Das Abendessen war vorüber. Jim gähnte, als sei er schrecklich müde, und sagte, er wolle gleich ins Bett gehen. Darüber war Frau Waas einigermaßen erstaunt. Für gewöhnlich hatte sie nämlich ziemliche Mühe, Jim zum Schlafengehen zu überreden, aber sie dachte, er würde vielleicht langsam vernünftig. Als er schon im Bett war, kam sie noch einmal zu ihm, wie jeden Abend, deckte ihn gut zu, gab ihm einen Gute-Nacht-Kuß und verließ seine Kammer, nachdem sie das Licht gelöscht hatte. Dann ging sie in die Küche zurück, um noch eine Weile an einem neuen Pullover für den Jungen zu stricken.
Jim lag in seinem Bett und wartete. Der Mond schien zum Fenster herein. Es war sehr still. Nur das Meer rauschte friedlich an den Landesgrenzen, und ab und zu war von der Küche herüber leise das Klappern der Stricknadeln zu hören.
Jim mußte plötzlich daran denken, daß er den Pullover, an dem Frau Waas da arbeitete, niemals tragen würde, und was sie wohl täte, wenn sie das wüßte…
Und als er das überlegt hatte, wurde es ihm so furchtbar wehmütig ums Herz, daß er am liebsten geweint hätte oder in die Küche gelaufen wäre, um Frau Waas alles zu erzählen. Doch dann dachte er wieder an die Worte, die Lukas ihm zum Abschied gesagt hatte, und da wußte er, daß er schweigen mußte. Aber es war schwer, beinahe zu schwer für jemand, der erst ein halber Untertan war.
Und dazu kam noch etwas, womit Jim nicht gerechnet hatte: die Müdigkeit. Er war noch nie so lange aufgeblieben, und nun konnte er die Augen kaum offenhalten. Wenn er wenigstens hin und her gehen oder irgend etwas hätte spielen können! Aber da lag er im warmen Bett, und dauernd fielen ihm die Augen zu.
Er mußte sich immerzu vorstellen, wie wundervoll es wäre, wenn er jetzt einfach einschlafen dürfte. Er rieb sich die Augen und kniff sich in die Arme, um wach zu bleiben. Er kämpfte gegen den Schlaf. Aber plötzlich war er doch eingeschlummert.
Ihm war, als stünde er an der Landesgrenze, und weit draußen auf dem nächtlichen Meer fuhr die Lokomotive Emma. Sie rollte über die Wellen, als ob Wasser etwas Festes wäre. Und im Führerhaus, vom Feuerschein beleuchtet, sah Jim seinen Freund Lukas, der mit einem großen roten Taschentuch winkte und rief:
„Warum bist du nicht gekommen? - Leb wohl, Jim! - Leb wohl, Jim! - Leb wohl, Jim!"
Seine Stimme klang fremd und hallte durch die Nacht. Und jetzt fing es plötzlich zu blitzen und zu donnern an, und ein peitschender, eiskalter Wind wehte vom Meer her. Und im Sausen des Windes ertönte noch einmal Lukas' Stimme:
„Warum bist du nicht gekommen? - Leb wohl! - Leb wohl, Jim!"
Die Lokomotive wurde immer kleiner und kleiner. Noch ein letztes Mal war sie im grellen Schein eines Blitzes sichtbar, dann verschwand sie fern am dunklen Horizont.
Jim bemühte sich verzweifelt, über das Wasser hinterherzulaufen, aber seine Beine waren am Boden wie festgewachsen. Und von der Anstrengung, sie loszureißen, erwachte er und fuhr erschrocken in die Höhe.
Die Kammer war hell vom Mond erleuchtet. Wie spät mochte es sein? War Frau Waas schon schlafen gegangen? War Mitternacht am Ende schon vorüber und der Traum Wirklichkeit?
In diesem Augenblick schlug die Turmuhr auf dem königlichen Palast zwölfmal.
Jim fuhr aus dem Bett, schlüpfte in seine Kleider und wollte aus dem Fenster klettern - da fiel ihm der Brief ein. Den Brief an Frau Waas mußte er unbedingt noch zeichnen, sonst würde sie sich schrecklichen Kummer machen. Und das sollte sie doch nicht. Mit zitternden Händen riß Jim ein Blatt aus seinem Heft und malte folgendes darauf:
Das hieß: Ich bin mit Lukas dem Lokomotivführer auf Emma weggefahren.
Und dann zeichnete er noch schnell darunter:
Das hieß: Mach dir keinen Kummer, sondern sei unbesorgt.
Und zuletzt zeichnete er noch ganz schnell dies hier:
Das sollte heißen: Es küßt dich dein Jim.
Dann legte er das Blatt auf sein Kopfkissen und stieg schnell und leise zum Fenster hinaus.
Als er am verabredeten Ort ankam, war Emma, die Lokomotive, nicht mehr da. Auch Lukas war nirgends zu erblicken. Schnell lief Jim zur Landesgrenze hinunter. Da sah er Emma, die bereits im Wasser schwamm. Rittlings auf ihr saß Lukas der Lokomotivführer. Er hißte gerade ein Segel, dessen Mast er am Führerhäuschen befestigt hatte.
„Lukas!" rief Jim atemlos, „warte doch, Lukas! Ich bin doch da!"
Lukas drehte sich erstaunt um, und ein freudiges Lächeln glitt über sein breites Gesicht.
„Weiß Gott!" sagte er, „das ist Jim Knopf. Ich dachte schon, du wolltest lieber nicht mitkommen. Es hat schon vor einer ganzen Weile zwölf geschlagen."
„Ich weiß schon", antwortete Jim. Er watete hinüber, ergriff Lukas' Hand und schwang sich auf Emma hinauf. „Ich hatte nämlich den Brief vergessen, verstehst du? Darum mußte ich nochmal zurück."
„Und ich fürchtete schon, du hättest verschlafen", sagte Lukas und stieß dicke Rauchwolken aus seiner Pfeife.
„Ich hab' überhaupt nicht geschlafen!" beteuerte Jim. Das war ja zwar gelogen, aber er wollte vor seinem Freund nicht gern unzuverlässig erscheinen.
„Wärst du wirklich einfach ohne mich abgefahren?"
„Na ja", meinte Lukas, „eine Weile hätte ich natürlich schon noch gewartet, aber dann… Ich konnte ja nicht wissen, ob du dir's inzwischen nicht anders überlegt hast. Wäre ja möglich gewesen, nicht wahr?"
„Aber wir hatten's doch abgemacht!" sagte Jim vorwurfsvoll.
„Ja", gab Lukas zu. „Bin ja auch mächtig froh, daß du dich an unsere Abmachung gehalten hast. Jetzt weiß ich, daß ich mich auf dich verlassen kann. Übrigens, wie gefällt dir unser Schiff?"
„Famos!" sagte Jim. „Ich dacht' immer, Lokomotiven gingen im Wasser unter?"
Lukas schmunzelte.
„Nicht, wenn man vorher das Wasser aus dem Kessel herausläßt, den Kohlentender leer macht und die Türen kalfatert", erklärte er und paffte kleine Wölkchen. „Das ist ein Trick, den nicht jeder kennt."
„Was muß man die Türen?" erkundigte sich Jim, der das Wort noch nie gehört hatte.
„Kalfatern", wiederholte Lukas. „Das bedeutet, man muß alle Ritzen gründlich mit Werg und Teer abdichten, damit kein Tropfen Wasser durchsickert. Das ist sehr wichtig, weil durch das wasserdichte Führerhäuschen, den hohlen Kessel und den leeren Tender Emma nicht untergehen kann. Außerdem haben wir dadurch eine hübsche kleine Kajüte, falls es mal regnen sollte."
„Aber wie kommen wir denn hinein?" wollte Jim wissen. „Wenn doch die Türen so fest zu sein müssen?"
„Wir können durch den Tender hinunterkriechen", sagte Lukas. „Du siehst, wenn man nur weiß, wie's gemacht wird, dann schwimmt sogar eine Lokomotive wie eine Ente."
„Ach!" sagte Jim bewundernd. „Aber sie ist doch ganz aus Eisen?"
„Macht nichts", antwortete Lukas und spuckte vergnügt einen Looping ins Wasser. „Es gibt Schiffe, die auch ganz aus Eisen sind. Ein leerer Kanister zum Beispiel ist auch aus Eisen und geht trotzdem nicht unter, solange kein Wasser 'reinläuft."
„Aha!" sagte Jim, als hätte er begriffen. Er fand, daß Lukas ein sehr kluger Mann war. Mit so einem Freund konnte eigentlich nicht viel schiefgehen.
Er war jetzt sehr froh, daß er sein Versprechen gehalten hatte. „Wenn du nichts dagegen hast", sagte Lukas, „dann fahren wir jetzt ab."
„In Ordnung", antwortete Jim.
Sie warfen das Tau los, mit dem Emma am Ufer festgemacht war. Der Wind bauschte das Segel. Der Mast ächzte leise, und das seltsame Schiff setzte sich in Bewegung.
Kein Laut war zu hören außer dem Summen des Windes und dem Plätschern der kleinen Wellen am Bug der Emma.
Lukas hatte seinen Arm um Jims Schulter gelegt, und beide schauten schweigend zu, wie Lummerland mit dem Haus von Frau Waas und dem Haus von Herrn Ärmel, mit der kleinen Bahnstation und dem Schloß des Königs zwischen den beiden ungleichen Gipfeln immer weiter zurückblieb, still und mondbeschienen.
Über Jims schwarze Backe rollte eine dicke Träne.
„Traurig?" fragte Lukas leise. Auch in seinen Augen blinkte es verdächtig. - Jim zog den Inhalt seiner Nase geräuschvoll hoch, fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen und lächelte tapfer.,,Is' schon vorbei."
„Am besten, wir schauen nicht länger zurück", meinte Lukas und gab Jim einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter. Sie drehten sich um, so daß sie nun nach vorne blickten.
„So!" sagte Lukas, „jetzt stopf ich mir erst mal eine neue Pfeife, und dann wollen wir uns ein bißchen unterhalten."
Er stopfte sich seine Pfeife, zündete sie an, stieß ein paar Rauchkringel aus, und dann fingen sie an, sich zu unterhalten. Und nach kurzer Zeit waren sie beide wieder ganz vergnügt und lachten. So segelten sie hinaus auf das mondbeglänzte Meer.