In Ping gab es ungeheuer viele Menschen, die alle Chinesen waren. Jim, der noch niemals so viele Leute auf einmal gesehen hatte, wurde es ganz unheimlich zumut. Alle hatten Schlitzaugen und Zöpfe und trugen große runde Hüte auf den Köpfen.
Jeder Chinese hielt einen anderen Chinesen an der Hand, der etwas kleiner war. Und der hielt wieder einen an der Hand, der noch kleiner war. Und so ging es fort bis hinab zum Kleinsten, der nur etwa die Größe einer Erbse hatte. Ob der nun auch einen noch kleineren Chinesen an der Hand hielt, konnte Jim nicht sehen, denn dazu hätte er ein Vergrößerungsglas gebraucht.
Das waren die Chinesen mit ihren Kindern und Kindeskindern. (Alle Chinesen haben sehr viele Kinder und Kindeskinder.) Und alle wuselten und wimmelten auf der Straße durcheinander und schnatterten und gestikulierten, daß es Jim ganz wirbelig im Kopf wurde.
Die Stadt bestand aus vielen tausend Häusern, und jedes Haus hatte viele, viele Stockwerke, und jedes Stockwerk hatte ein eigenes, vorspringendes Dach, das wie ein Regenschirm aussah und aus Gold war.
Aus jedem Fenster hingen Fähnchen und Lampions, und in den Seitengäßchen waren Hunderte von Wäscheleinen von Haus zu Haus gespannt. An denen trockneten die Leute ihre viele Wäsche. Denn die Chinesen sind ein sehr sauberes Volk. Sie ziehen niemals etwas Schmutziges an, und selbst der kleinste Chinese, der nur so groß ist wie eine Erbse, wäscht seine Wäsche jeden Tag und hängt sie an eine Leine, nicht dicker als ein Zwirnsfaden.
Emma mußte sich sehr vorsichtig einen Weg durch die Menschenmenge suchen, damit sie niemand totfuhr. Sie war schrecklich aufgeregt, das konnte man an ihrem Keuchen hören. Ununterbrochen tutete und pfiff sie, um die Kinder und Kindeskinder aus dem Weg zu scheuchen. Sie war schon völlig außer Atem.
Endlich hatten sie den Hauptplatz vor dem kaiserlichen Palast erreicht. Lukas zog an einem Hebel. Emma blieb stehen und ließ mit einem ungeheuren Seufzer der Erleichterung den Dampf ab. Die Chinesen stoben vor Schreck nach allen Seiten auseinander. Sie hatten noch nie eine Lokomotive gesehen und glaubten, Emma wäre ein Ungeheuer, das seinen heißen Atem auf sie blies, um sie zu töten und sie dann zum Frühstück zu essen.
Lukas zündete sich gemächlich eine neue Pfeife an und sagte zu Jim:
„So, meine Junge, komm mit! Jetzt wollen wir mal sehen, ob der Kaiser von China zu Hause ist."
Sie stiegen aus und gingen auf den Palast zu. Um die Eingangspforte zu erreichen, mußten sie erst neunundneunzig Treppenstufen aus Silber hinaufsteigen. Das Tor war zehn Meter hoch und sechseinhalb Meter breit und ganz und gar aus kostbar geschnitztem Ebenholz. Das ist ein kohlpechrabenschwarzes Holz, von dem es auf der ganzen Welt nur hundertzwei Zentner und sieben Gramm gibt. So selten ist es. Gut die Hälfte davon war für den Bau dieser gewaltigen Tür verarbeitet worden.
Neben dem Tor war ein Schild aus Elfenbein angebracht, auf dem in goldenen Lettern stand:
Und darunter befand sich ein Klingelknopf aus einem einzigen großen Diamanten.
„Donnerwetter!" sagte Lukas der Lokomotivführer bewundernd, als er alles betrachtet hatte. Jim machte wieder kugelrunde Augen.
Dann drückte Lukas auf den Klingelknopf. Darauf öffnete sich eine kleine Klappe in der riesigen Ebenholztür. Ein dicker gelber Kopf schaute heraus und grinste die beiden Freunde liebenswürdig an. Natürlich gehörte zu diesem Kopf ein ebenso dicker Körper, aber den konnte man nicht sehen, weil er hinter der Tür verborgen blieb. Der dicke gelbe Kopf fragte mit hoher Fistelstimme:
„Was wünschen die erlauchten Herrschaften?"
„Wir sind zwei ausländische Lokomotivführer", antwortete Lukas. „Und wir möchten gern den Kaiser von China sprechen, wenn es sich machen läßt."
„In welcher Angelegenheit wünschen Sie unseren erhabenen Kaiser zu sprechen?" fragte der Kopf und lächelte gewinnend.
„Das werden wir ihm am besten selber sagen", meinte Lukas.
„Leider ist es ganz unmöglich, sehr ehrenwerter Führer einer liebreizenden Mokolotive", säuselte der Kopf über dem unsichtbaren Körper und grinste immer liebenswürdiger, „ganz und gar unmöglich, unseren erhabenen Kaiser zu sprechen. Oder haben Sie vielleicht eine Einladung?"
„Nein", sagte Lukas verdutzt, „wozu denn?"
Der dicke gelbe Kopf in der Türklappe erwiderte:
„Verzeihen Sie mir unwürdiger Blattlaus, aber dann darf ich Sie nicht einlassen. Der Kaiser hat keine Zeit."
„Aber irgendwann im Laufe des Tages", meinte Lukas, „hat er doch sicher mal Zeit für uns."
„Ich bedaure überaus!" entgegnete der Kopf und lächelte zuckersüß von einem Ohr bis zum anderen. „Unser erhabener Kaiser hat niemals Zeit. Entschuldigen Sie mich!"
Und damit schloß sich die Klappe mit einem Knall.
„Verflixt und zugenäht!" brummte Lukas vor sich hin.
Während sie die neunundneunzig Stufen aus Silber wieder hinunterschritten, sagte Jim: „Ich hab' das Gefühl, der Kaiser würde vielleicht schon Zeit für uns haben. Der dicke gelbe Kopf will uns nur nicht 'reinlassen."
„Das ist es ja", knurrte Lukas grimmig.
„Und was wollen wir jetzt machen?" fragte Jim.
„Jetzt schauen wir uns erst mal in der Stadt um", sagte Lukas unternehmungslustig. Wenn er ärgerlich war, dann blieb er es nie lange.
Sie überquerten den Platz, auf dem sich eine riesige Menschenmenge angesammelt hatte. Aus ehrfurchtsvoller Entfernung staunten die Chinesen die Lokomotive an. Emma war das sehr peinlich. Sie hatte die Scheinwerferaugen verschämt niedergeschlagen. Als Lukas auf sie zutrat und sie auf den Leib klopfte, atmete sie erleichtert auf.
„Hör zu, Emma", sagte Lukas, „Jim und ich, wir gehen jetzt ein bißchen in die Stadt. Bleib schön hier und halt dich still, bis wir zurück sind."
Emma seufzte ergeben.
„Es dauert bestimmt nicht lange", tröstete sie Jim.
Dann machten sie sich auf den Weg.
Stundenlang schlenderten die beiden Freunde durch die engen Gassen und die bunten Straßen, und es war einfach ungeheuer, was es da alles Fremdartiges und Merkwürdiges zu sehen gab.
Zum Beispiel die Ohrenputzer! Die Ohrenputzer arbeiteten so ähnlich, wie bei uns die Schuhputzer. Sie hatten auf der Straße bequeme Stühle aufgestellt, darauf mußte man sich setzen. Und dann wurden einem die Ohren geputzt. Aber nicht nur so einfach mit dem Waschläppen, o nein! Das war eine lange und kunstvolle Prozedur. Jeder Ohrenputzer hatte ein kleines Tischchen mit einer silbernen Platte, und darauf lagen unzählige kleine Löffelchen und Pinselchen und Stäbchen und Bürstchen und Wattebäuschchen und Döschen und Töpfchen. Und damit machte er sich ans Werk.
Die Chinesen gehen sehr gerne zum Ohrenputzer. Erstens natürlich aus Reinlichkeit, zweitens aber auch, weil es so angenehm kitzelt und kribbelt, wenn der Ohrenputzer ganz vorsichtig seine Arbeit verrichtet. Das mögen die Chinesen sehr.
Dann gab es auch noch die Haarzähler, die einem die Haare auf dem Kopf zählen. Denn in China ist es wichtig, zu wissen, wieviele Haare man hat. So ein Haarzähler hat eine winzig kleine, flache goldene Zange, mit der er jedes Haar einzeln fassen kann. Er zählt immer hundert Haare zusammen, und dann bindet er um das Büschel ein Schleifchen. Und das macht er so lange, bis der ganze Kopf voller Schleifchen ist. Neben ihm sitzt sein Haarzählergehilfe, der alles zusammenrechnet. Natürlich dauert es oft viele Stunden, bis alle Haare gezählt sind. Bei manchen Leuten geht es allerdings auch sehr schnell, denn auch in China kommt es vor, daß jemand nur noch drei oder zwei Haare auf dem Kopf hat.
Aber es gab noch vieles andere!
Zum Beispiel waren auf den Straßen überall Zauberkünstler zu sehen. Einer konnte auf seiner bloßen Hand aus einem Samenkorn ein Bäumchen wachsen lassen, auf dem sogar ganz richtige, winzig kleine Vögel saßen und zwitscherten. An den Zweigen hingen Früchte, so klein wie Liebesperlen. Man durfte sie abzupfen und essen, und sie schmeckten zuckersüß.
Es gab auch Akrobaten, die mit ihren erbsengroßen Kindern jonglierten wie mit Bällen. Und die Kinder machten sogar noch auf kleinen Trompeten lustige Musik, während sie in der Luft herumflogen.
Und was es alles zu kaufen gab! Kein Mensch wird das für möglich halten, der nicht selber in China gewesen ist. Es wäre ganz sinnlos, alle diese Früchte und kostbaren Stoffe und Geschirre und Spielsachen und Gebrauchsgegenstände aufzuzählen, weil dann dieses Buch zehnmal so dick werden würde.
Ja, und dann gab es auch noch die Elfenbeinschnitzer. Das ist eine ganz unglaubliche und wunderbare Sache, Manche von diesen Elfenbeinschnitzern waren schon über hundert Jahre alt, und sie hatten in ihrem ganzen Leben nur ein einziges Stück geschnitzt. Aber dieses Stück war nun so kostbar, daß niemand auf der Welt es bezahlen konnte. Und darum schenkten sie es schließlich jemand, den sie für würdig hielten. Manche hatten zum Beispiel eine Kugel geschnitzt, ungefähr so groß wie ein Fußball. Diese Kugel war über und über mit den schönsten Bildern bedeckt. Die Bilder waren nicht gemalt, sondern geschnitzt, so fein geschnitzt, als wären sie aus kostbarer Spitze. Dabei war es aber hartes Elfenbein.
Wenn man nun durch diese Elfenbein-Spitze hineinguckte, wie durch ein ganz zartes Gitter, dann erblickte man im Innern der Kugel - eine zweite Kugel. Die lag lose darin und war ebenso wundervoll geschnitzt. Und im Innern der zweiten Kugel war wieder eine Kugel. Und so ging es fort bis ganz ins Allerinnerste. Das Erstaunliche und Merkwürdige aber war, daß die Künstler solche Wunderwerke aus einem Stück geschnitzt hatten, ohne eine der Kugeln aufzumachen. Nur durch die feinen Löchlein der Spitze hindurch hatten sie das fertiggebracht mit ganz dünnen, winzigen Messerchen und Meißelchen. Sie hatten angefangen vor langen, langen Jahren, als sie noch Erbsenkinder waren. Und als sie ihr Werk beendeten, waren sie uralt und weißhaarig. Ihr ganzes Leben war nun auf den ineinandersteckenden Kugeln zu sehen, wie in einem geheimnisvollen Bilderbuch.
Die Elfenbeinschnitzer wurden von allen Chinesen sehr verehrt, und man nannte sie: Die großen Meister vom Elfenbein.