindbares Gemüt. Und als Lukäs nun leise und traurig „Meine gute alte Emma!" murmelte, da wurde ihr so weh zumut, daß sie aufhörte zu schnaufen und den Atem anhielt.
„Emma", sagte Lukas leise und mit einer ganz unbekannten Stimme, „ich kann mich nicht von dir trennen. Nein, wir beide bleiben zusammen. Wo es auch immer sein mag, auf der Erde oder im Himmel - falls wir da überhaupt hinkommen."
Emma begriff zwar nichts von dem, was Lukas sagte. Aber sie hatte ihn sehr lieb, und sie konnte es einfach nicht aushalten, ihn so traurig zu sehen. Sie fing herzzerbrechend zu heulen an.
Lukas gelang es nur mühsam, sie zu beruhigen. „Es ist wegen Jim Knopf, verstehst du?" sagte er begütigend. „Er wird bald ein ganzer Untertan sein, und dann ist hier für einen von uns kein Platz mehr. Und weil ein Untertan für ein Land wichtiger ist als eine dicke alte Lokomotive, hat der König entschieden, daß du weg mußt. Aber wenn du weg mußt, dann gehe ich mit, das ist doch klar. Was sollte ich denn ohne dich anfangen?"
Emma holte tief Luft und wollte eben wieder losheulen, als plötzlich eine helle Stimme fragte:
„Was is' los?"
Es war Jim Knopf, der auf Lukas gewartet hatte und dabei schließlich im Kohlentender eingeschlafen war. Als Lukas angefangen hatte, mit Emma zu reden, war er aufgewacht und hatte, ohne es zu wollen, alles mit angehört.
„Hallo, Jim!" rief Lukas überrascht. „Das war eigentlich nicht für dich bestimmt. Aber meinetwegen, warum sollst du's nicht wissen? Ja, Emma und ich, wir beide gehen weg. Für immer. Es muß wohl sein."
„Wegen mir?" fragte Jim erschrocken.
„Wenn man es bei Licht betrachtet", sagte Lukas, „dann hat der König nicht so unrecht. Lummerland ist einfach zu klein für uns alle."
„Und wann wollt ihr fort?" stammelte Jim.
„Am besten ist es, den Abschied nicht lange hinauszuziehen, wenn es schon einmal sein muß", antwortete Lukas ernst. „Ich denke, wir fahren gleich heute nacht."
Jim überlegte eine Weile. Dann sagte er plötzlich entschlossen:
„Ich fahr' mit."
„Aber Jim!" rief Lukas. „Das geht auf gar keinen Fall. Was würde Frau Waas dazu sagen? Sie würde es niemals erlauben."
„Am besten fragen wir sie erst gar nicht", entgegnete Jim bestimmt. „Ich werd' ihr einen Brief auf den Küchentisch legen, in dem ich ihr alles erkläre. Wenn sie weiß, daß ich mit dir gefahren bin, dann wird sie sich schon keine zu großen Sorgen machen."
„Das glaub' ich aber doch", sagte Lukas und machte ein bedenkliches Gesicht. „Außerdem kannst du doch gar nicht schreiben."
„Ich werd' eben einen Brief zeichnen", erklärte Jim.
Aber Lukas schüttelte ernst den Kopf. „Nein, mein Junge, ich kann dich nicht mitnehmen. Es ist zwar sehr nett von dir, und ich würde es auch gerne tun. Aber es geht nicht. Du bist schließlich noch ein ziemlich kleiner Junge, und du würdest uns nur…"
Er hielt inne, weil Jim ihm plötzlich sein Gesicht zuwandte, und dieses Gesicht war sehr entschlossen und sehr unglücklich.
„Lukas", sagte Jim leise, „warum redest du solche Sachen? Du würdest schon sehen, wie gut ihr mich gebrauchen könntet."
„Na ja", antwortete Lukas ein wenig verlegen, „natürlich, du bist ja ein brauchbarer kleiner Bursche, und in manchen Lagen ist es sogar von Vorteil, wenn man klein ist. Das ist schon richtig…"
Er zündete seine Pfeife an und paffte eine Weile schweigend vor sich hin. Er war schon nahe daran, zuzustimmen; aber er wollte den Jungen prüfen. Darum begann er wieder:
„Denk doch mal nach, Jim! Emma soll ja gerade weg, damit du in Zukunft genügend Platz hast. Wenn du jetzt gehst, dann könnte Emma ja ruhig bleiben. Und ich auch."
„Nein", sagte Jim mit trotzigem Gesicht, „ich werd' doch meinen besten Freund nicht verlassen. Entweder wir bleiben alle drei hier, oder wir gehen alle drei weg. Hier bleiben können wir nicht. Dann gehn wir eben - alle drei."
Lukas lächelte.
„Das ist wirklich nett von dir, alter Jim", sagte er und legte seinem Freund die Hand auf die Schulter. „Ich fürchte nur, das wird dem König gar nicht recht sein. So hat er sich das sicher nicht vorgestellt."
„Das is' mir gleich", erklärte Jim. „Ich fahr' jedenfalls mit dir."
Lukas überlegte wieder eine ganze Weile und hüllte sich in den Rauch seiner Pfeife. Das tat er immer, wenn er gerührt war. Er wollte nicht, daß jemand es sehen sollte, aber Jim kannte ihn.
„Gut!" kam schließlich Lukas' Stimme aus der Rauchwolke. „Ich erwarte dich also um Mitternacht hier."
„In Ordnung", antwortete Jim.
Sie gaben sich die Hand, und Jim war schon im Weggehen, als Lukas ihn noch einmal zurückrief.
„Jim Knopf", sagte Lukas, und es klang beinahe feierlich, „du bist wirklich der feinste kleine Kerl, den ich in meinem Leben gesehen habe."
Damit drehte er sich um und ging schnell davon. Jim schaute ihm gedankenvoll nach, dann lief auch er nach Hause. Lukas' Worte klangen noch in seinem Ohr, und zugleich mußte er an Frau Waas denken, die immer so gut und lieb zu ihm gewesen war.
Und ihm war ganz glücklich und elend zugleich zumut.