Zum Nachmittagstee wurden alle Kinder geweckt und kamen zum Kaiser und den beiden Freunden auf die Terrasse heraus. Dann aßen alle gemeinsam. Als sie fertig waren, gingen sie hinunter auf den Platz vor dem Palast. Dort standen jetzt in einer langen Reihe viele zierliche chinesische Kutschen mit kleinen weißen Pferdchen davor. Die Wägelchen waren bunt bemalt und hatten seidene Baldachine, zum Schutz gegen die Sonne. Das erste war besonders prächtig, darin nahm der Kaiser mit seiner Tochter Platz. Die Kinder verteilten sich in den anderen Kutschen, immer zwei oder drei in einer. Natürlich durften sie selber lenken. Lukas und Jim wollten lieber mit Emma fahren.
Der Zug setzte sich in Bewegung, an der Spitze der Kaiser mit Li Si und am Schluß Emma mit den beiden Freunden. Unter brausenden Hochrufen des Volkes ging es aus der Stadt hinaus, immer auf der geraden Straße, auf der Jim und Lukas einmal gekommen waren. So gelangten sie schließlich gegen Abend zur Mündung des Gelben Flusses, wo der Seehafen lag.
An der Mole lagen zwei große Segelschiffe. Matrosen kletterten in der Takelage herum, und andere zogen mit „Ho ruck! Hoooo ruck!" riesige Segel in die Höhe. Eines der beiden Schiffe war schon fast fertig zur Abfahrt und mußte nur noch auf günstigen Wind warten. Bei Einbruch der Dunkelheit sollte es mit den Kindern davonsegeln, um sie in ihre Heimatländer zu bringen. Das andere Schiff hatte noch keine Segel gesetzt. Dort waren die Matrosen noch mit dem Einladen des Proviants beschäftigt. Es war sehr viel schöner und prächtiger als das andere. An seinem haushohen Bug war eine große goldene Figur zu sehen, die ein Einhorn darstellte. Links und rechts daneben war folgender Name aufgemalt:
Pung Ging
So hieß ja der Kaiser von China. Also war das wohl das Staatsschiff, das am nächsten Morgen nach Lummerland in See stechen sollte.
Als die Sonne untergegangen war, begann plötzlich ein sanfter, aber anhaltender Wind vom Lande her zu wehen. Der Kapitän des Kinderschiffes, ein lustiger alter Seebär mit einer runden, roten Nase, kam von seinem Schiff herunter und meldete, daß alles zur Abfahrt bereit sei.
Der Kaiser rief seine kleinen Gäste zusammen und sagte:
„Meine lieben Freunde und Freundinnen! Mit Bedauern vernehme ich, daß die Stunde der Trennung geschlagen hat. Es war eine große Freude für mich, euch alle kennenzulernen. Ich wünschte, wir könnten noch eine Weile zusammenbleiben, aber ihr wollt in eure fernen Heimatländer, und das ist durchaus verständlich, wenn man bedenkt, wie lange ihr schon von zu Hause fort seid. Grüßt eure Eltern, Verwandten und Freunde von mir und schreibt bald, ob ihr gut angekommen seid. Und wenn ihr Lust habt, dann besucht mich doch bald einmal wieder. Vielleicht in den nächsten großen Ferien, ja? Ihr seid jederzeit herzlich willkommene Gäste. Und was die dreizehn Piraten betrifft, die euch geraubt haben, so könnt ihr ganz beruhigt sein. Sie werden ihrer gerechten Strafe nicht entrinnen. Ich werde in nächster Zeit ein Kriegsschiff ausrüsten, das sie gefangen nehmen wird. Und nun lebt wohl, meine Lieben!"
Danach ergriff Lukas das Wort.
„Tja, Leute", sagte er und paffte heftig, „ich kann nicht viele Worte machen. Tut mir leid, daß wir uns schon wieder trennen müssen, aber es ist ja nicht für immer -"
„Bestimmt nicht!" rief der kleine Indianerjunge dazwischen.
„Schreibt Jim und mir auch mal eine Ansichtspostkarte, damit wir sehen, wie es bei euch zu Hause ist. Und wenn ihr uns besuchen wollt, dann kommt nur nach Lummerland. Wir freuen uns. Und jetzt also gute Fahrt und auf baldiges Wiedersehen!"
Nun gab es ein allgemeines Händeschütteln und Abschiednehmen, und jedes Kind bedankte sich noch einmal bei Jim und Lukas, und natürlich auch bei der guten dicken Emma, für die Rettung und beim Kaiser von China für seine Freundlichkeit. Dann gingen die Kinder unter Führung des Kapitäns an Deck ihres Schiffes. Als alle oben an der Reling standen, begann im Hafen ein ungeheures Feuerwerk. Das war eine Überraschung, die der kleine Ping Pong sich ausgedacht hatte. Die Raketen stiegen meilenhoch in den Nachthimmel und sprühten und leuchteten in den märchenhaftesten Farben. Dazu spielte eine chinesische Musikkapelle ein Abschiedslied. Und die Wellen des Meeres rauschten wunderbar dazu. Dann wurde der Anker gelichtet und das Schiff setzte sich langsam und majestätisch in Bewegung. Alle riefen „Auf Wiedersehen!" und winkten. Jeder war gerührt und hatte Tränen in den Augen. Am meisten heulte natürlich Emma, obgleich sie wie gewöhnlich nicht ganz verstand, was eigentlich los war. Sie hatte eben ein sehr zartes Gemüt und war ganz erheblich gerührt, einfach so.
Langsam glitt das Schiff auf das nächtliche Meer hinaus und entschwand den Blicken der Zurückbleibenden. Jetzt lag der Hafen plötzlich ganz still und verlassen da.
„Es scheint mir das beste", schlug der Kaiser vor, „wenn wir heute nacht schon an Bord unseres Schiffes schlafen. Es sticht morgen noch vor Tagesgrauen in See, und wenn wir jetzt schon an Bord gehen, dann brauchen wir nicht so früh aufzustehen. Beim Frühstück sind wir schon weit draußen auf dem Meer."
Die beiden Freunde und die kleine Prinzessin waren natürlich sofort einverstanden.
„Dann wollen wir jetzt von Ping Pong, meinem Oberbonzen, Abschied nehmen", meinte der Kaiser.
„Ja, fährt er denn nicht mit?" fragte Jim.
„Das geht leider nicht", antwortete der Kaiser. „Jemand muß mich doch während meiner Abwesenheit vertreten. Ping Pong ist der Richtige dazu. Er ist zwar noch sehr klein, aber schon sehr fähig, wie ihr gesehen habt. Außerdem nehme ich nicht an, daß sich während meiner Reise hier sehr viel ereignen wird. Ping Pong kann ja ein anderes Mal nach Lummerland fahren, diesmal soll er für mich regieren."
Aber der winzige Oberbonze war nirgends zu entdecken. Sie suchten den ganzen Hafen nach ihm ab, und schließlich fanden sie ihn. Er saß in einer der kleinen Kutschen und war, von den ungeheuren Anstrengungen des Tages erschöpft, fest eingeschlafen.
„Höre, Ping Pong", sagte der Kaiser sanft.
Der Oberbonze fuhr auf, rieb sich die Augen und fragte etwas weinerlich: „Ja - bitte - ist etwas nicht in Ordnung?"
„Es tut mir leid, daß ich dich wecken muß", fuhr der Kaiser lächelnd fort. „Wir möchten uns nur von dir verabschieden. Du wirst mich während meiner Abwesenheit vertreten. Ich weiß, daß ich mich auf dich verlassen kann."
Ping Pong verneigte sich tief vor dem Kaiser und der kleinen Prinzessin. Dabei fiel er vor lauter Verschlafenheit beinahe um. Jim konnte ihn gerade noch halten. Er schüttelte ihm die winzige Hand und sagte:
„Besuch uns auch bald mal, Ping Pong!"
„Und grüße Herrn Schu Fu Lu Pi Plu von uns!" fügte Lukas hinzu.
„Sehr gern", murmelte Ping Pong, dem die Augen schon wieder zufielen. „Gewiß werde ich das tun - ich werde alles tun - alles - sobald meine Pflichten - oh, ihr ehrenwerten Lokomotivführer - lebt über alle Maßen wohl - und - und - und -" Dabei gähnte er und piepste: „Entschuldigt bitte, aber ihr wißt ja, ein Säugling in meinem Alter…"
Damit war er eingeschlafen, und sein leises Schnarchen hörte sich an wie das Zirpen einer Grille.
Als die beiden Freunde mit Li Si und dem Kaiser auf ihr Schiff gingen, fragte Lukas:
„Meinen Sie, daß Ping Pong den Regierungsgeschäften gewachsen ist?"
Der Kaiser nickte lächelnd:
„Ich habe alles vorbereitet. Es kann nichts passieren. Es soll eine Auszeichnung für den kleinen Oberbonzen sein, weil er so tüchtig war."
Dann schauten sie noch nach, ob Emma, die die Matrosen inzwischen auf das Schiff transportiert hatten, auch gut untergebracht war. Sie stand auf dem Hinterdeck und war mit Seilen fest angebunden, damit sie nicht herunterrollen konnte, wenn das Schiff auf den Wellen schaukelte. Sie schlief auch schon und schnaufte leise und regelmäßig vor sich hin.
Es war alles in bester Ordnung.
Also wünschten die beiden Freunde dem Kaiser und Li Si eine gute Nacht, dann gingen sie alle in ihre Kajüten und legten sich schlafen.
Als sie am nächsten Morgen erwachten, schwamm das Schiff schon weit draußen auf dem Meer. Es war strahlendes Wetter. Ein kräftiger, anhaltender Wind blähte die riesigen Segel. Wenn es so blieb, dann würde die Rückfahrt nach Lummerland nicht einmal halb so lange dauern wie damals die Reise auf der Emma nach China.
Nach dem Frühstück, das sie mit dem Kaiser und der kleinen Prinzessin gemeinsam einnahmen, gingen Jim und Lukas zum Kapitän auf die Kommandobrücke hinauf und erklärten ihm die Sache mit der schwimmenden Insel, die ihnen am zweiten Tag pünktlich um zwölf Uhr mittags bei 321 Grad 21 Minuten und i Sekunde westlicher Länge und 123 Grad 23 Minuten und 3 Sekunden nördlicher Breite begegnen sollte.
Der Kapitän, dessen Gesicht so von Wind und Wetter gegerbt war, daß die Haut aussah wie ein alter lederner Handschuh, sperrte vor Staunen Mund und Nase auf.
„Da soll mich doch gleich ein betrunkener Haifisch beißen!" brummte er. „Ich fahre jetzt schon ein halbes Jahrhundert zur See, aber eine schwimmende Insel hab' ich noch nie gesehen. Woher wißt ihr denn so genau, daß morgen mittag gerade dort eine vorbeikommt?"
Die beiden Freunde sagten es ihm. Der Kapitän kniff ein Auge zu und knurrte: „Ihr wollt mich wohl verulken?"
Aber Jim und Lukas versicherten, daß es ihr voller Ernst sei.
„Na", sagte der Kapitän schließlich und kratzte sich hinter dem Ohr, „wir werden ja sehen. Wir kommen nämlich sowieso morgen mittag genau über den Punkt, den ihr angegeben habt. Falls das Wetter so bleibt."
Die beiden Freunde stiegen wieder zum Kaiser und der kleinen Prinzessin hinunter. Dann setzten sie sich an eine windgeschützte Stelle auf das Vorderdeck und spielten zu viert Mensch-ärgere-dich-nicht. Li Si kannte das Spiel noch nicht, und Jim erklärte es ihr. Und nachdem sie es zweimal gespielt hatten, konnte sie es schon besser als die drei anderen und gewann in einem fort. Jim wäre es lieber gewesen, wenn sie sich ein wenig ungeschickt angestellt hätte. Dann hätte er ihr helfen können. Aber so war sie es, die ihm gute Ratschläge gab und die Gescheitere war. Das war ihm natürlich nicht besonders angenehm.
Als sie dann später beim Mittagessen saßen, erkundigte sich der Kaiser plötzlich:
„Sagt einmal, Jim und Li Si, wann soll denn eigentlich eure Verlobung gefeiert werden?"
Die kleine Prinzessin wurde ein wenig rot und sagte mit ihrer Vogelstimme: „Das muß Jim bestimmen."
„Ja", sagte Jim mit runden Augen, „ich weiß auch nicht. Ich richt' mich ganz nach dir, Li Si."
Aber sie schlug die Augen nieder und schüttelte den Kopf.
„Nein, du mußt es sagen."
„Also", erklärte Jim nach kurzem Nachdenken, „dann feiern wir die Verlobung, wenn wir in Lummerland sind."
Damit waren alle einverstanden. Und der Kaiser meinte: „Die Hochzeit könnt ihr dann später feiern, wenn ihr groß genug seid."
„Ja", sagte die kleine Prinzessin, „wenn Jim lesen und schreiben kann."
„Ich will aber nicht solche Sachen lernen!" rief Jim.
„Doch, bitte, Jim!" bat Li Si. „Du mußt lesen, schreiben und rechnen lernen! Tu es für mich!"
„Warum?" fragte Jim. „Du kannst es doch selbst, wozu soll ich es denn auch noch lernen?"
Die kleine Prinzessin senkte ihr Köpfchen und sagte leise und stockend: „Jim, ich kann doch nicht - es ist nämlich - es geht doch nicht - also, ich möchte eben, daß mein Bräutigam nicht nur mutiger ist als ich, er soll auch viel klüger sein, damit ich ihn bewundern kann."
„So", sagte Jim und machte ein verstocktes Gesicht.
„Also ich finde", brummte Lukas begütigend, „wir sollten uns darüber jetzt nicht streiten. Vielleicht will Jim selber eines Tages lesen und schreiben lernen, und dann wird er's auch tun. Und wenn er nicht will, ist es auch gut. Wir sollten ihm das ruhig selbst überlassen, meine ich."
Danach wurde über diese Sache nicht weiter gesprochen, aber Jim mußte doch noch ab und zu an das denken, was die kleine Prinzessin zuletzt gesagt hatte.
Es war am nächsten Tag, kurz vor zwölf Uhr mittags und die vier saßen gerade beim Essen, als plötzlich der Matrose hoch oben im Mastkorb durch die hohle Hand herunterrief:
„Laaaaaaand in Sicht!"
Alle sprangen auf und rannten nach vorne zum Bug, um Ausschau zu halten. Jim, der ein Stückchen in die Takelage hinaufgeklettert war, sah es als erster.
„Eine Insel!" schrie er aufgeregt. „Da - eine ganz kleine Insel!"
Und als sie näher kamen, sahen auch die anderen das kleine Eiland, das anmutig durch die Wellen dahintrieb.
„He!" rief Lukas zum Kapitän hinauf, „was sagen Sie jetzt?"
„Ich will mich von einem erkälteten Walroß platt walzen lassen!" antwortete der Kapitän. „Wenn ich's nicht selber sähe, würde ich's nicht glauben. Wie fangen wir das Ding denn ein?"
„Habt Ihr vielleicht zufällig ein großes Fischnetz an Bord?" fragte Lukas.
„Haben wir!" rief der Kapitän zurück. Er gab den Matrosen Befehl, die Netze auszulegen. Das geschah, während das Schiff in einem großen Kreis um das Eiland herumfuhr. Das letzte Ende ließen sie nicht ins Wasser, sondern machten es auf Deck fest. Und als sie schließlich an ihrem Ausgangspunkt zurückgekehrt waren, holten sie auch den Anfang des Netzes wieder ein, und nun lag das schwimmende Eiland wie in einer großen Schlinge im Schlepptau des Segelschiffes. Die Matrosen zogen es nahe heran, damit man es genau betrachten konnte.
Der Drache hatte wirklich ein Lob dafür verdient, daß er den Freunden gerade diese Insel angegeben hatte. Eine bessere gab es wohl auf der ganzen Welt nicht. Sie war zwar noch etwas kleiner als Lummerland, aber beinahe noch hübscher. Drei grüne Rasenterrassen, auf denen verschiedene Bäume standen, erhoben sich stufenweise. Unter den Bäumen waren übrigens drei durchsichtige, wie sie in China wuchsen. Darüber freute sich die kleine Prinzessin besonders. Um die Insel herum lief ein flacher Sandstrand, der ganz famos zum Baden geeignet war. Und auf der obersten Terrasse entsprang ein kleiner Bach und rauschte in mehreren Wasserfällen bis ins Meer hernieder. Natürlich gab es auch eine Menge wunderschöner Blumen und bunter Vögel, die in den Zweigen der Bäume ihre Nester gebaut hatten.
„Wie gefällt dir die Insel, Li Si?" fragte Jim.
„O Jim, sie ist einfach wundervoll!" sagte die kleine Prinzessin begeistert.
,,Is' sie nicht vielleicht ein bißchen klein?" erkundigte sich Jim. „Ich mein', im Verhältnis zu China."
„O nein!" rief die Prinzessin. „Ich finde ein kleines Land viel hübscher als ein großes. Besonders wenn es eine Insel ist."
„Dann is' ja alles in Ordnung", meinte Jim zufrieden.
„Man könnte ein paar schöne Tunnel bauen", stellte Lukas fest. „Quer durch die Terrassen durch. Was meinst du, Jim? Es soll ja deine Insel werden."
„Tunnel?" sagte Jim nachdenklich. „Das wär' famos. Aber ich hab' ja noch nicht einmal eine Lokomotive."
„Willst du denn immer noch Lokomotivführer werden?" fragte Lukas.
„Freilich", antwortete Jim ernsthaft. „Was denn sonst?"
„Hm", brummte Lukas und zwinkerte mit einem Auge. „Vielleicht habe ich schon was für dich in Aussicht."
„Eine Lokomotive?" rief Jim aufgeregt.
Aber Lukas wollte noch nichts Näheres sagen, so sehr Jim auch bat und bettelte. „Wart ab, bis wir nach Lummerland kommen", mehr war aus ihm nicht herauszubringen.
„Hast du übrigens schon einen Namen für die neue Insel, Jim?" mischte sich schließlich der Kaiser ins Gespräch. „Wie wirst du sie taufen?"
Jim überlegte eine Weile, dann schlug er vor: „Wie wär's mit Neu-Lummerland?"
Damit waren alle einverstanden, und so blieb es gleich dabei.