Die Reise verlief ohne besondere Zwischenfälle. Zum Glück blieb das Wetter weiterhin freundlich. Eine leichte, anhaltende Brise schwellte Tag und Nacht das Segel und ließ die Emma gut vorwärts kommen.
„Ich möcht' nur wissen", meinte Jim nochmal nachdenklich, „wo wir eigentlich hinfahren."
„Keine Ahnung", erwiderte Lukas dann zuversichtlich. „Wir werden uns einfach überraschen lassen."
Einige Tage lang wurden sie von einem Schwärm fliegender Fische begleitet, die den beiden Freunden viel Vergnügen bereiteten. Fliegende Fische sind nämlich sehr fröhliche Leute. Sie schwirrten um Jims Kopf und spielten Haschen mit ihm. Er erwischte allerdings nie einen, weil sie unglaublich flink waren, aber vor Eifer plumpste er ein paarmal ins Wasser. Zum Glück konnte er gut schwimmen, das hatte er am Strand von Lummerland schon gelernt, als er noch ganz klein war. Wenn Lukas ihn dann herauszog und er tropfnaß auf dem Dach des Führerhäuschens stand, streckten alle fliegenden Fische ihre Köpfe aus dem Wasser und sperrten die Münder weit auf, als ob sie lachten. Hören konnte man natürlich nichts, weil Fische bekanntlich stumm sind.
Wenn die Reisenden hungrig waren, dann fischten sie sich einfach ein paar Meerbirnen oder Seegurken von den hohen Korallenbäumen. Diese Bäume wachsen nämlich oft so hoch, daß sie vom Meeresgrund bis hinauf an die Wasseroberfläche reichen. Die Meeresfrüchte waren nahrhaft und vitaminreich und außerdem so saftig, daß die beiden Freunde niemals Durst zu leiden brauchten. (Das Meerwasser kann man ja nicht trinken, weil es ganz salzig schmeckt.)
Tagsüber erzählten sie sich gegenseitig Geschichten oder sie pfiffen Lieder oder spielten Mensch-ärgere-dich-nicht. Eine Schachtel mit Gesellschaftsspielen hatte Lukas nämlich vorsichtshalber mitgenommen, weil er schon damit gerechnet hatte, daß es eine ziemlich lange Fahrt werden würde.
Nachts, wenn sie schlafen wollten, öffneten sie den Deckel des Tenders, der sonst immer geschlossen blieb, damit kein Wasser hineinspritzte, und schlüpften durch das Kohlen-Nachschub-Loch in das Führerhäuschen hinunter. Von innen zog Lukas den Tenderdeckel wieder sorgfältig zu. Dann wickelten sie sich in warme Decken und machten es sich bequem. Natürlich war es ziemlich eng in der Kajüte, aber auch sehr gemütlich, besonders wenn das Wasser von außen gegen die kalfaterten Türen gluckste und Emma wie eine große Wiege auf und nieder schaukelte.
Eines Morgens - genauer gesagt am dritten Tag der vierten Woche ihrer Reise - wachte Jim sehr früh auf. Ihm war so, als habe er einen deutlichen Ruck gespürt.
„Was is' denn das?" dachte er. „Und warum schaukelt Emma nicht mehr, sondern steht ganz ruhig?"
Da Lukas noch fest schlief, beschloß Jim, selbst nachzusehen. Vorsichtig, um seinen Freund nicht zu wecken, stand er auf, stellte sich auf die Zehen und guckte durch eines der Fenster hinaus.
In der rosigen Morgendämmerung erblickte er eine Landschaft von wundervoller Schönheit und Zartheit. Etwas ähnlich Herrliches hatte er noch nie gesehen. Nicht einmal auf Abbildungen.
„Nein", sagte er sich nach einer Weile, „das is' wahrscheinlich gar nicht Wirklichkeit. Bestimmt träum' ich nur, daß ich hier steh' und das alles seh'."
Und rasch legte er sich wieder hin und machte die Augen zu, um weiterzuträumen. Aber mit geschlossenen Augen sah er gar nichts mehr.
Also konnte es wohl doch kein Traum sein. Er stand noch einmal auf und guckte hinaus, und da war die Landschaft wieder.
Wunderbare Bäume und Blumen in den seltsamsten Farben und Formen gab es da draußen, aber sonderbarerweise schienen sie alle durchsichtig zu sein, durchsichtig wie buntes Glas. Vor dem Fenster, durch das Jim hinausblickte, stand ein sehr dicker, sehr alter Baum, so mächtig, daß drei Männer seinen Stamm nicht hätten umspannen können. Aber man konnte alles, was dahinter lag, durch ihn hindurchsehen, wie durch ein Aquarium, Der Baum war von zartvioletter Farbe, und deshalb sah alles dahinter zartviolett aus.
Duftige Nebelschleier schwebten über den Wiesen, und da und dort schlängelten sich Flüsse, über die sich zierliche, schmale Brücken aus Porzellan schwangen. Manche dieser Brücken hatten seltsame Dächer, daran hingen Tausende von kleinen Glocken aus Silber, die im Morgenlicht glitzerten. An vielen Bäumen und Blumen hingen ebenfalls silberne Glöckchen, und wenn ein leichter Wind über das Land strich, dann erscholl bald hier, bald dort ein ganz überirdisch fernes, vielstimmiges Klingen.
Große Schmetterlinge mit schimmernden Flügeln schwebten zwischen den Blüten hin und her, und winzige Vögelchen mit langen gebogenen Schnäbeln saugten Honig und Tautropfen aus den Kelchen. Diese Vögel waren nicht größer als Hummeln. (Man nennt sie Kolibris. Sie sind die kleinsten Vögel, die es überhaupt auf der Welt gibt, und sie sehen aus, als wären sie aus purem Gold und Edelsteinen.)
Ganz in der Ferne, am Horizont, erhob ein gewaltiges Gebirge seine Gipfel hoch in die Wolken. Es war rot und weiß gemustert. Aus dieser Entfernung sah es aus wie eine wunderschöne Zierleiste aus dem Schulheft eines Riesenkindes.
Jim schaute und schaute, und vor lauter Staunen vergaß er, den Mund zuzumachen.
„Na", hörte er plötzlich Lukas sagen, „du machst ja nicht gerade ein sehr geistreiches Gesicht, alter Junge. Übrigens, guten Morgen, Jim!"
Und er gähnte herzhaft.
„Oh, Lukas!" stammelte Jim, ohne den Blick von der Landschaft zu wenden. „Da draußen… wie das alles durchsichtig is' und… und… und…"
„Wieso durchsichtig?" fragte Lukas und gähnte noch einmal. „Wasser ist, soviel ich weiß, immer durchsichtig. Mir wird das viele Wasser allmählich ein bißchen langweilig. Möchte wissen, wann wir endlich irgendwo ankommen."
„Wieso denn Wasser?" Jim schrie beinahe vor Aufregung. „Ich mein' doch die Bäume!"
„Bäume?" fragte Lukas und streckte sich, daß es knackte. „Du träumst wohl noch, Jim. Auf dem Meer wachsen keine Bäume, und schon gar keine, die durchsichtig sind."
„Doch nicht auf dem Meer!" rief Jim. Er wurde langsam ungeduldig. „Da draußen is' Land und Bäume und Blumen und Brücken und Berge…"
Er faßte Lukas an der Hand und versuchte aufgeregt, ihn hochzuziehen.
„Na, na, na!" brummte Lukas, während er aufstand. Und dann schaute er durch das Fenster hinaus und sah die märchenhafte Landschaft, und da sagte auch er erst einmal eine ganze Weile gar nichts mehr. Schließlich stieß er hervor:
„Donnerwetter!"
Und dann sagte er wieder eine ganze Weile nichts. Der Anblick überwältigte ihn.
„Was für ein Land kann das nur sein?" unterbrach Jim endlich das Schweigen.
„Diese merkwürdigen Baume…?" murmelte Lukas gedankenvoll, „diese Silberglöckchen überall, diese geschwungenen, schmalen Brücken aus Porzellan…?" Und plötzlich rief er: „Ich will nicht Lukas der Lokomotivführer heißen, wenn das nicht das Land China ist! Komm, Jim, hilf mir! Wir müssen Emma ganz auf den Strand schieben."
Sie kletterten hinaus und schoben Emma aufs Trockene. Und als das geschehen war, setzten sie sich erst mal hin und frühstückten in aller Ruhe. Sie aßen die letzten Seegurken aus ihrem Vorrat auf. Dann zündete Lukas sich seine Pfeife an
„Und wohin fahren wir jetzt?" wollte Jim wissen. „Das beste wird sein", überlegte Lukas, „wir fahren erst mal nach Ping. So heißt, soviel ich weiß, die Hauptstadt von China. Wollen mal sehen, ob wir nicht vielleicht seine Majestät den Kaiser sprechen können."
„Was willst du denn von ihm?" erkundigte sich Jim bewundernd.
„Ich will ihn fragen, ob er nicht eine Lokomotive und zwei Lokomotivführer brauchen kann. Vielleicht hat er so was gerade nötig. Dann könnten wir hier bleiben, verstehst du? Das Land scheint ja nicht übel zu sein."
Also gingen sie an die Arbeit und machten Emma wieder landtüchtig. Zueist montierten sie den Mast und das Segel ab. Dann öffneten sie die kalfaterten Türen wieder, indem sie den Teer und das Werg sorgfältig aus allen Ritzen entfernten, und zuletzt füllten sie Emmas Kessel wieder mit Wasser und den Tender mit trockenem Treibholz, das massenhaft am Strand herumlag.
Als das geschehen war, machten sie Feuer unter dem Kessel. Dabei zeigte sich übrigens, daß das durchsichtige Holz fast ebenso ausgezeichnet brannte wie Kohle. Als das Wasser im Kessel ordentlich kochte, dampften sie los. Die gute alte Emma fühlte sich jetzt wieder viel wohler als auf dem Meer, denn das Wasser war natürlich doch nicht so ganz ihr Element.
Nach kurzer Zeit hatten sie eine breite Straße erreicht, auf der sie bequem und schnell dahinrollen konnten. Selbstverständlich hüteten sie sich, über eine der kleinen Brücken aus Porzellan zu fahren, weil Porzellan, wie jeder weiß, sehr zerbrechlich ist und es nicht besonders gut verträgt, wenn man mit einer Lokomotive drüber fährt.
Und es war ihr Glück, daß sie nicht nach rechts oder links abbogen, denn die Straße führte direkt nach Ping, der Hauptstadt von China.
Erst fuhren sie nur immer auf den Horizont zu, über dem sich das rot und weiß gestreifte Gebirge erhob. Aber ungefähr nach fünfeinhalb Stunden Fahrt erblickte Jim, der auf das Dach der Lokomotive geklettert war, um Ausschau zu halten, in der Ferne etwas, was aussah wie Tausende und aber Tausende von großen Zelten. Alle diese Zelte glänzten in der Sonne wie Metall.
Jim rief zu Lukas hinunter, was er gesehen hatte, und Lukas antwertete: „Das sind die goldenen Dächer von Ping. Wir sind also auf dem richtigen Weg."
Und nach einer weiteren halben Stunde hatten sie die Stadt erreicht.