EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL in dem Jim und Lukas eine Schule in „Kummerland" kennenlernen

Als Emma eine Weile in den Straßen umhergeirrt war, tauchte eine unvorhergesehene Schwierigkeit auf. Wie sollten die beiden Freunde in dieser riesigen Stadt jemals die „Alte Straße" finden? Sie konnten ja nicht einfach aussteigen und jemand danach fragen. Es gab nur die eine Möglichkeit: Sie mußten sich aufs Geratewohl auf die Suche machen. Das konnte allerdings Stunden dauern, aber da half nun einmal nichts. Doch sie hatten Glück. Schon an der nächsten Straßenkreuzung entdeckte Lukas, als er vorsichtig zwischen den Decken hinauslugte, an einer Ecke ein Steinschild mit der Aufschrift:

Alte Straße

Jetzt brauchten sie nur noch den Hausnummern zu folgen, die über den Eingängen eingemeißelt waren.

Kurze Zeit später hatten sie auch schon das Haus Nummer 133 gefunden.

„Hast du Angst, Jim?" fragte Lukas leise.

Jim dachte schnell nochmal an den Scheinriesen, und daß alles von nahem besehen vielleicht gar nicht so gefährlich sein würde, wie es jetzt schien. Entschlossen sagte er:

„Nein, Lukas."

Und dann fügte er, um bei der vollen Wahrheit zu bleiben, hinzu:

„Jedenfalls nicht viel."

„Schön", meinte Lukas, „dann kann's also losgehen."

„Ja", antwortete Jim, „es kann losgehen."

Lukas lenkte Emma vorsichtig durch das riesige Haustor. Sie kamen in ein Treppenhaus, das so geräumig war wie eine Bahnhofshalle. Die Treppe führte in einer gewaltigen Spirale immer rundherum, höher und höher hinauf. Es war nicht zu erkennen, wo sie endete. Fahle Düsternis lag über dem großen Raum. Merkwürdigerweise bestand die Treppe nicht aus Stufen, sondern sie stieg wie eine gewundene Straße aufwärts. In ganz Kummerland durfte es nämlich keine Stufen geben, und der Grund dafür ist leicht einzusehen: Große Stufen hätten die kleinen dackelartigen Drachen nicht ersteigen können, und niedrige Stufen mußten wieder viel zu unbequem für die güterzuggroßen Drachen sein. Also wurden Stufen ganz weggelassen. Außerdem hatte diese Lösung noch einen anderen Vorzug. Eben kam nämlich ein Drache von oben heruntergesaust. Er hatte sich einfach auf seinen horngepanzerten Schwanz gesetzt und rutschte wie auf einem Rodelschlitten die Treppenspirale abwärts.

Die beiden Freunde waren sehr zufrieden, daß es keine Stufen gab, da sie für Emma ein unüberwindliches Hindernis dargestellt hätten. So konnten sie nun ganz bequem hinauffahren.

Und das taten sie auch, immer rundherum, bis sie in der dritten Etage ankamen.

Vor der ersten Türe links hielten sie an. Sie war so hoch und breit, daß ein zweistöckiger Autobus ohne Schwierigkeiten durchgekommen wäre. Aber leider war die Öffnung mit einer riesigen Steinplatte verschlossen:

Frau Mahlzahn

Gefälligst 3 Mal klopfen!

Besuch unerwünscht

war darauf eingemeißelt. Darunter befand sich ein steinerner Türklopfer in Gestalt eines Totenschädels, der einen Ring zwischen den Zähnen hielt.

Lukas las Jim leise die Inschrift vor.

„Sollen wir klopfen?" fragte Jim zweifelnd.

Lukas schüttelte den Kopf. Er spähte vorsichtig nach allen Seiten hinaus. Als er sah, daß kein Drache in der Nähe war, stieg er rasch entschlossen aus und stemmte sich mit aller Kraft gegen die große Steinplatte. Tatsächlich, sie ließ sich mit äußerster Anstrengung bewegen. Lukas schob sie aus dem Weg, soweit es ging, dann kletterte er in das Führerhaus zurück.

„Besser, wir haben Emma bei uns", erklärte er flüsternd, setzte die Lokomotive in Bewegung und fuhr so geräuschlos wie möglich in die Wohnung hinein. Drinnen hielt er noch einmal an, kroch hinaus und schob die Steinplatte wieder zu. Dann winkte er Jim. Der Junge kletterte vorsichtig aus dem Führerhäuschen.

„Darf man denn einfach ohne Erlaubnis mit einer Lokomotive in eine fremde Wohnung hineinfahren?" flüsterte er besorgt.

„In diesem Fall geht es nicht anders", antwortete Lukas leise. „Jetzt müssen wir erst mal die Lage auskundschaften."

Sie ließen Emma stehen, schärften ihr aber ein, sich ja mucksmäuschenstill zu verhalten. Dann schlichen sie, Lukas voran und Jim hinter ihm drein, den langen finsteren Flur entlang. An jeder Türöffnung blieben sie stehen und lugten vorsichtig in die Räume hinein. Nirgends war jemand zu sehen, weder ein Mensch, noch ein Drache. Alle Möbel in den Zimmern waren ganz und gar aus Steinen: Steintische, Steinsessel, Steinsofas, auf denen Steinkissen lagen, und an einer Wand hing sogar eine große Uhr, ganz und gar aus Steinen, deren Tick-Tack unheimlich steinern durch die Stille klang. Fenster gab es nicht, statt ihrer befanden sich in den Wänden ziemlich hoch oben Löcher, durch die trübes Tageslicht hereinfiel.

Als die beiden Freunde sich vorsichtig dem anderen Ende des Ganges näherten, hörten sie plötzlich aus dem letzten Zimmer eine schrille, häßliche Stimme, die laut und wütend aufbrüllte. Dann war es wieder still. Jim und Lukas lauschten angespannt. Jetzt kam es ihnen vor, als vernähmen sie ganz leise, kaum hörbar, eine ängstliche Kinderstimme, die stockend etwas aufsagte. Die Freunde wechselten einen bedeutungsvollen Blick. Rasch schlichen sie auf die Tür dieses Raumes zu und spähten hinein.

Vor ihnen lag ein großer Saal, in dem drei Reihen steinerner Schulbänke standen. An diesen Pulten saßen etwa zwanzig Kinder aus den verschiedensten Ländern, Indianerkinder und weiße Kinder und kleine Eskimos und braune Jungen mit Turbanen auf dem Kopf, und in der Mitte saß ein ganz entzückendes kleines Mädchen mit zwei schwarzen Zöpfen und einem zarten Gesicht wie eine chinesische Porzellanpuppe. Das war ohne Zweifel Prinzessin Li Si, die Tochter des Kaisers von China.

Alle Kinder waren mit Eisenketten an die Schulbänke gefesselt, so daß sie sich zwar bewegen, aber nicht weglaufen konnten. An der hinteren Wand des Saales stand eine große steinerne Schultafel, und daneben erhob sich wie ein Kleiderschrank ein riesiges Pult aus einem Felsblock. Dahinter saß ein ganz besonders scheußlicher Drache. Er war noch ein gutes Stück größer als Emma, die Lokomotive, aber sehr viel dünner, geradezu mager. Er hatte eine spitze Schnauze, die mit dicken Warzen und Borsten bedeckt war. Die kleinen stechenden Augen blickten durch funkelnde Brillengläser, und in einer Tatze hielt er einen Bambusstock, den er beständig durch die Luft pfeifen ließ. Ein dicker Adamsapfel tanzte an dem langen dünnen Hals auf und nieder, und aus dem großen grausamen Maul ragte ein einziger langer Zahn unsagbar abstoßend hervor. Es war klar: Dieser Drache konnte niemand anderer sein als Frau Mahlzahn.

Die Kinder saßen alle sehr aufrecht da und wagten nicht, sich zu bewegen. Sie hatten ihre Hände vor sich auf die Pulte gelegt und blickten mit angstvollen, verstörten Augen auf den Drachen.

„Das sieht ja aus wie eine Schule", flüsterte Lukas Jim ins Ohr.

„O jemine!" hauchte Jim, der noch nie eine Schule gesehen hatte.,,Is' Schule immer so?"

„Gott bewahre!" raunte Lukas. „Manche Schulen sind sogar ganz nett. Allerdings sind dort keine Drachen als Lehrer, sondern einigermaßen vernünftige Leute!"

„Rrrrrruhe!" schrie jetzt der Drache und ließ den Stock durch die Luft pfeifen. „Werrrr hat da eben geflüsterrrrt?"

Lukas und Jim verstummten und zogen ihre Köpfe zurück. Angstvolles Schweigen herrschte in der Klasse.

Jims Blick wanderte immer wieder zu der kleinen Prinzessin hin. Und jedesmal, wenn er sie ansah, gab es ihm einen kleinen Stich im Herzen. Die kleine Prinzessin gefiel ihm gar zu gut. Er konnte sich nicht erinnern, jemals vorher jemanden getroffen zu haben, der ihm gleich von Anfang an so sehr gefallen hatte. Außer Lukas natürlich. Aber das war etwas ganz anderes. Lukas war nicht gerade schön, das konnte man bei aller Freundschaft nicht behaupten. Aber die kleine Prinzessin war es. Sie war so reizend und schien dabei so zart und zerbrechlich, daß Jim sofort den Wunsch hatte, sie zu beschützen. Alle Angst war plötzlich wie weggeblasen, und er war fest entschlossen, Li Si zu befreien, koste es, was es wolle! Der Drache funkelte die Kinder mit seinen Brillengläsern wütend an und schrie mit einer schrillen, keifenden Stimme:

„Achchchch, ihrrr wollt mirrrr nichchcht antworrrten, werrr da eben geflüsterrrt hat? Na, warrrtet nurrrrr!"

Der Adamsapfel tanzte erbost auf und nieder, und plötzlich kreischte das Ungeheuer:

„Wiiiiiieviiiiiel issssst - siiiiieben mal achchcht? Du da!"

Ein Indianerjunge, auf den der Drache mit dem Stock gezeigt hatte, sprang auf. Er war noch sehr klein, vielleicht erst vier oder fünf Jahre alt. Aber er hatte schon drei Federn in seinem schwarzen Haarschopf. Wahrscheinlich war er ein Häuptlingssohn. Er blickte Frau Mahlzahn aus großen verstörten Augen an und stammelte:

„Sieben mal acht ist - sieben mal acht - das ist - das ist -"

„Das ist, das ist!" keifte der Drache giftig. „Wirrrd's bald?"

„Sieben mal acht ist zwanzig", sagte der kleine Indianerjunge entschlossen.

„Ssssso?" zischte der Drache höhnisch, „wassss du nichchchcht sagst. Zwanzig ist dasssss?"

„Nein, n-n-n-nein!" stotterte der kleine Indianerjunge verwirrt. „Ich wollte sagen fünfzehn."

„Schlußßßßß!" schrie der Drache schrill und funkelte den kleinen Indianer mit seinen Brillengläsern an. „Du weißßßt es also nichchcht? Du bisssst dassss dümmste und faulste Kind, das ich kenne. Und Dummheit und Faulheit müsssssen bestrrrrraft werrrden!"

Damit stand der Drache auf, ging auf den Jungen zu, legte ihn über die Bank und hieb wütend auf ihn ein. Als die Exekution vorüber war, setzte sich der Drache befriedigt schnaufend wieder hinter sein Pult.

Dem kleinen Indianer standen die Augen voller Tränen, aber er weinte nicht. Indianer sind ja bekanntlich sehr tapfer.

Jim war vor Zorn und Empörung ganz fahl im Gesicht geworden, trotz seiner schwarzen Hautfarbe. „So eine Gemeinheit!" knirschte er.

Lukas nickte. Er konnte nicht reden, sondern ballte nur die Fäuste.

Jetzt fragte der Drache lauernd:

„Wiiiiieviiiiel issst also siiiieben mal achchcht? Li Si?"

Jims Herz setzte einen Schlag aus. Es durfte nicht geschehen, daß auch die kleine Prinzessin Prügel bekam! Aber es war ja ganz unmöglich, daß sie die Antwort auf so eine schwere Frage wußte. Er mußte sofort etwas unternehmen!

Aber Jim hatte nicht bedacht, daß Li Si ein chinesisches Kind war, und daß chinesische Kinder schon mit vier Jahren die schwersten Rechnungen bewältigen können.

Die kleine Prinzessin stand auf und sagte mit einer Stimme, die so süß klang wie das Gezwitscher eines kleinen Vogels: „Sieben mal acht ist sechsundfünfzig."

„Achchch!" fauchte der Drache ärgerlich, weil es nämlich richtig war.

„Und wiiiieviiiel isssst drrrreizehn weniger sechchchsss?"

„Dreizehn weniger sechs", antwortete Li Si mit ihrer Vogelstimme, „ist sieben."

„Bahhhh!" machte der Drache wütend, „du kommst dirrr wohll sehrrr klug vorrrr, weil du alles weißßßt, wasssss? Du bist ein ganz frrrreches, eingebildetes Ding, verrrrstehst du? Aber warrrte nurrrr, ob du auchchch das kannssst: Sag mirrr soforrrt das Einmaleins mit siiiieben auf! Aber ein bißßßchen schnell, wenn's beliiiiiebt!"

„Einmal sieben ist sieben", begann Li Si, und es klang, als sänge eine Nachtigall. „Zweimal sieben ist vierzehn, dreimal sieben ist einundzwanzig…" und so fuhr sie fort und sagte das ganze Einmaleins mit sieben richtig auf. Jim hätte es nie für möglich gehalten, daß sich so etwas so hübsch anhören könnte. Der Drache lauschte gespannt, aber nur, um einen Fehler zu entdecken. Dabei ließ er den Stock boshaft durch die Luft pfeifen.

Jetzt flüsterte Lukas:

„Jim!"

„Ja?"

„Hast du Mut?"

„Ja."

„Gut, Jim. Hör zu: Ich weiß jetzt, wie wir's machen. Wir werden dem Drachen noch eine Gelegenheit geben, die Kinder freiwillig herauszurücken. Wenn er nicht darauf eingeht, dann müssen wir Gewalt anwenden, obwohl ich Gewalt nicht leiden kann."

„Wie wollen wir's denn machen, Lukas?"

„Du mußt hingehen und mit ihm verhandeln, Jim. Erzähl dem Drachen, was du willst. Das überlasse ich dir. Aber verrate ihm nichts von Emma und mir! Ich warte mit Emma hier draußen, und wenn es sein muß, dann kommen wir dir zu Hilfe. Alles klar?"

„In Ordnung", sagte Jim entschlossen.

„Mach's gut!" flüsterte Lukas und schlich davon, um die Lokomotive zu holen.

Inzwischen war die kleine Prinzessin mit dem Einmaleins fertig geworden. Sie hatte keinen Fehler gemacht. Aber gerade deshalb war der Drache erst recht wütend. Er lief auf Li Si zu, knuffte sie und schrie:

„Sssssssssso, und nun bildessst du dirrrr wohl ein, du könntest michch damit ärrrrgerrrrn, daß du keinen Fehlerrrrr gemachchcht hast, du hochchchchnäsiges und eingebildetes Görrrrrr! Wassssss? Wiiiiie? Antworrrrrrrrte, wenn man dich frrrrrragt!"

Die Prinzessin blieb stumm. Was hätte sie auch antworten sollen?

„Wasss!" zischte der Drache, „du bist wohl zu stolzzzz, mir zu antworrrrten, he? Na, das werde ich dir austrrrrreiben! Warrrrte nurrrr! Du bist hochchchmütig und eitel. Und Hochchmut und Eitelkeit müssssen bestrrrrrrraft werrrrrden!"

Eben wollte der Drache die kleine Prinzessin über die Bank legen, als plötzlich eine helle zornige Jungenstimme rief:

„Einen Augenblick, Frau Mahlzahn!"

Der Drache wandte sich erstaunt um und sah einen kleinen schwarzen Jungen in der Tür stehen, der ihn furchtlos anblickte.

„Sie dürfen Li Si nichts tun", sagte Jim fest.

„He, du frrrrrecher schwarrrrzer Drrrreckspatz!" grunzte der Drache verblüfft. „Wo kommst du denn her, und werrrr bist du überrrrrhaupt?"

„Ich bin Jim Knopf", antwortete Jim ruhig. „Ich komm' von Lummerland, um die Prinzessin Li Si zu befreien. Und die andern Kinder auch."

Durch die Schar der Kinder ging ein Tuscheln und Flüstern, und alle schauten Jim mit großen Augen an. Besonders die kleine Prinzessin war sehr beeindruckt, wie der kleine schwarze Junge da so gefaßt und mutig dem riesigen Ungeheuer gegenübertrat.

Der Drache teilte schnell nach allen Seiten ein paar Püffe und Knüffe aus und kreischte empört: „Rrrrruhe! Wassss fällt euch denn ein, ihrrrr ungezogene Rrrrrasssselbande!"

Dann wandte er sich wieder zu Jim und fragte mit scheinheiliger Freundlichkeit, wobei er die Lippen ganz spitz machte:

„Hat dich die,Wilde Drrrrreizehn' zzzzzu mirrrrr geschickt, mein Kleinerrrrrr?"

„Nein", erwiderte Jim, „mich hat niemand geschickt."

In den stechenden Augen des Drachen flackerte es unsicher.

„Wasss heißßßßt dassss?" zischelte er. „Bissst du etwa von allein zu mirrr gekommen? Vielleichchcht gar, weil du michchchch gerrrrn hast?"

„Nein", antwortete Jim, „das nicht. Aber ich will das Geheimnis meiner Herkunft erforschen, und da könnten Sie mir vielleicht dabei helfen."

„Warrrrum gerrrrade ichchchch?" fragte der Drache lauernd.

„Weil auf dem Paket, in dem ich nach Lummerland gekommen bin, eine Dreizehn als Absender gestanden hat und als Adresse Frau Malzaan oder so ähnlich."

„Achchchch!" stieß der Drache überrascht hervor, und ein boshaftes Grinsen verbreitete sich langsam über sein warzenbedecktes Gesicht. „D u u u u u bist das also, mein Herzzzzzchen! Ich habe dichchch schon seit langer Zzzzzzeit erwarrrrrtet."

Jim lief ein kalter Schauer über den Rücken, aber er faßte sich sofort wieder und fragte höflich:

„Können Sie mir vielleicht sagen, wer meine richtigen Eltern sind."

„Du brrrrauchst nicht längerrrr zu suchen, mein Goldkind", kicherte der Drache. „Du gehörrrrst nämlich mirrrrrrrr!"

„Das hab' ich zuerst auch gemeint", entgegnete Jim entschlossen. „Aber jetzt weiß ich, daß ich mit Ihnen nichts zu tun hab'."

„Aberrr ich habe dichchchch dochchchch von der,Wilden Dreizehn' gekauft!" knurrte der Drache und blinzelte hinterlistig.

„Das is' mir gleich", versetzte Jim. „Ich fahr' lieber wieder nach Lummerland."

„Wirrrrrklich?" fragte der Drache tückisch. „Wirrrrst du mirrrr das antun? Wassss du nicht sagst, mein Bürrrrrrschchen!"

„Ja", sagte Jim. „Und die Prinzessin werd' ich mitnehmen. Und die andern Kinder auch."

„Aberrrr wenn ich nun die Kinderrrr nicht herrrrausgebe?" erkundigte sich der Drache, immer noch mit lauernder Sanftheit.

„Sie werden schon müssen, Frau Mahlzahn!" antwortete Jim und wechselte einen raschen Blick mit der kleinen Prinzessin.

Jetzt brach der Drache in ein kreischendes Hohngelächter aus:

„Hi hi hi hi hi! Hat man schon je einen solchen Dummkopf gesehen!? Ho ho ho ho ho! Er issst wahrhaftig von allein zzzzzu mirrrr gekommen! Da bisssst du mirrrr ja schön in die Falle gegangen. Har har har!"

„Sie sollten lieber nicht so laut lachen!" rief Jim zornig. „Geben Sie die Kinder freiwillig heraus oder nicht?"

Der Drache mußte sich geradezu die Seiten halten vor Heiterkeit. „Nein!" prustete er. „Nein, du schmutzige kleine Krrrrabbe, das werrrde ich bestimmt nichchchcht tun."

Plötzlich brach sein Gelächter ab. Er funkelte Jim gefährlich an und knurrte:

„Alle diese Kinderrrr gehörrrren mirrrr, mirrrr ganz allein, verrrstehst du? Niemand hat mehr ein Rrrrrecht auf sie. Ich habe sie alle von der,Wilden Dreizehn' gekauft. Ich habe dafür bezzzzahlt! Jetzt gehörrrren sie mirrrrrrrrrr!"

„Aber woher hat die,Wilde Dreizehn' die Kinder, die sie Ihnen verkauft?" fragte Jim und blickte dem Drachen fest in die Augen.

„Das geht dich garrrr nichts an!" fauchte der Drache erbost.

„Doch, Frau Mahlzahn!" antwortete Jim tapfer. „Das geht mich schon was an. Die kleine Prinzessin zum Beispiel is' geraubt worden!"

Der Drache geriet völlig außer sich vor Wut. Er peitschte den Boden mit seinem langen Schwanz und kreischte:

„Das ist mirrrrr ganzzzz gleich! Jetzt gehört sie jedenfalls mirrrrrrr!!!! Und du gehörrrrst auch mirrrrrrrrr!!!!!!! Und deine Heimat wirst du niemals wiedersehen, du Schwachchchchchkopf! Ich lasse dich nie wieder forrrrrrrrrrrrrrrrrrtttttttt!"

Dabei stampfte er langsam auf Jim zu.

„Chchchchchch!" fauchte er. „Zzzzzzzur Begrüssssssung werde ich dich erst einmal tüchchchchchchtig durrrrrrchprügeln, mein Herzzzzzzchen, daßßßßßß dir dein vorlautes Mundwerrrrrrk verrrrrrrrgeht!"

Und er griff mit seiner riesigen Tatze nach dem Jungen. Aber Jim wich geschickt aus. Der Drache schlug mit dem Stock um sich, aber die Hiebe gingen ins Leere. Wie ein Wiesel lief Jim um das große steinerne Pult und die Schulbänke herum. Der Drache blieb ihm hart auf den Fersen, aber es gelang ihm nicht, den Jungen zu erwischen. Er wurde immer erboster, und vor Wut und Ärger lief er rot und grün an, und auf seinem Leib bildeten sich überall Warzen und Beulen. Es war wirklich ein äußerst unappetitlicher Anblick.

Jim geriet allmählich außer Atem. Er mußte husten und nach Luft ringen, denn der Drache spuckte fortwährend Rauch und Feuer. Wo mochte nur Lukas bleiben? Er hatte doch versprochen, mit Emma zu Hilfe zu kommen. Der ganze große Raum war bereits voller Qualm, und Jim konnte kaum noch sehen, wohin er lief. Da endlich erscholl Emmas heller Pfiff. Der Drache fuhr herum und erblickte durch die Rauchschwaden ein furchterregendes Ungetüm, das mit hellflammenden Augen auf ihn zu kam. Dieses Ungeheuer schien zwar nicht ganz so groß zu sein wie er selbst, aber dicker und kräftiger.

„Wasssss wollen Sie hierrrrrr?" kreischte der Drache in äußerster Wut. „Werrrrr hat Ihnen errrrrrrlaubt…?"

Weiter kam er nicht mehr, denn Emma brauste wie ein Orkan auf ihn los und versetzte ihm mit ihren Puffern einen heftigen Stoß. Der Drache schlug mit seinen mächtigen Tatzen und dem langen gepanzerten Schwanz zurück. Und nun entspann sich zwischen den beiden ein Zweikämpf von furchtbarer Wildheit.

Der Drache heulte und kreischte und fauchte und spie ununterbrochen Feuer und Rauch gegen Emma und setzte ihr so hart zu, daß es eine ganz Weile fraglich schien, wer die Oberhand behalten würde. Aber Emma ließ sich nicht einschüchtern. Sie spuckte ebenfalls aus Leibeskräften Funken und Rauch und rollte wieder und wieder zu einem neuen Angriff vor. Nach und nach ging dabei ihre Drachenverkleidung in Stücke, und es kam immer deutlicher zum Vorschein, daß sie kein Ungeheuer, sondern eine Lokomotive war.

Die Kinder, die angekettet auf ihren Bänken bleiben mußten und nicht weglaufen konnten, verfolgten den Zweikampf anfangs voller Entsetzen. Als sie aber die wahre Natur des fremden Drachen entdeckten, jubelten sie und feuerten Emma begeistert an:

„Eine Lokomotive!" schrien sie. „Bravo, Lokomotive! Hoch die Lokomotive!"

Schließlich holte Emma zu einem letzten Anlauf aus und traf den Drachen noch einmal mit aller Wucht, und der Drache fiel um und lag hilflos auf dem Rücken und streckte alle viere von sich.

Lukas sprang aus dem Führerhäuschen und rief:

„Schnell, Jim! Wir müssen ihn fesseln, ehe er wieder zu sich kommt!"

„Aber womit?" fragte Jim, noch völlig atemlos.

„Hier, mit unseren Ketten!" schrie aufgeregt der kleine Indianer. „Nehmt ihm den Schlüssel ab. Er trägt ihn an einer Schnur um den Hals!"

Jim sprang zu dem Drachen und biß den Strick mit seinen Zähnen durch. Dann schloß er geschwind die Schlösser an den Ketten der nächstsitzenden Kinder auf. Als er zu der kleinen Prinzessin kam, bemerkte er, daß sie errötete und mit einer allerliebsten Bewegung ihr Köpfchen wegdrehte.

„Das Biest kommt schon wieder zur Besinnung!" rief Lukas. „Mach schnell!"

Sie wickelten eine Kette um die Schnauze des Drachen, damit er auf jeden Fall das Maul nicht mehr aufreißen konnte. Danach fesselten sie ihm die Vorderund Hinterbeine.

„So!" seufzte Lukas befriedigt und wischte sich den Schweiß von der Stirn, als Jim den Schlüssel im letzten Schloß umdrehte. „Jetzt kann nicht mehr viel passieren."

Nachdem Jim alle Kinder befreit hatte, gab es natürlich zunächst einmal ein riesiges Hallo. Alle waren ganz außer Rand und Band vor Freude. Sie lachten und jubelten und schrien durcheinander, und die Kleinsten hüpften herum und klatschten in die Hände.

Lukas und Jim saßen lächelnd inmitten des Trubels. Die Kinder drängten sich um sie und bedankten sich wieder und wieder. Auch zu Emma gingen sie hin, lobten sie gebührend und klopften sie auf den dicken Leib. Ein paar Jungen kletterten sogar schon auf ihr herum und begutachteten alle Einzelheiten. Emmas verbeultes Gesicht strahlte vor Vergnügen und Rührung.

Lukas ging auf den Flur hinaus und legte den schweren Riegel an der steinernen Wohnungstür vor.

„So, Leute", sagte er zu den Kindern, als er zurückkam, „vorläufig sind wir in Sicherheit. Niemand kann uns jetzt überraschen. Wir haben ein bißchen Zeit. Ich schlage vor, wir beraten erst mal, wie wir am besten aus dieser ungemütlichen Drachenstadt herauskommen können. Durch die Eingangshöhle, wo wir hereingekommen sind, ist die Flucht zu gefährlich, fürchte ich. Erstens ist Emmas Verkleidung kaputt gegangen, und zweitens haben wir auch nicht alle im Führerhäuschen Platz. Die Drachenwächter würden bestimmt was merken. Wir müssen uns also einen anderen Plan ausdenken."

Eine Weile dachten alle angestrengt nach, aber keinem fiel eine Lösung ein. Plötzlich fragte Jim mit gerunzelter Stirn: „Li Si, wo hast du eigentlich damals deine Flaschenpost ins Wasser geworfen?"

„In den Fluß, der hinter unserm Haus entspringt", antwortete die Prinzessin.

Jim und Lukas wechselten einen Blick der Verwunderung, und Lukas schlug sich aufs Knie und rief: „Also doch! Sollte Nepomuk uns angeschwindelt haben?"

„Kann man den Fluß von hier aus sehen?" erkundigte sich Jim.

„Ja", antwortete die Prinzessin, „kommt, ich zeige ihn euch."

Sie führte die beiden Freunde in einen Raum auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs. Dort standen etwa zwanzig kleine steinerne Betten. Es war der Schlafsaal, in den der Drache jeden Abend die Kinder eingesperrt hatte. Wenn man eines der Betten an die Wand schob und sich darauf stellte, dann konnte man oben durch ein Felsenloch hinausschauen. Und tatsächlich - dort unten lag in der Mitte eines merkwürdigen dreieckigen Platzes ein riesiges rundes Brunnenbecken, in dem ein mächtiger Quell eigenartigen goldgelben Wassers entsprang, das über die Ränder des steinernen Brunnens strömte und einen breiten Fluß bildete, der sich durch den düsteren Grund der Häuserschluchten davonschlängelte.

Nachdenklich blickten Lukas und Jim auf diesen Ursprung des Gelben Flusses hinunter, denn daß es sich um diesen handelte, war nicht zu bezweifeln. Inzwischen waren alle Kinder in den Schlafsaal herübergekommen und standen erwartungsvoll um die beiden Freunde herum.

„Wenn Li Sis Flaschenpost mit der Strömung bis nach China geschwommen ist", meinte Jim zögernd, „dann müßten wir's doch vielleicht auch können."

Lukas nahm die Pfeife aus dem Mund.

„Donnerwetter, Jim", brummte er, „das ist eine Idee! Nein, das ist mehr als eine Idee, das ist bereits ein fertiger Plan und zwar der kühnste! Es wird eine Fahrt ins vollkommen Unbekannte." Er kniff die Augen zusammen und paffte unternehmungslustig vor sich hin.

„Ich kann aber nicht schwimmen", wandte ein kleines Mädchen ängstlich ein.

Lukas schmunzelte.

„Macht nichts, kleines Fräulein. Wir haben nämlich ein prächtiges Schiff. Unsere gute dicke Emma schwimmt wie ein Schwan. Allerdings brauchen wir dazu Teer oder Pech, um alle Ritzen zu kalfatern."

Aber das war zum Glück keine Schwierigkeit, denn Pech gab es in der Vorratskammer des Drachen gleich mehrere Fässer voll - wovon die beiden Freunde sich sofort überzeugen konnten. Es gehörte ja zu den hauptsächlichsten Nahrungsmitteln der Bewohner von Kummerland.

„Paßt auf, Leute", sagte Lukas, „wir warten am besten, bis es Nacht ist. Im Schutz der Dunkelheit treiben wir mit der Strömung auf unserer Lokomotive aus der Drachenstadt hinaus, und morgen früh sind wir schon weit weg von hier."

Die Kinder stimmten dem Plan begeistert zu.

„Gut", schlug Lukas vor, „dann ist es am vernünftigsten, wir legen uns jetzt alle ein bißchen aufs Ohr und schlafen auf Vorrat. Einverstanden?"

Das waren alle. Zur Sicherheit schloß Jim noch das Klassenzimmer ab, in dem Emma auf den gefesselten Drachen aufpaßte, dann machten es sich alle auf den steinernen Betten im Schlaf saal gemütlich, so gut es eben ging, und schlummerten ein. Nur Lukas saß in einer Ecke des Raumes in einem riesigen steinernen Ohrenbackenstuhl, schmauchte seine Pfeife und bewachte die Träume der Kinder.

Der kleine Indianer träumte von seinem heimatlichen Wigwam und von seinem Großonkel, dem Häuptling „Weißer Adler", der ihm eine neue Feder verlieh. Und der kleine Eskimo träumte von einem kugeligen Schneehaus, über dem die Nordlichter am Himmel spielten, und von seiner weißhaarigen Tante Ulubolo, die ihm eine Tasse heißen Leberträn vorsetzte. Und das kleine Mädchen aus Holland sah im Traum die unermeßlichen Tulpenfelder seiner Heimat und mitten drin das kleine weiße Häuschen seiner Eltern, vor dem viele mühlensteingroße runde Käse lagen. Und die kleine Prinzessin ging im Traum an der Hand ihres Vaters über eine zierliche Brücke aus Porzellan.

Jim Knopf war im Traum in Lummerland. Er saß in der kleinen Küche bei Frau Waas. Die Sonne schien zum Fenster herein, und er erzählte von seinen Abenteuern. Und die kleine Prinzessin Li Si saß neben Frau Waas und hörte ihm voll Bewunderung zu.

So träumte jedes Kind von seinem Lande, und währenddessen brach allmählich die Dunkelheit herein, und es näherte sich die Stunde des Aufbruchs.

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