Es war ein paar Tage später, an einem strahlenden Morgen, etwa um sieben Uhr, als Frau Waas aus der Tür ihres Kaufladens trat, den sie soeben geöffnet hatte. Herr Ärmel streckte den Kopf aus dem Fenster seines Hauses, um festzustellen, ob er heute seinen Schirm mitnehmen müßte oder nicht. Da sahen beide gleichzeitig das riesige, prunkvolle Schiff neben Lummerland im Meer liegen.
„Was ist denn das für ein sonderbares Schiff?" fragte Frau Waas. „Das vom Postboten ist doch viel kleiner. Außerdem hat es auch kein Posthorn am Bug, sondern ein vergoldetes Einhorn. Was kann das bedeuten?"
„Leider kann ich Ihnen keine Auskunft geben, meine Verehrteste", antwortete Herr Ärmel. „Sehen Sie doch nur, es hat eine ganze Insel im Schlepptau! Oh, ich ahne Schreckliches! Das sind vielleicht Inselräuber, die es auf Lummerland abgesehen haben."
„Meinen Sie?" fragte Frau Waas unsicher. „Ja, was machen wir denn da?"
Aber noch ehe Herr Ärmel antworten konnte, hörte man vom Schiff her einen Freudenschrei, und dann sprang Jim mit einem halsbrecherischen Satz über die Reling ans Land.
„Frau Waas!" schrie er.
„Jim!" rief Frau Waas.
Und dann stürzten sie sich in die Arme und begrüßten sich. Und das dauerte begreiflicherweise eine ganze Weile.
Inzwischen kamen auch Lukas und Li Si und der Kaiser an Land, und schließlich wurde sogar Emma vorsichtig vom Schiff heruntertransportiert und auf ihre alten Gleise gesetzt, auf denen in der Zwischenzeit Moos und Gras gewachsen war. Emma trug noch immer den großen goldenen Orden mit der blauen Schleife und stieß in einem fort kleine Freudenpfiffe aus.
Als Herr Ärmel, der ganz fassungslos vor Staunen dastand, endlich begriffen hatte, wer da gekommen war, rannte er sofort zum Schloß zwischen den beiden Gipfeln hinauf und polterte aufgeregt gegen die Tür.
„Aber ja doch, ich komme ja schon! Was ist denn?" hörte man König Alfons den Viertel-vor-Zwölften, schlaftrunken und verwirrt im Innern brummen.
„Majestät!" rief Herr Ärmel atemlos, „entschuldigen Sie gnädigst, aber es ist von höchster Wichtigkeit! Lukas der Lokomotivführer ist eben angekommen und Jim Knopf und ein kleines Mädchen und ein alter Herr, der sehr vornehm aussieht, und ein Schiff ist da mit einer Insel im Netz…"
Aber weiter kam er nicht, denn in diesem Augenblick flog die Tür des Palastes auf, und der König stürzte heraus. Er hatte nur ein Nachthemd an und bemühte sich, im Laufen seinen Schlafrock aus rotem Samt überzuziehen. Seine Krone hatte er sich in aller Eile schon auf den Kopf gestülpt.
„Wo"? fragte er aufgeregt, denn er hatte seine Brille vergessen.
„Einen Augenblick, Majestät!" flüsterte Herr Ärmel. „So können Sie doch die Leute nicht empfangen!" Und er half dem König ordentlich in den Schlafrock hinein. Dann rannten sie zusammen zum Schiff hinunter, und vor lauter Eile verlor der König einen schottisch karierten Pantoffel, so daß er humpelnd unten ankam.
Nun, und dann gab es ein Begrüßen und Händeschütteln und Umarmen, das überhaupt kein Ende nehmen wollte. Lukas machte den Kaiser von China und König Alfons den Viertel-vor-Zwölften miteinander bekannt, und Jim stellte Li Si vor, und als endlich alle sich begrüßt und vorgestellt hatten, gingen sie in das Haus von Frau Waas zum Frühstücken. Es wurde natürlich so eng in der winzigen Küche, daß keiner sich mehr umdrehen konnte. Aber einer so glücklichen Gesellschaft, wie sie an diesem Morgen auf Lummerland beisammen war, machte das nur Vergnügen.
„Wo wart ihr denn überall?" rief Frau Waas, während sie den Kaffee in die Tassen goß. „Ich platze vor Neugierde. Was habt ihr alles erlebt? Wer ist Frau Mahlzahn? Ist sie nett? Warum ist sie nicht mitgekommen? Erzählt doch!"
„Ja, erzählen, erzählen!" riefen Herr Ärmel und König Alfons der Viertel-vor-Zwölfte.
„Nur Geduld!" wehrte Lukas schmunzelnd ab. „Das braucht seine Zeit, alles zu erzählen."
„Ja", sagte Jim, „wenn wir gefrühstückt haben, wollen wir euch erst mal die Insel zeigen, die wir mitgebracht haben."
Das Frühstück dauerte nicht lang, denn natürlich waren alle viel zu aufgeregt, um großen Hunger zu haben. Während sie zum Schiff hinübergingen, sagte Frau Waas leise zu Lukas:
„Ich habe das Gefühl, Jim ist in der Zwischenzeit viel erwachsener geworden."
„Schon möglich", meinte Lukas und paffte vor sich hin. „Er hat ja auch eine ganz schöne Menge Abenteuer erlebt."
Die neue Insel war inzwischen von den Matrosen mit Ankerketten und Stahltrossen so dicht neben Lummerland festgemacht worden, daß man mit einem Schritt hinüberspringen konnte. Natürlich hatten sie auch nicht vergessen, was Lukas ihnen aufgetragen hatte, nämlich an der Stelle, wo jetzt das kleine Eiland lag, vorher einige Äste von Korallenbäumen im Meer versenken, wie es der Drache angeraten hatte. In ein paar Jahren, wenn die Bäume bis an die Meeresoberfläche gewachsen waren, würde die neue Insel ebenso fest gegründet sein wie Lummerland.
Unter Jims Führung betrat die Gesellschaft den neuen Grund und Boden und ging ein wenig darauf spazieren. Sehr viel Platz war natürlich nicht da, aber der wenige, der da war, war dafür besonders hübsch.
„Das ist die Lösung des Problems!" rief König Alfons der Viertel-vor-Zwölfte in einem fort. „Wer hätte aber auch an so etwas gedacht! Nun brauche ich mir keine Sorgen mehr zu machen! Zum erstenmal seit langer Zeit werde ich wieder in Frieden schlafen können."
Und als Jim verkündete, daß er die Insel Neu-Lummerland getauft habe, da kannte die Freude des Königs keine Grenzen mehr. Mit vor Stolz gerötetem Gesicht erklärte er: „Ich werde mich in Zukunft,König der Vereinigten Staaten von Lummerland und Neu-Lummerland' nennen!"
Während sie wieder in das Haus von Frau Waas zurückgingen, nahm König Alfons den Kaiser von China etwas beiseite und schlug ihm vor, eine Telefonleitung zwischen Ping, der Hauptstadt von China, und Lummerland zu legen. Der Kaiser fand diese Idee ausgezeichnet, weil sie dann auch später, so oft sie wollten, miteinander sprechen konnten. Er ging also zum Kapitän des Staatsschiffes und erteilte ihm den Auftrag, nach China zu fahren und bei der Rückkehr nach Lummerland unterwegs ein langes Telefonkabel durch das Meer zu legen. Das Schiff stach sofort in See, und der Kaiser ging in die Küche von Frau Waas, wo die anderen inzwischen um Jim und Lukas saßen und gespannt zuhörten, wie die beiden von ihren Abenteuern berichteten. Sie erzählten alles ganz ausführlich, von der nächtlichen Abreise auf der kalfaterten Emma angefangen bis zu ihrer Rückkehr.
Immer wenn es besonders gefährlich und aufregend zuging, dann wurde Frau Waas ganz blaß und murmelte nur:
„Ach du lieber Himmel!" oder „Du meine Güte!"
Solche Angst stand sie noch nachträglich um ihren kleinen Jim aus. Der einzige Trost war für sie, daß der Junge ja gesund und munter vor ihr saß und daß also alles am Ende gut ausgehen müsse.
Etwa eine Woche später kam das Schiff zurück, und die Matrosen hatten richtig das viele tausend Meilen lange Kabel unterwegs ins Meer versenkt. Das eine Ende war an dem diamantenbesetzten Telefon im Thronsaal des kaiserlichen Palastes angeschlossen und das andere wurde jetzt an dem goldenen Telefon von König Alfons dem Viertel-vor-Zwölften befestigt. Dann telefonierte der Kaiser zur Probe erst einmal mit Ping Pong, ob auch alles in China in Ordnung wäre. Ja, es war alles in Ordnung.
Man war übereingekommen, daß in vier Wochen die Verlobung der Prinzessin Li Si mit Jim Knopf gefeiert werden sollte. Und während der ganzen Zeit nähte und arbeitete Frau Waas abends an einer Überraschung für die beiden Kinder. Schneidern war ja ihre besondere Leidenschaft.
Der Kaiser und Li Si wohnten während dieser vier Wochen mit dem König zusammen in dem Schloß zwischen den beiden Gipfeln. Das war natürlich etwas eng, aber sie schränkten sich gerne ein, denn auf Lummerland war es einfach gar zu schön. Nicht einmal das Schlößchen aus himmelblauem Porzellan, das die kleine Prinzessin in den großen Ferien zu bewohnen pflegte, konnte sich mit dieser Insel vergleichen.
Eines Tages war es so weit, die vier Wochen waren um. Der Tag der Verlobung war gekommen. Als erstes bekamen die beiden Kinder die Überraschungen, die Frau Waas für sie vorbereitet hatte.
Für Jim hatte sie einen himmelblauen Lokomotivführeranzug geschneidert, genauso einen wie Lukas hatte, bloß kleiner. Und natürlich war auch eine richtige Schirmmütze dabei. Für die kleine Prinzessin hatte sie ein wunderschönes kleines Brautkleid genäht, mit einem Schleier und einer langen seidenen Schleppe. Natürlich zogen die beiden ihre neuen Sachen sofort an.
Dann schenkte Li Si Jim zur Verlobung eine Tabakspfeife, so eine wie Lukas hatte, bloß viel neuer und auch nicht so groß. Und Jim schenkte Li Si ein kleines, zierliches Rubbelbrett zum Wäschewaschen. Die kleine Prinzessin freute sich riesig, denn so etwas hatte sie natürlich bisher nie in die Hand nehmen dürfen, wegen ihres hohen Standes, obwohl sie wie alle Chinesen für das Wäschewaschen begeistert war.
Und schließlich gaben sie sich einen Kuß, und König Alfons der Viertel-vor-Zwölfte erklärte im Namen der Vereinigten Staaten von Lummerland und Neu-Lummerland, daß sie nun verlobt seien. Die Untertanen warfen ihre Hüte in die Luft, und auch der Kaiser von China schrie mit allen zusammen aus Leibeskräften: „Das Brautpaar, es lebe hoch! hoch! hoch!"
Und die Matrosen auf dem kaiserlichen Staatsschiff entzündeten einen großen Böller, den sie eigens mitgebracht hatten, und schossen Salut und winkten und schrien Vivat, während Jim und Li Si sich bei den Händen nahmen und feierlich auf den beiden Inseln herumzogen.
Das Fest ging den ganzen Tag fort. Nachmittags rief Ping Pong an, um dem Verlobungspaar zu gratulieren. Alle waren vergnügt und ausgelassen. Nur Lukas schien noch auf irgend etwas zu warten.
Als es Abend geworden war und die Dunkelheit hereinbrach, wurden auf Lummerland und Neu-Lummerland Hunderte von Lampions aufgehängt. Und dann ging der Mond auf, und da das Meer an diesem Abend ganz still und glatt war, spiegelten sich all die bunten Lichter im Wasser. Ein unvergleichlicher Anblick, wie sich denken läßt.
Frau Waas hatte sich für diesen Anlaß ganz besondere Mühe gegeben und nicht nur Vanilleeis und Erdbeereis, sondern auch Schokoladeneis gemacht. Und jeder mußte zugeben, daß es das beste Eis war, das er je gegessen hatte. Sogar der Kapitän, der doch weit auf der Welt herumgekommen war. Und das wollte schon etwas heißen.
Jim war gerade ein wenig an den Strand gegangen, um von hier aus in aller Ruhe die Lichterpracht zu betrachten. Er stand ganz versunken in den märchenhaften Anblick, da fühlte er plötzlich eine Hand, die sich auf seine Schulter legte. Er drehte sich um. Es war Lukas, der ihm mit dem Finger winkte.
„Komm mal mit, Jim", raunte er geheimnisvoll.
„Was is'?' fragte Jim.
„Du wolltest doch immer eine Lokomotive haben, alter Junge. Den passenden Anzug hast du ja schon", antwortete Lukas schmunzelnd.
Jims Herz begann zu klopfen.
„Eine Lokomotive?" fragte er, und seine Augen wurden größer und größer. „Eine richtige Lokomotive?"
Lukas legte den Finger an die Lippen und zwinkerte Jim verheißungsvoll zu. Dann nahm er ihn an der Hand und führte ihn zu der kleinen Bahnstation, wo Emma stand und schnaufte.
„Hörst du was?" fragte er.
Jim lauschte. Er hörte nur das Schnaufen von Emma. Aber da - täuschte er sich nicht? Da war doch noch ein anderes, ganz leises kurzes Zischen zu hören. Und jetzt klang etwas wie ein leiser, hoher, kleiner Pfiff.
Jim blickte Lukas mit großen, fragenden Augen an. Lukas nickte lächelnd, führte ihn zu Emmas Kohlentender und ließ ihn hineinblicken.
Da saß eine ganz kleine Lokomotive und schaute Jim mit großen, dummen Babyaugen an. Sie schnaufte emsig vor sich hin und stieß winzigkleine Rauchwölkchen aus. Es schien übrigens eine sehr gute kleine Babylokomotive zu sein, denn sie versuchte schon sehr tapfer, sich auf ihren Räderchen zu halten und zu Jim hinzurollen, wobei sie allerdings immer wieder umfiel. Aber das beeinträchtigte ihre gute Laune durchaus nicht.
Jim streichelte die Kleine.
„Ist das Emmas Kind?" fragte er leise.
Er war tief gerührt.
„Ja", sagte Lukas, „ich wußte schon seit einer ganzen Weile, daß sie eines kriegen würde. Aber ich habe dir nichts davon gesagt, um dich zu überraschen."
„Soll ich sie bekommen?" fragte Jim ganz atemlos vor Glück.
„Wer denn sonst?" antwortete Lukas und paffte. „Mußt sie eben gut pflegen. Sie wird bald größer werden. In ein paar Jahren ist sie so groß wie Emma. - Wie soll sie denn heißen?"
Jim nahm sie auf den Arm und streichelte sie. Nach einigem Nachdenken sagte er:
„Wie fändest du Molly?"
„Das ist ein guter Lokomotivenname", antwortete Lukas nickend. „Aber leg sie jetzt wieder zurück. Vorläufig muß sie noch bei Emma bleiben."
Jim setzte Molly wieder in den Tender und ging mit Lukas zu den anderen zurück und erzählte ihnen, was er bekommen hatte, und natürlich wollten alle die kleine Lokomotive sehen. Jim führte sie hin und zeigte sie ihnen, und sie wurde allerseits gebührend bewundert. Die kleine Molly merkte davon allerdings nichts, denn sie war inzwischen friedlich eingeschlafen und nuckelte vor sich hin.
Ein paar Tage später fuhren der Kaiser und die kleine Prinzessin nach China zurück, denn Li Si sollte natürlich vorerst noch bei ihrem Vater bleiben. Auch wollte die kleine Prinzessin gern wieder in eine Schule gehen - in eine richtige, natürliche, nicht in eine drachenhafte. Und so etwas gab es ja auf Lummerland nicht. Aber die beiden Kinder konnten sich so oft besuchen wie sie Lust hatten, denn das Staatsschiff segelte von nun an oft zwischen Lummerland und China hin und her. Außerdem durften sie natürlich auch das Telefon benützen, wenn König Alfons der Viertel-vor-Zwölfte es nicht gerade brauchte. Er brauchte es allerdings die meiste Zeit, weil er ja nun diplomatische Beziehungen zum Kaiser von China hatte.
Auf Lummerland kehrte das alte friedliche Leben wieder ein. Herr Ärmel ging mit seinem steifen Hut auf dem Kopf und dem Regenschirm unter dem Arm spazieren. Er war hauptsächlich Untertan und wurde regiert. Er war eben nur so da. Genau wie früher.
Lukas fuhr mit Emma über das kurvenreiche Gleis von einem Ende der Insel zum anderen. Und manchmal pfiffen sie zweistimmig, was sich sehr hübsch anhörte, besonders in den Tunnels, weil es da hallte.
Jim war natürlich meistens mit der Pflege seiner kleinen Molly beschäftigt und hatte kaum noch Zeit, Herrn Ärmel zu ärgern oder von einem der Gipfel herunterzurutschen. Er wurde eben langsam erwachsener.
An schönen Abenden aber sah man Jim und Lukas immer nebeneinander an der Landesgrenze sitzen. Die untergehende Sonne spiegelte sich im endlosen Ozean und baute mit ihrem Licht eine goldene, funkelnde Straße vom Horizont bis vor die Füße cler beiden Lokomotivführer. Und ihre Blicke folgten dieser Straße, die in weite Fernen führte, in unbekannte Länder und Erdteile, niemand konnte sagen, wohin. Und dann sagte vielleicht der eine von ihnen:
„Weißt du noch, damals bei Herrn Tur Tur? Ich möchte wissen, wie es ihm jetzt geht."
Und der andere antwortete:
„Erinnerst du dich noch, als wir durch die Region der,Schwarzen Felsen' fuhren und vor dem,Mund des Todes' alles verloren schien?"
Und sie waren sich einig darüber, daß sie beide bald wieder eine große Fahrt ins Ungewisse unternehmen würden. Es gab noch viele Rätsel, die sie erforschen mußten… Und eines Tages wollten sie auch herausbekommen, woher die Seeräuber Jim Knopf geraubt hatten, als er noch ganz klein war. Aber dazu mußten die beiden Freunde die wilden Dreizehn, die ja noch immer die Meere unsicher machten, erst suchen und besiegen. Und das würde ganz bestimmt keine Kleinigkeit sein.
Und während sie Zukunftspläne schmiedeten, schauten sie auf das Meer hinaus, und die großen und kleinen Wellen rauschten dazu an den Landesgrenzen.