Das „Tal der Dämmerung" war eine düstere Schlucht, ungefähr so breit wie eine Straße. Der Boden bestand aus rotem Gestein und war glatt wie Asphalt. Bis hier herunter drang nie ein Lichtstrahl. Links und rechts stiegen senkrechte Felsentürme bis in Himmelshöhen hinauf. Und weit hinten, ganz am anderen Ende der Schlucht, stand groß die rote Abendsonne und übergoß die zerklüfteten Wände mit ihrem Purpurlicht.
Vor dem Eingang zu der Schlucht hielt Lukas die Lokomotive an, und er und Jim gingen erst einmal ein Stück zu Fuß hinein, um zu sehen, was es mit den unheimlichen Stimmen auf sich hätte.
Aber es war nichts zu hören. Eine feierliche und geheimnisvolle Stille herrschte ringsum. Jims Herz klopfte, und er faßte nach Lukas' Hand. So standen sie eine Weile schweigend. Endlich meinte Jim:
„Es is' doch ganz still!"
Lukas nickte und wollte eben etwas erwidern, da ertönte plötzlich Jims Stimme ganz deutlich rechts in dem Felsen:
„Es is' doch ganz still!"
Und dann von links oben ebenso: „Es is' doch ganz still!"
Und dann ging es in einer Art Gemurmel immer abwechselnd links und rechts das ganze Tal hinunter:
„Es is' doch ganz still! - Es is' doch ganz still! - Es is' doch ganz still!"
„Was is' das?" fragte Jim erschrocken und umklammerte Lukas' Hand fester.
„Was is' das? - Was is' das? - Was is' das?" raunte es die Felswände entlang.
„Keine Angst!" antwortete Lukas beruhigend. „Das ist nur ein Echo."
„Nur ein Echo - nur ein Echo - nur ein Echo" scholl es durch die Schlucht.
Die beiden Freunde gingen zu ihrer Emma zurück und wollten eben einsteigen, als Jim plötzlich flüsterte:
„Pst, Lukas! Hör doch mal!"
Lukas lauschte. Und nun vernahmen sie, wie das Echo vom anderen Ende der Schlucht wieder zurückkam. Erst war es noch ganz leise, dann schwoll es immer mehr an:
„Es is' doch ganz still! - Es is' doch ganz still! - Es is' doch ganz still!"
Aber seltsam, jetzt war es nicht mehr allein die Stimme von Jim, sondern es klang, als ob hundert Jims durcheinander redeten. Das hörte sich natürlich schon um ein beträchtliches lauter an. Nun kehrte das Echo wieder um und wanderte aufs neue das Tal hinunter.
„Na, so was!" raunte Lukas. „Das Echo kommt zurück und hat sich inzwischen vermehrt, wie es scheint."
Jetzt kam das zweite Echo aus der Ferne wieder, immer abwechselnd links und rechts:
„Was is' das? - Was is' das? - Was is' das?" rief es aus den Felsen. Es klang schon wie eine ganze Volksmenge von Jims. Dann kehrte das Echo um und entfernte sich wieder.
„Na", flüsterte Lukas, „das kann ja lustig werden, wenn das so weitergeht."
„Warum meinst du?" fragte Jim ängstlich und leise. Es war ihm gar nicht recht geheuer, wie seine Stimme da auf eigene Faust umhergeisterte und sich vervielfältigte.
„Stell dir doch mal vor", antwortete Lukas gedämpft, „was passieren wird, wenn Emma anfängt, in dem Tal herumzupoltern. Das wird sich anhören wie ein ganzer Hauptbahnhof."
Eben kam das dritte Echo zurück und näherte sich, immer im Zickzack durch die Schlucht hallend:
„Nur ein Echo - nur ein Echo - nur ein Echo" sagten tausend Lukasse aus den Felswänden. Dann machten die Stimmen kehrt und wanderten wieder zum anderen Ende des Tales.
„Wie kommt denn das?" flüsterte Jim.
„Schwer zu sagen", antwortete Lukas. „Man müßte es erforschen."
„Achtung!" raunte Jim. „Da kommt es wieder!"
Jetzt kam das erste Echo zum zweitenmal aus der Ferne zurück und hatte sich inzwischen unheimlich vermehrt.
„Es is' doch ganz still! - Es is' doch ganz still! - Es is' doch ganz still!" riefen zehntausend Jims. Es war ein Getöse, daß den beiden Freunden die Ohren dröhnten.
Als es vorüber war, hauchte Jim:
„Was können wir bloß dagegen unternehmen, Lukas? Das wird ja immer ärger!"
Lukas raunte zurück:
„Ich fürchte, da ist nichts zu machen. Wir können nur versuchen, so schnell wie möglich durch die Schlucht durchzufahren."
Wieder kam ein Echo vom oberen Ende des Tales zurück. Es war Jims Frage: „Was is' das?" Aber diesmal waren es schon an die hunderttausend Jims, die riefen. Der Boden zitterte unter der Lokomotive, und Jim und Lukas mußten sich die Ohren zuhalten.
Als das Echo wieder davongezogen war, griff Lukas rasch entschlossen in ein Fach neben den Hebeln und holte eine Kerze hervor, die von der Hitze des Dampfkessels ziemlich weich war. Schnell streifte er das Wachs vom Docht, formte zwei kleine Kugeln und gab sie Jim.
„Hier", sagte er, „tu das in die Ohren, damit dir das Trommelfell nicht platzt! Und vergiß nicht, den Mund aufzumachen!"
Jim stopfte sich eilig das Wachs in die Ohren, und Lukas tat das gleiche. Dann erkundigte er sich durch Zeichen, ob Jim noch etwas hören könne. Beide lauschten, aber das dritte Echo, das mit Donnergetöse näherkam und wieder davonzog, vernahmen sie nur ganz leise.
Lukas nickte befriedigt, zwinkerte Jim vergnügt zu, warf ein paar Schaufeln Kohle aufs Feuer, und dann rollten sie mit Volldampf hinein in die unheimliche Schlucht. Der Boden war glatt, und so sausten sie mit einer ganz schönen Geschwindigkeit vorwärts, allerdings auch mit entsprechendem Gepolter und Gezisch.
Um verstehen zu können, was die beiden Freunde nun gleich erleben sollten, muß man wissen, was es mit diesem „Tal der Dämmerung" für eine Bewandtnis hatte.
Die Felsenwände standen nämlich so, daß der Schall immer im Zickzack hin und her geworfen wurde und nicht aus dem engen Tal hinauskonnte. Wenn das Echo von einem Ende der Schlucht zum anderen gelangt war, konnte es nicht ins Freie entwischen, sondern es mußte umkehren. Es kam zu seinem Ausgangspunkt zurück, und hier mußte es wieder umkehren, und so ging es immerfort hin und her von einem Ende zum anderen. Jedes Echo erzeugte natürlich ein neues Echo, und das neue Echo wieder ein neues. Und so wurden es immer mehr und mehr Stimmen. Und je mehr Stimmen es wurden, desto lauter dröhnte es natürlich. Im allgemeinen hatte das bisher nicht allzu viel ausgemacht, aber jetzt erklang das Poltern einer Lokomotive in der Schlucht. Und das war eben doch etwas ganz anderes!
Übrigens könnte sich jetzt die Frage erheben, warum es denn so still gewesen war, als Lukas und Jim die Schlucht betreten hatten. Eigentlich müßte doch der kleinste Schall, der jemals in das Tal hineingeraten war, noch immer darin herumirren. Ja, er müßte sich sogar ganz beträchtlich vervielfältigt haben.
Nun, das wäre eine sehr scharfsinnige Frage, eine richtige Naturforscherfrage. Die Überlegung ist nämlich ganz richtig, und wenn die beiden Freunde zwei Tage früher in das Tal gekommen wären, dann hätten sie noch ein ungeheures Tosen vernommen. Dieser Lärm war aus ein paar Geräuschen entstanden, die ursprünglich einmal ganz leise gewesen waren, sich aber im Laufe der Zeit unheimlich verstärkt hatten. Zum Beispiel war das Miau einer kleinen Katze elfhunderttausendmal zu hören, das Ziwitt eines Spatzen eine Million mal und das Rieseln eines herabfallenden Steinchens siebenhundertmillionenmal. Man kann sich ungefähr vorstellen, wie das dröhnte.
Aber wo war der Schall geblieben?
Die Lösung dieses Rätsels liegt darin, daß es inzwischen - geregnet hatte! Jedesmal wenn es regnete, blieb nämlich an jedem Regentropfen sozusagen ein wenig Echo hängen und wurde weggespült. So wurde das „Tal der Dämmerung" immer wieder von Geräuschen gereinigt. Und da es gerade am Tage vor der Ankunft von Lukas, Jim und Emma sehr heftig geregnet hatte und inzwischen kein neues Geräusch in das Tal hineingeraten war, hatte eben vollkommene Stille geherrscht.
Aber wenden wir uns nun wieder unseren beiden Freunden zu, die mit Volldampf durch die Schlucht dahinbrausten.
Der Weg war länger, als Lukas geschätzt hatte. Als sie ungefähr die Mitte des Tales erreicht hatten, blickte Jim zufällig einmal zurück. Und was er da sah, war wahrhaftig dazu angetan, auch dem mutigsten Mann einen eiskalten Schrecken einzujagen!
Wenn sie noch immer am Eingang der Schlucht gestanden hätten, dann wären sie jetzt schon unter einer unbeschreiblichen Last von Felsentrümmern begraben gewesen. Von beiden Seiten waren dort hinten die Bergwände zusammengestürzt. Jim sah, wie links und rechts die Felswände zersplitterten, als würden sie gesprengt, wie die himmelhohen Berggipfel ins Wanken gerieten, in sich zusammenbrachen und das „Tal der Dämmerung" mit ihren Trümmern füllten. In Windeseile kam das Unheil hinter der Lokomotive her.
Jim schrie auf und riß Lukas am Ärmel. Lukas drehte sich um und erfaßte mit einem Blick das drohende Verhängnis. Ohne sich eine Sekunde zu besinnen, warf er einen kleinen roten Hebel herum, auf dem stand:
Nothebel! Nur in äußerster Gefahr benützen!
Er hatte diesen Hebel seit vielen Jahren nicht mehr gebraucht, und es war sehr ungewiß, ob die gute alte Emma solch einer Anstrengung noch gewachsen war. Aber es blieb keine Wahl.
Emma spürte das Signal und stieß einen gellenden Pfiff aus, der heißen sollte: Ich habe verstanden! Und dann stieg der Zeiger auf dem Geschwindigkeitsmesser am Schaltbrett, stieg weiter und weiter, stieg über den roten Strich hinaus, bei dem
Höchstgeschwindigkeit
stand, stieg noch weiter bis dorthin, wo gar nichts mehr stand, und dann zersprang der Geschwindigkeitsmesser in tausend Stücke. -
Wie es ihnen gelang, wußten Jim und Lukas später selber nicht mehr, aber sie brachten es fertig, dem Untergang zu entrinnen. Wie eine Kanonenkugel schoß die Lokomotive aus dem Ende der Schlucht heraus, gerade in dem Augenblick, als hoch über ihnen die letzten Berggipfel ineinanderstürzten.
Lukas legte den roten Hebel zurück. Emma rollte langsamer, und dann gab es plötzlich einen Ruck. Die Lokomotive ließ allen Dampf ab und blieb einfach stehen. Sie schnaufte nicht und gab überhaupt kein Lebenszeichen mehr von sich.
Lukas und Jim stiegen aus, nahmen das Wachs aus den Ohren und blickten zurück.
Hinter ihnen lag das Gebirge „Die Krone der Welt", und an Stelle der Schlucht, durch die sie gekommen waren, erhob sich meilenhoch eine rote Staubwolke.
Dort war einmal das „Tal der Dämmerung" gewesen.