VIERZEHNTES KAPITEL in dem Lukas erkennen muß, daß er ohne seinen kleinen Freund Jim verloren wäre

„Das ist ja gerade noch mal gut gegangen!" knurrte Lukas, schob die Mütze ins Genick und trocknete sich den Schweiß von der Stirn.

„Ich glaub'", sagte Jim, dem der Schrecken noch in allen Gliedern saß, „durch das,Tal der Dämmerung' wird nie mehr jemand kommen können."

„Nein", antwortete Lukas ernst. „Das,Tal der Dämmerung' gibt es nicht mehr."

Dann stopfte er sich seine Pfeife, steckte sie in Brand, stieß einige Rauchwolken aus und fuhr nachdenklich fort: „Das Dumme bei der Geschichte ist nur: wir können auch nicht mehr zurück."

Daran hatte Jim noch gar nicht gedacht.

„O jemine!" sagte er erschrocken. „Wir müssen aber doch wieder nach Haus!"

„Ja, ja", antwortete Lukas, „aber es wird uns nichts anderes übrigbleiben, als einen neuen Weg zu entdecken."

„Wo sind wir denn eigentlich?" fragte Jim bang.

„In der Wüste", antwortete Lukas. „Mir scheint, das hier ist das,Ende der Welt'."

Die Sonne war untergegangen, aber es war gerade noch hell genug, um zu erkennen, daß sie sich auf einer endlosen Ebene befanden, die so flach war wie eine Tischplatte. Ringsum gab es nichts als Sand, Steine und Geröll. Fern am Horizont reckte sich ein einziger baumgroßer Kaktus wie eine riesenhafte Schwurhand schwarz in den fahlen dämmernden Himmel.

Die Freunde schauten zurück zu dem rot und weiß gestreiften Gebirge. Die Staubwolke hatte sich ein wenig verzogen und gab den Blick auf das verschüttete „Tal der Dämmerung" frei.

„Wie is' das nur gekommen?" murmelte Jim kopfschüttelnd.

„Wahrscheinlich hat Emmas Gepolter sich so ungeheuer verstärkt", antwortete Lukas, „daß die Felsen davon eingestürzt sind."

Er wandte sich der Lokomotive zu, klopfte sie auf den dicken Leib und sagte zärtlich:

„Da hast du was Schönes angerichtet, meine dumme, alte Emma!"

Emma blieb stumm und gab noch immer kein Lebenszeichen von sich. Jetzt erst bemerkte Lukas, daß irgend etwas mit ihr nicht stimmte.

„Emma!" rief er erschrocken. „Emma, meine gute, dicke Emma, was hast du denn?"

Aber die Lokomotive regte sich nicht. Nicht der kleinste Schnaufer war zu hören. - Lukas und Jim blickten sich betroffen an.

„Du lieber Himmel!" stammelte Jim, „wenn Emma jetzt…" Er wagte nicht, den Satz zu Ende zu sprechen. Lukas schob seine Mütze ins Genick und brummte:

„Wär' ja 'ne schöne Bescherung!"

Schnell holten sie den Werkzeugkasten unter dem Trittbrett hervor. Darin lagen alle Sorten Schraubenschlüssel, Hämmer, Zangen, Schraubenzieher, Feilen und überhaupt alles, was man braucht, um kaputte Lokomotiven zu reparieren.

Eine ganze Weile beklopfte Lukas vorsichtig und schweigend jedes Rad und jede Schraube an der alten Emma und horchte angestrengt. Jim sah mit schreckgeweiteten Augen zu und wagte nichts zu fragen. Lukas dachte so scharf nach, daß ihm sogar die Pfeife ausging. Das war kein gutes Zeichen. Endlich richtete er sich auf und knurrte:

„Verflixt und zugenäht!"

,,Is' es sehr schlimm?" fragte Jim.

Lukas nickte langsam.

„Ich vermute", murmelte er düster, „daß der Taktierkolben gebrochen ist. Zum Glück habe ich ein Ersatzteil dabei."

Er wickelte aus einem Lederläppchen einen kleinen Stahlkolben, der nicht größer war als Jims Daumen.

„Das ist er", sagte er und hielt ihn zwischen den Fingern. „Klein, aber wichtig! Er gibt den Takt an, in dem Emma schnauft."

„Meinst du", fragte Jim leise, „du kannst es in Ordnung bringen?"

Lukas zuckte die Achseln und meinte sorgenvoll:

„Wir müssen's jedenfalls versuchen. Und wir dürfen keine Minute verlieren. Ich weiß nicht, ob Emma diese schwere Reparatur übersteht. Kann sein, kann aber auch nicht sein… Wir dürfen nicht den allerkleinsten Fehler machen, sonst… Du mußt mir helfen, Jim - allein schaffe ich es auf keinen Fall."

„In Ordnung", antwortete Jim entschlossen.

Er wußte, daß Lukas so etwas nicht zum Spaß sagte und stellte keine Fragen mehr. Lukas schien auch keine Lust zu haben, viel zu reden.

Sie machten sich schweigend ans Werk.

Inzwischen war es vollständig dunkel geworden, und Jim mußte mit einer Taschenlampe leuchten. Stumm und verbissen kämpften die beiden Freunde um das Leben ihrer guten alten Emma. Stunde um Stunde verging. Der Taktierkolben hatte seinen Platz ganz innen, und so mußte die ganze Lokomotive langsam, Stück für Stück, auseinandergenommen und in ihre Teile zerlegt werden. Wahrhaftig, das war eine Arbeit, die starke Nerven erforderte.

Mitternacht mußte längst vorüber sein. Der Mond war aufgegangen, blieb aber hinter einer Wolkenbank verborgen. Nur ein Ungewisses, kaum sichtbares Dämmerblau lag über der Wüste „Das Ende der Welt".

„Die Zange!" rief Lukas halblaut. Er lag unter den Rädern der Lokomotive.

Jim reichte sie ihm. Da hörte er plötzlich ein seltsames Sausen in den Lüften. Ein häßliches Krächzen folgte. Dann rauschte es noch einmal. Und dort drüben wieder, jetzt schon ganz nahe. Was mochte das sein?

Jim versuchte, die Finsternis mit seinen Blicken zu durchdringen. Er erkannte undeutlich mehrere große schwarze Klumpen, die auf dem Boden hockten und mit glühenden Augen herüberstarrten.

Noch einmal war das Rauschen zu vernehmen. Ein riesengroßer, plumper Vogel ließ sich auf dem Dach des Führerhäuschens nieder und starrte mit grün glimmenden Augen auf den Jungen herunter.

Jim mußte sich sehr zusammennehmen, um nicht vor Entsetzen aufzuschreien. Ohne den unheimlichen Riesenvogel aus dem Auge zu lassen, flüsterte er:

„Lukas! He, Lukas!"

„Was gibt's?" fragte Lukas unter der Lokomotive.

„Da sind auf einmal so große Vögel", raunte Jim. „Eine ganze Menge. Sie sitzen herum und scheinen irgendwas zu wollen."

„Wie sehen sie denn aus?" wollte Lukas wissen.

„Ziemlich unfreundlich", antwortete Jim. „Sie haben nackte Hälse und krumme Schnäbel und grüne Augen. Auf dem Dach sitzt auch schon einer und schaut mich immer an."

„Ach", sagte Lukas, „das sind nur Geier."

„Aha!" meinte Jim ziemlich kläglich. Und nach einer Weile setzte er hinzu:

„Ich möcht' bloß gern wissen, ob Geier sehr angriffslustig sind oder nicht. Was meinst du?"

„Solange man lebt", erklärte Lukas, „tun sie einem nichts. Sie warten, bis man tot ist."

„So", sagte Jim. Und nach ein paar Minuten fragte er:

„Bist du auch ganz sicher?"

„Sicher was?" erkundigte sich Lukas unter der Lokomotive.

„Bist du ganz sicher", wiederholte Jim, „daß sie auch bei kleinen schwarzen Jungen keine Ausnahme machen? Vielleicht fressen sie kleine schwarze Jungen lieber lebendig?"

„Nein", sagte Lukas, „du brauchst keine Angst zu haben. Man nennt die Geier die,Totengräber der Wüste', weil sie sich nur über Totes hermachen."

„Ach so!" murmelte Jim. „Dann is' es ja gut."

In Wirklichkeit war es aber gar nicht gut. Der Geier auf dem Dach hatte so einen appetithaften Zug um die Schnabelwinkel, daß Jim das Gefühl nicht los wurde, Geier würden bei kleinen schwarzen Jungen vielleicht doch eine Ausnahme machen…

Wenn nun Emma nicht wieder in Ordnung käme, was dann? Dann müßten sie hier bleiben, mitten in der Wüste „Das Ende der Welt", bei diesen scheußlichen Totengräbern, die schon dasaßen und warteten. Lukas und er waren jetzt so fern von jeder menschlichen Hilfe und ganz unausdenkbar weit fort von Lummerland. Das sollte also das Ende sein, und nach Lummerland würden sie nie wieder zurückkehren, nie wieder!

Als Jim so weit gedacht hatte, überfiel ihn plötzlich ein schreckliches Gefühl der Verlassenheit. Er konnte nicht verhindern, daß ein verzweifeltes Schluchzen in ihm aufstieg.

Lukas kroch eben unter Emma hervor und wischte sich die Hände an einem Lappen ab.

„Ist etwas, alter Junge?" fragte er und blickte taktvoll zur Seite, denn er hatte natürlich sofort erkannt, was mit Jim war.

„Nein", antwortete Jim, „ich Hab' nur… ich glaub', ich hab' den Schluckauf bekommen."

„Ach so!" brummte Lukas.

„Sag mal ehrlich, Lukas", erkundigte Jim sich leise, „is' noch Hoffnung?"

Lukas sah nachdenklich vor sich hin, dann schaute er dem Jungen ernst in die Augen und sagte:

„Hör mal zu, Jim Knopf! Du bist mein Freund, darum muß ich dir die Wahrheit sagen. Ich bin so ziemlich am Ende mit meiner Weisheit. Ich kriege nämlich die letzte Schraube nicht auf. Das geht nur von innen. Man müßte in den Kessel kriechen. Aber ich komme da nicht hinein. Ich bin zu groß und zu dick. Tja, das ist eine verflixte Geschichte."

Jim blickte zu dem Geier auf dem Dach hinauf und zu den anderen Geiern hinüber, die langsam immer näher heranrückten und neugierig ihre nackten Hälse aus den Federkrägen reckten. Dann sagte er entschlossen:

„Ich werd' hineinsteigen."

Lukas nickte ernst.

„Es ist tatsächlich die letzte Möglichkeit. Aber es ist ziemlich gefährlich. Du mußt im Innern des Kessels nämlich unter Wasser arbeiten. Wir dürfen das Wasser nicht ablassen, weil es hier in der Wüste kein neues gibt. Außerdem kannst du dir da drin noch nicht mal leuchten. Du bist ganz auf dein Fingerspitzengefühl angewiesen. Überleg dir genau, ob du es tun willst. Ich könnte sehr gut verstehen, wenn du nein sagtest."

Jim dachte nach. Schwimmen und tauchen konnte er ja. Außerdem hatte Lukas gesagt, es wäre die letzte Möglichkeit. Es blieb also gar nichts anderes übrig.

„Ich tu's", sagte er.

„Gut!" antwortete Lukas langsam. „Nimm den Schraubenschlüssel hier. Ich denke, er wird passen. Die Schraube muß ungefähr da sitzen."

Er zeigte die Stelle von außen am Boden des Kessels.

Jim merkte sie sich genau, dann kletterte er auf den Kessel hinauf.

Der Geier auf dem Dach schaute ihm verwundert zu. Plötzlich kam der Mond hinter der düsteren Wolkenbank hervor, und es wurde ein wenig heller.

Jeder, der eine Lokomotive kennt, weiß, daß hinter dem Schornstein eine Art Kuppel ist, die aussieht wie ein zweiter, etwas kleinerer Schornstein. Diese Kuppel kann man aufmachen. Dann sieht man einen Schacht, der in den Kessel hinunterführt.

Jim zog seine Schuhe aus und warf sie Lukas zu. Dann kroch er durch die geöffnete Kuppel. Es war sehr eng, und Jims Herz klopfte wie rasend. Aber er biß die Zähne zusammen und schob sich weiter, die Füße voran. Als nur noch sein Kopf oben heraussah, winkte er Lukas noch einmal zu, dann spürte er Wasser an seinen Füßen. Es war noch ziemlich warm. Jim holte tief Luft und ließ sich hinuntergleiten.

Lukas stand neben der Lokomotive und wartete. Er war so blaß geworden, wie das bei seiner ruß- und ölverschmierten Haut überhaupt möglich war. Was sollte er tun, wenn Jim etwas zustieß? Er würde tatenlos dabeistehen müssen, denn er konnte ja nicht in den Kessel hineinkriechen. Er wischte sich ein paar kalte Schweißperlen von der Stirn. Jetzt hörte er im Innern des Kessels etwas rumoren, dann noch einmal. Und plötzlich fiel etwas mit leisem Klimpern zu Boden. „Da ist die Schraube!" rief Lukas. „Jim, komm zurück!" Wer aber nicht erschien, war Jim. Sekunde um Sekunde verstrich. Lukas wußte vor Angst um seinen kleinen Freund kaum noch, was er tat. Er kletterte auf die Lokomotive hinauf und schrie durch die Kuppel hinunter: „Jim! Jim! Komm doch heraus! Jim, wo bist du?"

Und endlich erschien das kleine schwarze Gesicht, tropfnaß und nach Luft ringend. Und dann kam eine Hand hervor. Lukas ergriff sie und zog seinen Freund heraus. Er nahm ihn auf den Arm und kletterte mit ihm von der Lokomotive herunter.

„Jim!" sagte er immer wieder, „mein alter Jim!" Der Junge keuchte. Er lächelte benommen und spuckte etwas Wasser. Schließlich flüsterte er:

„Siehst du jetzt, Lukas, wie gut es war, daß du mich mitgenommen hast?"

„Jim Knopf!" sagte Lukas, „du bist ein großartiger kleiner Bursche, und ohne dich wäre ich jetzt verloren gewesen."

„Was glaubst du, wie mir zumut war!" seufzte Jim. „Erst is' ja alles ganz gut gegangen. Die Schraube hab' ich gleich gefunden, und sie is' auch ganz leicht aufgegangen. Aber wie ich dann zurückgewollt hab', da hab' ich auf einmal das Loch nicht mehr gefunden. Aber zuletzt hab' ich's dann doch geschafft."

Lukas zog Jim die nassen Sachen aus und wickelte ihn in eine warme Decke. Dann gab er ihm heißen Tee aus der Thermosflasche des Kaisers zu trinken.

„So!" sagte er darauf, „und jetzt ruhst du dich aus! Das andere mach' ich schon allein."

Plötzlich schlug er sich mit der Hand vor die Stirn und rief erschrocken:

„Verflixt und zugenäht! Durch das Schraubenloch tropft die ganze Zeit das Wasser aus dem Kessel!"

Es stimmte. Aber zum Glück war erst ganz wenig Wasser ausgelaufen, schätzungsweise ein halbes Liter.

Lukas wechselte schnell den zerbrochenen Taktierkolben aus und schraubte alles wieder fest zu. Hineindrehen ließ sich die Schraube von außen nämlich ganz gut. Und dann setzte er die gute alte Emma Teil für Teil sorgfältig wieder zusammen. Und als er die letzte Schraube festzog…

„Na, Jim?" rief er. „Was sagst du jetzt?"

„Was soll ich denn sagen?" erkundigte sich Jim.

„Na, hör doch mal!" rief Lukas fröhlich.

Jim lauschte. Tatsächlich: Emma schnaufte wieder! Zwar nur ganz leise, kaum hörbar, aber es war nicht zu leugnen, sie schnaufte!

„Lukas!" schrie Jim glücklich, „Emma is' wieder ganz! Wir sind gerettet!"

Und die beiden Freunde schüttelten sich lachend die Hände.

Die Geier machten ziemlich enttäuschte Gesichter. Aber sie schienen die Hoffnung noch nicht ganz aufzugeben. Sie zogen sich nur etwas weiter in die Wüste zurück.

„So!" erklärte Lukas befriedigt. „Jetzt soll Emma sich erst mal ausschlafen, damit sie wieder zu Kräften kommt. Und wir tun das gleiche, denk' ich."

Sie stiegen in das Führerhaus und machten die Tür gut hinter sich zu. Dann aßen sie ein paar Früchte und Süßigkeiten aus dem Proviantkorb und tranken etwas Tee aus der goldenen Thermosflasche. Und danach rauchte Lukas noch eine Pfeife.

Aber da war Jim schon eingeschlafen. Mit einem stolzen Lächeln lag er da, so stolz wie nur einer sein kann, der eine kaputte Lokomotive unter Einsatz seines Lebens wieder ganz gemacht hat.

Lukas deckte ihn gut zu und strich ihm die schwarzen, noch feuchten Kraushaare aus der Stirn.

„Großer, kleiner Jim!" murmelte er liebevoll.

Dann klopfte er seine Pfeife aus und schaute noch einmal zum Fenster hinaus.

Die Geier saßen in einiger Entfernung im Kreis beieinander, grell vom Mondlicht beschienen. Sie hatten die Köpfe zusammengesteckt und schienen sich zu beraten.

„Na, meinetwegen!" brummte Lukas. „Uns kriegt ihr doch nicht."

Dann legte er sich zurecht, seufzte tief, gähnte und schlief ein.

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