IX

Gorg weckte ihn am nächsten Morgen durch sanftes Rütteln an der Schulter. Kim öffnete widerstrebend die Augen. In der Höhle war es noch finster. Die Glut des Feuers, über dem sie sich ein einfaches, aber wohlschmeckendes Abendmahl bereitet hatten, warf einen sanften roten Schimmer an die rauhen Wände und erweckte die Schatten in den Ecken zum Leben. Schwacher Bratenduft lag in der Luft. Irgendwo tropfte Wasser, und aus dem hinteren Teil der langgezogenen Höhle drangen Kelhims Brummen und das leise, ängstliche Wiehern seines Pferdes. Kim hatte seine ganze Überredungskunst aufbieten müssen, um das Tier dazu zu bewegen, mit in die Höhle zu kommen, und es war die ganze Nacht unruhig geblieben.

Er stand auf, streckte sich und legte dann den Kopf in den Nacken, um zu Gorg hinaufzuschauen.

Der Riese lächelte väterlich zu ihm herunter. Er deutete mit dem Daumen über die Schulter.

»Es wird Zeit«, sagte er.

Kim gähnte. »Schon?« Er hatte lange geschlafen, aber er fühlte sich noch immer wie zerschlagen.

»Ich fürchte, uns bleibt nicht soviel Zeit, wie wir gehofft haben«, antwortete Gorg.

Im Nu war Kim hellwach. »Ist etwas passiert?« fragte er erschrocken.

Gorg schüttelte den Kopf, nickte dann und erklärte: »In der Nacht ist eine Abteilung schwarzer Reiter an der Höhle vorbeigekommen. - Nein, nein, kein Grund zur Aufregung«, setzte er beschwichtigend hinzu. »Sie haben uns nicht entdeckt, und selbst wenn sie von unserer Anwesenheit gewußt hätten, wären wir hier drinnen sicher gewesen.«

»Ihr hättet mich trotzdem wecken müssen«, sagte Kim.

Gorg winkte ab. »Du hattest den Schlaf bitter nötig«, sagte er bestimmt und in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Aber Kelhim konnte die Reiter belauschen.«

»Und?« fragte Kim gespannt.

Gorg zuckte die Achseln. »Wir wissen nicht, ob es stimmt, aber vielleicht doch... jedenfalls glaubt Kelhim verstanden zu haben, daß sich diese Reiter - und viele andere kleine Gruppen, die in den letzten Wochen über die Berge gekommen sind - mit einem großen Heer vereinigen wollen, das irgendwo ganz in der Nähe auf einen Angriffsbefehl wartet. Vielleicht hat sich Kelhim verhört, vielleicht auch nicht, aber Kelhim und ich, wir jedenfalls sind der Meinung, daß die Nachricht weitergegeben werden sollte.«

»Sie stimmt«, sagte Kim. »Und ihr hättet die Reiter nicht belauschen müssen. Ich habe dieses Heer gesehen.«

Trotz der Düsternis, die in der Höhle herrschte, war das Erschrecken auf Gorgs Gesicht deutlich zu erkennen.

»Es stimmt also?« rief er. »Aber dann...«

»Diese Reiter sind nur die Vorhut«, erklärte Kim. »Wahrscheinlich sollen sie nur die Gegend auskundschaften und Unruhe und Angst unter der Bevölkerung verbreiten. Das eigentliche Heer wartet in den Bergen.«

Gorg schwieg eine Weile. Dann gab er sich einen energischen Ruck, wobei er sich den Kopf an der niedrigen Decke stieß, und verschwand im hinteren Teil der Höhle. Kim hörte ihn eine Zeitlang mit Kelhim reden, dann kamen sie gemeinsam zurück.

»Es stimmt also«, brummte der Bär. »Ich hatte gehofft, mich verhört zu haben.«

»Du hast richtig gehört«, sagte Kim. »Leider. Ich habe dieses Heer gesehen. Ich bin mit ihm zusammen über die Berge gekommen. Daher«, erklärte er mit einer Geste auf den Haufen schwarzen Blechs, der neben seinem Nachtlager am Boden lag, »meine Verkleidung.«

»Warum hast du das nicht gleich gesagt?« fuhr ihn Kelhim an. Sein einziges Auge funkelte zornig.

Kim wich unwillkürlich einen Schritt zurück. »Ihr habt mich nicht gefragt«, sagte er trotzig. »Außerdem hatte ich nicht den Eindruck, daß es euch wirklich interessiert.«

Kelhim wollte auffahren, aber Gorg legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. »Kim hat recht«, sagte er. »Es ist unsere eigene Schuld. Aber wir wollen jetzt nicht noch mehr Zeit damit vergeuden, einander Vorwürfe zu machen. Beeilen wir uns lieber.« Als wäre damit alles gesagt, bückte er sich und half Kim, seine Decke zusammenzurollen.

Kim wollte automatisch seine Rüstung anlegen, aber Gorg hielt ihn zurück. »Der Weg ist schwierig«, sagte er. »Du wirst nicht reiten können, und zu Fuß ist dieses schwere Ding eher hinderlich.«

Kim überlegte einen Moment. Vermutlich hatte Gorg recht. Aber aus irgendeinem Grund glaubte er, daß es besser war, wenn er den Harnisch und die Arm- und Beinschützer trug. Er legte den Panzer an, schlüpfte in die schwarzen Kettenhandschuhe und schnallte sich das Schwert um. »Fertig«, sagte er. »Wir können gehen.«

Kelhim betrachtete kopfschüttelnd seine Aufmachung und brummte etwas Unverständliches. Dann verschwand er im Inneren der Höhle. Kim folgte ihm, die Hand beruhigend und zugleich schutzsuchend auf den Hals seines Pferdes gelegt. Gorg bildete den Schluß.

Das schwache rote Licht der Glut blieb rasch zurück, und tiefe Dunkelheit umgab sie. Kim versuchte eine Zeitlang, mit geschlossenen Augen zu gehen, um sich ganz auf die Signale seine Gehör- und Tastsinnes zu konzentrieren - mit dem Ergebnis, daß er wie ein Blinder über den unebenen Boden stolperte und andauernd gegen Felszacken und Steine stieß. Es ging tatsächlich besser, wenn er die Augen offenhielt, obwohl es außer tintiger Schwärze absolut nichts zu sehen gab. Aber sein Körper konnte die gewohnten Reflexe eben nicht in ein paar Augenblicken vergessen.

Der Weg zog sich endlos in die Länge. Oft leitete ihn Gorg mit sicherer Hand über steil abfallende Hänge, die mit lockerem Geröll bedeckt waren, das immer wieder unter seinen und den Tritten des Pferdes nachgab und kleine Steinlawinen auslöste, die donnernd in die Tiefe sausten und die Dunkelheit mit hallenden, nicht abreißenden Echos erfüllten. Es gab steinerne Treppen, die in engen Spiralen tiefer in den Leib der Erde hineinführten, und endlose gerade Strecken, auf denen sich das Geräusch ihrer Schritte echolos verlor. Nach Kims Zeitgefühl mußten Stunden vergangen sein, als endlich, noch weit vor ihnen, ein Lichtpunkt, nicht größer als ein Stecknadelkopf, sichtbar wurde.

»Gleich haben wir's geschafft«, sagte Gorg. Es klang erleichtert. Kim fragte sich unwillkürlich, welche Geheimnisse und Gefahren die Höhle wohl bergen mochte, daß sogar der Riese erleichtert war, sie wieder zu verlassen.

Aber sie erreichten den Höhlenausgang ohne einen einzigen gefährlichen Zwischenfall. Vor ihnen lag ein schmales, sichelförmiges Felsplateau, kaum groß genug, ihnen gemeinsam Platz zu bieten, und an drei Seiten von senkrecht abfallenden Wänden begrenzt. Zur Rechten führte ein schmaler Steig an der Felswand entlang. Von diesem Plateau schweifte der Blick ungehindert über ein schier endloses grünes Land voller Wälder und Wiesen und verlor sich irgendwo im Westen in grünblauer Unendlichkeit.

Kelhim ließ Kim keine Zeit, die Aussicht zu genießen. Ungeduldig forderte er ihn auf, in den Sattel zu steigen.

Kim äugte mißtrauisch zu dem kaum anderthalb Meter breiten Pfad hinüber. Ein einziger Fehltritt, und er würde mitsamt seinem Pferd fünfzig oder mehr Meter in die Tiefe stürzen.

»Mach schon«, drängte Kelhim. »Der Weg wird gleich breiter. Du bist nicht der erste, der ihn geht.«

Kim schwang sich gehorsam in den Sattel und lenkte Junge mit sanftem Schenkeldruck auf den Weg. Das Pferd scheute, und er mußte einen zweiten Anlauf nehmen, ehe es vorsichtig einen Fuß auf das schmale Felsband setzte. Kim blickte unvorsichtigerweise in die Tiefe. Der Stein fiel neben ihm lotrecht ab, und unten gähnte ein tödlicher Abgrund voll messerscharfer Grate und gierig emporgestreckter Felsdornen. Wenn sein Pferd jetzt einen Fehltritt tat, brauchte er sich um seine und die Zukunft Märchenmonds keine Sorgen mehr zu machen.

Aber Junge tat keinen Fehltritt. Bedächtig und sicher trabte er über das schmale Felsband und erreichte nach wenigen Metern eine Biegung, hinter der der Felsen zur Rechten zurückwich und der Weg tatsächlich etwas breiter wurde. Kim atmete erleichtert auf und wandte sich im Sattel um. Der Riese und der Bär waren ihm dicht gefolgt. Ihm fiel auf, daß Kelhim immer wieder zum Höhleneingang zurückblickte, als erwarte er, dort jemand oder etwas Bestimmtes auftauchen zu sehen.

»Weiter«, drängte Gorg. Seine Stimme hatte noch immer einen besorgten Unterton. »Wir müssen vom Berg herunter.«

Kim zuckte die Achseln, gab dem Pferd sanft die Sporen und ritt in gemäßigtem Galopp vor den beiden Freunden her.

Erst als sie am Fuße der Felswand angelangt waren und im Schutz einer Gruppe mächtiger Ulmen standen, gestattete ihm Kelhim anzuhalten.

»Wartet hier«, sagte er. »Ich gehe voraus. Kundschaften.«

Kim blickte ihm kopfschüttelnd nach, bis er zwischen den Büschen verschwunden war.

»Was hat er?«

Statt einer Antwort drehte Gorg sich um und zog Kim ein paar Meter den Weg zurück, den sie gekommen waren.

»Sieh«, sagte er.

Kims Blick folgte seiner ausgestreckten Hand. Er erschrak. Von hier aus konnten sie fast den gesamten Berg überblicken, und der Höhlenausgang, aus dem sie herausgekommen waren, lag deutlich erkennbar vor ihnen.

Etwas hatte sich verändert. Kim konnte das Neue, Unbekannte nicht in Worten fassen, und doch spürte er das Unheimliche und Bedrohliche. Es war, als wäre ein Stück der Dunkelheit, durch die sie gewandert waren, hinter ihnen auf das Felsplateau hinausgekrochen.

Er schüttelte sich, wandte den Blick ab und beschloß, die Sache für sich zu behalten.

Kelhim blieb lange fort, und Kim nutzte die Zeit, sich aufmerksam in der neuen Umgebung umzusehen. Seit er das Schattengebirge verlassen hatte, umgab ihn die Schönheit dieses Landes, eine Schönheit und heitere Lieblichkeit, die, je weiter er nach Westen kam, sich noch mehr zu entfalten schien. Nichts war hier künstlich oder gewaltsam verändert. Alles war so, wie die Natur es geschaffen hatte; wild, ungezügelt und doch einer höheren Ordnung gehorchend. Die Luft war so klar, daß das Atmen eine Lust war, und das Sonnenlicht spiegelte sich im Tau, der auf den Blättern lag, in allen Farben des Regenbogens.

Kim wurde rauh aus seiner Betrachtung gerissen, als Kelhim mit Getöse aus dem Wald hervorbrach.

»Sie kämpfen!« schnaubte er aufgeregt.

Kim und Gorg starrten ihn an.

»Wer kämpft?« fragte der Riese.

»Und wo?« fragte Kim.

»Schwarze Reiter! Gegen die Unseren. Unten im Tal, gleich hinter dem Wald! Kommt! Schnell!«

Gorg stieß einen heiseren Kampfschrei aus, schwang seine Keule und rannte hinter dem Bären her geradewegs in den Wald hinein. Kim folgte ihnen, so schnell er konnte. In dem dichten Unterholz gewannen die beiden rasch Vorsprung. Aber nach wenigen Minuten erreichten sie einen schmalen Waldweg, auf dem Kim die überlegene Schnelligkeit seines Pferdes voll ausspielen konnte, und als sie den Waldrand erreichten, hatte er sich bereits an die Spitze gesetzt.

Vor ihnen tobte ein gnadenloser Kampf. Etwa fünfzig schwarze Reiter hatten eine nur halb so große Schar in fließendes Weiß und schimmerndes Gold gekleideter Männer in der Mitte der Lichtung zusammengetrieben und drangen erbarmungslos auf sie ein. Das Gras rötete sich vom Blut der Erschlagenen, und die Mehrzahl der Toten trug das fleckige Schwarz der Reiter Morgons. Trotzdem war deutlich zu erkennen, daß die Schwarzen im Vorteil waren. Die Kräfte der weißen Ritter erlahmten mehr und mehr, und in das Klirren der Waffen und das Stampfen der Pferde mischten sich immer wieder gellende Schmerzensschreie, wenn eine der schwarzen Klingen ihr Ziel fand.

Und inmitten dieses Getümmels, hoch aufgerichtet und einen knorrigen Stab schwingend, stand ein weißhaariger alter Mann.

»Themistokles!« rief Kim entsetzt. Seine Stimme ging im Getöse der Schlacht unter; dennoch hatte er den Eindruck, daß der alte Magier für einen Augenblick aufsah und zu ihm herüberschaute.

Kim duckte sich tief über den Hals seines Pferdes, preßte ihm die Sporen in die Flanken und galoppierte den Hang hinunter. Kelhim und der Riese folgten ihm. Ihr wildes Gebrüll übertönte den Kampflärm und lenkte die Aufmerksamkeit der Kämpfenden auf sich.

Erst zwei, dann vier und schließlich sechs der schwarzen Reiter brachen aus der Reihe der Angreifer aus, zwangen ihre Pferde herum und galoppierten mit gezückten Waffen heran. Für sie - wie für die anderen auch - mußte es aussehen, als würde hier einer der Ihren von einem brüllenden Riesen und einem rabiaten Bären verfolgt.

Sie erkannten ihren Irrtum zu spät. Kim gab dem Pferd abermals die Sporen, duckte sich noch tiefer über seinen Hals und verlangte ihm das Letzte ab. Er ritt auf zwei der heranjagenden schwarzen Reiter zu, und als er genau zwischen ihnen war, riß er sein Schwert in die Höhe und hieb mit einem wohlgezielten Streich die beiden Reiter rechts und links von sich aus dem Sattel.

Ein Aufschrei ging durch die Reihen der morgonischen Reiter. Kim schwenkte sein Pferd herum, schlug einen dritten Reiter nieder, fing einen Schwertstoß mit dem bloßen Unterarm ab und fällte auch seinen vierten Gegner. Die beiden letzten Reiter wurden fast im gleichen Augenblick von Kelhim und Gorg aus den Sätteln gerissen.

Kim schwang seine Waffe hoch über den Kopf und jagte in gestrecktem Galopp auf das Schlachtfeld zu. Der Kampf tobte unvermindert weiter, aber der Verlauf der Schlacht hatte sich geändert. Die Reihe der schwarzen Reiter wankte, wich zurück, formierte sich neu und zerbrach dann unter einem wütenden Ansturm der weißen Ritter, die durch das plötzliche Auftauchen dieser unerwarteten Hilfe neue Kraft und neuen Mut schöpften. Die Schwarzen wichen zurück. Ihre geordnete Phalanx zersplitterte in mehrere Teile und löste sich dann in heilloses Chaos auf. Einer nach dem anderen der schwarzen Reiter wandte sich zur Flucht.

Aber es gab kein Entkommen. Wurden sie von hinten von ihren goldgepanzerten Gegnern bedrängt, die sich in Sekundenschnelle von Gejagten in Jäger verwandelt hatten, so liefen sie auf der anderen Seite einem der neu aufgetauchten, schrecklichen Feinde in die Arme. Kelhim brüllte wild auf, stellte sich auf die Hinterbeine und breitete die Arme wie zu einer tödlichen Begrüßung aus. Seine Pranken zermalmten Stahl und ließen Panzer zerbrechen, während auf der anderen Seite Gorgs Keule erbarmungslos wütete.

Irgend etwas geschah in diesem Moment mit Kim. Die Waffe in seinen Händen schien zu eigenem Leben zu erwachen. Sein Schwert beschrieb einen tödlichen, blitzenden Halbkreis in der Luft, zerbrach Schilde und Speere, krachte auf Rüstungen und Panzer herunter. Ein Hieb traf seine Schulter und lähmte sie, aber er spürte den Schmerz kaum. Er wechselte das Schwert von der Rechten in die Linke und kämpfte mit unverminderter Kraft weiter. Ein schwarzer Reiter prallte mit seinem Streitroß gegen ihn, drängte ihn zur Seite und zielte mit einem Speer auf seinen Kopf. Kim duckte sich, schlug den Speer mit der bloßen Faust beiseite und führte einen blitzschnellen Hieb gegen den Schild des Angreifers. Sein Schwert grub eine tiefe Kerbe in das Holz, und der Schlag war so hart, daß er ihn und seinen Gegner zugleich aus dem Sattel warf. Kim fiel auf den Rücken, sprang blitzschnell hoch und parierte einen aufwärts geführten Schwertstreich seines Gegners. Ihre Klingen trafen funkensprühend aufeinander, glitten ab und kreuzten sich wieder. Kim taumelte zurück, blieb einen Herzschlag lang reglos stehen und rang keuchend nach Atem. Sein Gegner schien genauso erschöpft zu sein wie er. Kim sah, wie sich die Brust unter dem schwarzen Panzer in hektischen Stößen hob und senkte und das Schwert zitterte, als hätte der Arm kaum noch genügend Kraft, es zu halten.

Plötzlich bemerkte Kim, wie still es geworden war. Der Kampf war zu Ende, und sein Gegner war der letzte der schwarzen Reiter, der noch übriggeblieben war. Keinem der anderen war die Flucht geglückt.

»Gib auf«, rief Kim. »Du hast keine Chance.«

Der andere schien einen Moment zu überlegen. Dann stieß er ein dumpfes, qualvolles Knurren aus, warf seinen Schild fort und drang mit hocherhobenem Schwert auf Kim ein.

Ein goldener Speer zischte durch die Luft und durchbohrte den Feind.

Kim ließ das Schwert sinken. Seine Finger hatten plötzlich nicht mehr die Kraft, den Griff festzuhalten. Seine Hand öffnete sich. Die Waffe polterte ins Gras, und Kim sank kraftlos in die Knie. Sekundenlang hockte er mit geschlossenen Augen da und wartete, daß der Schwächeanfall vorüberging. Dann hob er den Kopf und blickte in die Runde.

Ein dichter Ring weißer Ritter umgab ihn. Es waren große, schlanke Männer, in bodenlange weiße Umhänge gekleidet, unter denen goldene Brustpanzer schimmerten. Auf den Köpfen trugen sie flache Helme, die im Nacken bis auf die Schultern herabreichten und vorne in einen schmalen, auswärts gekrümmten Nasenschutz ausliefen. Keiner der Männer sprach. Sie standen nur stumm da, starrten ihn an und umklammerten unsicher ihre Waffen.

Dann teilte sich die Reihe, und eine weißgekleidete, bärtige Gestalt trat auf Kim zu.

Kim lächelte, als er Themistokles erkannte. Er stand schwankend auf, bückte sich nach seinem Schwert und schob es in die Scheide zurück. Seine Hand zitterte.

»Ich weiß nicht, wer du bist«, sagte Themistokles, nachdem er Kim eine Weile wortlos angestarrt hatte, »aber wir danken dir für deine Hilfe.« Er schwieg wieder und schien auf Antwort zu warten, aber Kim erwiderte nur stumm seinen Blick und rührte sich nicht. Er genoß den Moment und wollte ihn so lange wie möglich hinauszögern.

»Ohne dein Eingreifen«, fuhr Themistokles schließlich fort, »wäre es schlecht um uns bestellt gewesen.« Seine Augen verdunkelten sich, und in seiner Stimme schien eine Spur von Mißtrauen mitzuschwingen, als er weitersprach. »Doch sag, wie kommt es, daß sich ein Diener Morgons gegen seine eigenen Kameraden wendet?«

»Vielleicht«, sagte Kim, »weil ich kein Diener Morgons bin.«

Er hob in einer auf Wirkung bedachten Geste die Hände an den Kopf, klappte zuerst das Visier auf und setzte dann den schwarzen Helm ab.

Themistokles verschlug es die Rede. Seine Augen weiteten sich, und der Ausdruck auf seinem Gesicht entschädigte Kim für alles.

Endlich fand Themistokles seine Sprache wieder.

»Kim!« sagte er. »Du...?«

Kim lächelte. »Hast du jemand anders erwartet?« fragte er. »Du sagtest doch, ich sollte kommen. Nun, ich bin da.«

Themistokles schüttelte staunend den Kopf. »Ich muß gestehen, daß ich dich am allerwenigsten erwartet habe. Nicht so und nicht hier!« Plötzlich lächelte er, drehte sich zu den abwartend dastehenden Kriegern um und hob in einer beruhigenden Geste die Hände.

»Es ist alles in Ordnung. Er ist einer der Unseren.«

Die Mienen entspannten sich, und da und dort brach sich ein Seufzer der Erleichterung Bahn. Themistokles wartete einen Moment, deutete dann mit weitausholender Gebärde zum Waldrand und sagte: »Ich werde euch alles erklären. Aber nun laßt mich für eine kurze Weile mit unserem Retter allein. Es gibt viel zu bereden zwischen uns.«

Die Ritter gehorchten, und Themistokles blieb mit Kim allein zurück. »Du«, sagte er noch einmal, als könne er es noch immer nicht glauben. »Nach all der Zeit...« Wieder schüttelte er den Kopf. »Ich hatte die Hoffnung auf dein Kommen bereits aufgegeben. Um so größer ist meine Freude, dich gesund und unverletzt wiederzusehen.«

»Na ja, gesund...« Kim betastete vorsichtig seine rechte Schulter. Der Panzer hatte dem Hieb standgehalten, aber die Schulter war noch immer taub, der Arm wie gelähmt. Plötzlich fiel ihm etwas ein. »Wieso nach all der Zeit?« sagte er. »Ich war doch nur ein paar Wochen weg.«

Themistokles runzelte die Stirn. »Ein paar Wochen?«

Kim überschlug in Gedanken die Zeit, die er in Boraas' Kerker verbracht hatte, die Zeit seiner Wanderung über die Berge und seines Aufenthaltes bei Tak. »Nicht viel mehr als zwei Wochen«, sagte er dann. »Vielleicht ein bißchen länger, aber nicht viel.«

»Zwei Wochen!« entfuhr es Themistokles. Dann fügte er in ruhigem, gefaßtem Ton hinzu: »Die Zeit, Kim, ist ein seltsames Ding. Sie gehorcht nicht überall den gleichen Gesetzen. Im Reich der Schatten mögen zwei Wochen vergangen sein, seit du dort angekommen bist. Aber hier bei uns sind mehr als drei Jahre verstrichen.«

»Drei Jahre!« rief Kim. »Aber das ist unmöglich!«

Themistokles schüttelte sanft den Kopf. »Nichts ist unmöglich«, sagte er.

»Aber drei Jahre... Jetzt begreife ich dein Erstaunen.«

»Um ehrlich zu sein, ich hatte wirklich die Hoffnung aufgegeben, dich jemals wiederzusehen«, sagte Themistokles. »Zu Anfang habe ich gewartet. Jeden Tag habe ich den Himmel abgesucht, und über Wochen und Monate habe ich meine Reiter ausgeschickt, nach dir zu suchen. Aber mit jedem Tag, der verging, wurde die Hoffnung, daß du doch noch kommen würdest, geringer.«

»Hoffentlich hast du nicht geglaubt, daß ich es mit der Angst zu tun bekommen und gekniffen habe«, sagte Kim.

»Ich habe es gehofft«, sagte Themistokles ernst. »Ich habe gehofft, daß du gekniffen hast und daheim geblieben bist. Denn es gab sonst nur eine Antwort auf die Frage nach deinem Verbleib. Boraas.«

Kim nickte grimmig. »Du hast richtig geschlossen. Ich hatte bereits das Vergnügen, ihn kennenzulernen.«

»Ich wußte es in dem Moment, als ich deine schwarze Rüstung sah«, sagte Themistokles. Dann besann er sich. »Verzeih, Kim«, bat er. »Ich bestürme dich mit Fragen, anstatt dir Zeit zum Ausruhen zu gönnen. Komm in den Schatten und erhole dich erst einmal. Und dann erzählst du mir alles.«

Kim folgte ihm über die Wiese zum Waldrand. Das Hochgefühl, das ihn ob des gewonnenen Kampfes erfüllte, wich tiefer Niedergeschlagenheit, als er sah, wie hoch der Blutzoll war, den Themistokles' Männer hatten entrichten müssen. An die dreißig Pferde standen am Waldrand angeschirrt, aber nur zehn der weißen Reiter waren noch am Leben und etliche von ihnen schwer verwundet.

Sie hatten gewonnen, aber Kim wurde des Sieges nicht froh. Er lehnte sich gegen einen Baumstamm, schloß die Augen und überließ sich seinem Schmerz. Rings um ihn herum begannen die Überlebenden, die Körper der Erschlagenen in weiße Tücher zu hüllen und entlang dem Waldrand aufzureihen. Lange saß Kim da und folgte stumm, mit blinden Augen ihrem Tun, ehe er leise und stockend zu erzählen begann.

Er ließ nichts aus und erzählte jede Kleinigkeit, verschwieg auch nicht seine Ängste und die Furcht, die er während seines Versteckspiels inmitten des schwarzen Heeres ausgestanden hatte. Themistokles erwies sich als geduldiger und aufmerksamer Zuhörer. Kim erzählte fast eine Stunde lang, und Themistokles unterbrach ihn kein einziges Mal. Als Kim geendet hatte, verharrten beide eine Weile schweigend. »Dein Bericht«, sagte Themistokles schließlich, »übertrifft meine schlimmsten Befürchtungen.«

»Ich weiß«, antwortete Kim. »Niemand weiß es besser als ich. Ich habe das schwarze Heer gesehen, vergiß das nicht.«

»Es ist meine Schuld«, murmelte Themistokles.

»Deine Schuld?«

»Ja, Kim. Ich habe einen unverzeihlichen Fehler begangen. Ich habe Boraas unterschätzt. Dabei gibt es niemand, der besser als ich weiß, wie böse er ist.«

Plötzlich stand er auf und begann ruhelos im Kreis herumzuwandern. Sein Stab stieß im Rhythmus seiner Schritte gegen den Boden. »Er hat alles so geplant«, sagte er. »Alles ist von Anfang an so gelaufen, wie er es gewollt hat!«

Kim schüttelte den Kopf. »Das stimmt nicht, Themistokles. Dich trifft keine Schuld.«

»Doch!« widersprach der Zauberer. »Ich habe mich zu sicher gefühlt. Wir alle haben geglaubt, daß er hinter dem Schattengebirge gefangen, in seinem Reich der Finsternis auf ewig eingekerkert ist. Aber das war ein Irrtum. Er hat einen Weg gefunden.« Er hörte auf, im Kreis herumzulaufen, stützte sich auf seinen Stock und sah Kim durchdringend an. »Dieser finstere Begleiter, den du zusammen mit Boraas im Heerlager gesehen hast«, sagte er, »wie sah er aus?«

Kim hob hilflos die Schultern. »Wie alle anderen auch«, antwortete er nach einer Weile. »Es war nicht sein Aussehen, das ihn von den übrigen unterschied. Es war...« Er suchte nach dem passenden Wort und spürte einen kalten Schauer über seinen Rücken laufen, als das Bild des kleinen, schwarzgepanzerten Ritters wieder vor seinen Augen auftauchte. »Es war nichts Sichtbares«, sagte er unsicher. »Eher etwas, was man...«

»Mit der Seele spüren konnte«, vollendete Themistokles den Satz. »Eine unsichtbare Kälte, die ihn wie eine dunkle Aura umgab. Etwas Abstoßendes, Böses, Gewalttätiges.«

Kim nickte verblüfft. »Das stimmt«, bestätigte er. »Du kennst ihn?«

Themistokles verneinte. »Der Schwarze Lord«, murmelte er, und seine Stimme bebte vor Grauen. »Es gibt eine Sage, eine uralte, fast vergessene Sage, die berichtet, daß eines Tages ein mächtiger Krieger im Reich der Schatten auftauchen wird. Ein Krieger, der so furchtbar und grausam ist, daß er das Heer der Finsternis durch das Schattengebirge führen kann. Der Schwarze Lord.«

Themistokles senkte die Stimme zum Flüstern, als er fortfuhr. »Die Sage geht noch weiter, Kim. Sie berichtet, daß das Ende von Märchenmond gekommen ist, wenn der Schwarze Lord erscheint.«

»Unmöglich!« stieß Kim hervor. »Du mußt dich irren, Themistokles. Es ist nur eine Sage. Ein Märchen, mehr nicht. Wir werden das schwarze Heer besiegen, so, wie wir diesen Trupp besiegt haben!« Er sprang auf die Füße.

Themistokles schüttelte den Kopf. »In jeder Sage steckt ein Stück Wahrheit, Kim«, sagte er leise. »Du magst es noch nicht begreifen, aber manchmal sind es gerade die unwirklichen Dinge, die Wirklichkeit werden.«

Kim seufzte. »Noch ist nicht gesagt, daß es sich bei dem Mann, den ich gesehen habe, tatsächlich um den Schwarzen Lord handelt - wenn es ihn überhaupt gibt. Wir haben noch Zeit. Boraas' Heer hat sich noch nicht formiert, und wir können die Verteidigung des Landes organisieren.«

Themistokles starrte zu Boden und schien dann wie aus tiefem Schlaf zu erwachen.

»Vielleicht hast du recht«, sagte er, aber seinen Worten fehlte die Überzeugung. »Wir werden jedenfalls tun, was in unseren Kräften steht.«

Kim lächelte. Themistokles' düstere Prophezeiung nagte in ihm, doch er gab sich Mühe, sich nichts anmerken zu lassen. »Wie kam es überhaupt zu diesem Kampf?« fragte er, um Themistokles auf andere Gedanken zu bringen. »Ihr seid in einen Hinterhalt geraten?«

»Nein, das glaube ich nicht. Um uns einen Hinterhalt zu legen, dazu hätte Boraas mit Sicherheit mehr Krieger aufgeboten. Vermutlich waren die schwarzen Reiter genauso überrascht über das Zusammentreffen wie wir. Es handelte sich wohl um einen dieser kleinen Trupps, die die Gegend entlang dem Gebirge durchstreifen und unter der Bevölkerung Angst und Schrecken verbreiten. - Wir haben Patrouillen ausgeschickt, um die Bevölkerung zu warnen«, erklärte Themistokles. »Aber oft kommen wir zu spät, wie du selbst gesehen hast«, fügte er unglücklich hinzu. »Jedenfalls sind die schwarzen Reiter bisher dem offenen Kampf ausgewichen. Doch vielleicht haben sie ihre Taktik geändert. Vielleicht steht der Angriff schon unmittelbar bevor.«

»Wie seid ihr überhaupt hierhergekommen?« fragte Kim.

»Ich befinde mich auf einer Reise durch Märchenmond«, antwortete Themistokles. »Der längsten und zugleich schlimmsten Reise meines Lebens.«

»Wie meinst du das?«

»Märchenmond ist das Land des Friedens«, sagte Themistokles. »Aber meine Begleiter und ich ziehen von Ort zu Ort, um die Bewohner zum Krieg zusammenzurufen. Wir ahnten schon, daß uns von Boraas Gefahr droht, wenn wir uns auch nicht vorstellen konnten, wie groß diese Gefahr tatsächlich ist. Wir versuchen, Verbündete zu finden.«

»Verbündete?« fragte Kim ungläubig. »Aber... habt ihr denn kein Heer?«

»Nein, Kim, wir haben kein Heer. Märchenmond hatte für Soldaten bisher keine Verwendung. Wir kennen hier keine Feindschaft, denn wir leben in Harmonie mit der Natur und ihren Gesetzen.«

»Aber ihr müßt euch doch verteidigen können!« rief Kim. Die Vorstellung, daß ein so mächtiges Reich wie Märchenmond für den Fall eines bewaffneten Überfalls in keiner Weise gerüstet war, erschien ihm geradezu absurd.

»Und doch ist es so«, sagte Themistokles. »Die Reitergarde, die mich begleitet, versteht es zwar, das Schwert zu führen, wie du gesehen hast, aber auch ihr Beruf ist nicht das Töten. Und die meisten von ihnen liegen hier tot«, fügte Themistokles bitter hinzu. »Wir haben keine Armee, weil wir nie eine brauchten. Doch die Situation hat sich jetzt gründlich geändert. Wir können nicht auf ein Wunder warten, um Märchenmond zu retten. Deshalb sind wir aufgebrochen.«

»Und habt ihr... Verbündete gefunden?« fragte Kim.

Themistokles nickte. »Ja, wenn auch nicht genug, wie ich jetzt befürchten muß. Unsere Reise ist fast beendet. Morgen werden wir unser letztes Ziel, das Land der Steppenreiter, erreichen. Dann kehren wir nach Gorywynn zurück.«

Einer der weißen Reiter kam herbei und sagte mit einer ehrfürchtigen Verneigung vor Themistokles und einem raschen Blick auf Kim: »Wir sind bereit, Herr.«

Themistokles nickte. »Gut. Wir brechen auf.«

Kim deutete auf die lange Reihe weißverhüllter Gestalten, die im Schatten der Bäume lagen. »Ihr laßt sie einfach zurück?« fragte er.

»Wir begraben unsere Toten nicht«, antwortete Themistokles. »Wir verehren den Geist, nicht das Fleisch, das ihm als Wohnung dient. In wenigen Tagen zerfällt der Körper zu Staub und kehrt zurück in den Kreislauf von Werden und Vergehen. Wir ehren unsere Toten durch die Achtung des Lebens«, schloß er. »Jetzt komm. Wir müssen weiter!«

Kim stieß einen schrillen Pfiff aus, und sein Pferd kam gehorsam angetrabt. Themistokles maß den Rappen mit einem bewundernden Blick. »Ein prachtvolles Tier«, sagte er. »Du hast es erbeutet?«

»Eigentlich hat es mich erbeutet«, sagte Kim. »Ich glaube nicht, daß es seinen früheren Herrn sehr vermißt.«

Themistokles lächelte, wurde aber sogleich wieder ernst. »Deine Rüstung«, sagte er. »Du solltest sie ablegen. Du brauchst sie nicht mehr.«

Kim blickte an sich herunter. Der schwarze Panzer hatte seinen schimmernden Glanz längst verloren und war fleckig und stumpf, voller Beulen und Schrammen. »Ich möchte ihn behalten«, sagte er. »Er hat mir Glück gebracht, weißt du.« Themistokles hob die Schultern. »Wie du willst«, sagte er. »Doch warte.« Er ging zu einem Pferd, öffnete die Packtasche und entnahm ihr ein eng zusammengerolltes Bündel, das er Kim in die Hand drückte. Kim faltete es auseinander. Es war ein dünner, durchscheinender Umhang aus feinem weißem Gewebe, mit hauchfeinen Gold- und Silberfäden durchwirkt. Er schien vollkommen gewichtslos zu sein, und doch hing er in schweren, geraden Falten herunter, als wäre er aus Samt oder Brokat. Kim ließ den Umhang bewundernd durch die Hände gleiten, daß er im hellen Sonnenlicht schimmerte wie verwobenes Glas. Behutsam legte Kim ihn sich um die Schultern und spürte, wie sich das Kleidungsstück wie ein lebendes Wesen um seine Schultern schmiegte.

»Danke«, sagte er, während seine Finger über den samtweichen Stoff glitten. »Das ist... wunderschön.«

Themistokles lächelte.

»Er gehört dir«, sagte er. »Dieser Umhang hat auf dich gewartet.«

Kims Blick hing wie verzaubert an dem hauchzarten Gespinst aus eingefangenen Sonnenstrahlen.

»Gib gut auf ihn acht«, mahnte Themistokles. »Er ist uralt. Älter als ich, älter als Märchenmond vielleicht. Viele haben sich gewünscht, ihn zu tragen, aber noch keinem war es vergönnt. Du bist der erste, der Laurins Mantel trägt.«

»Laurins Mantel?«

Themistokles zögerte. »Auch bei euch«, sagte er dann, »gibt es eine Sage von Laurin, dem Zwergenkönig.«

Kim nickte. »Ich kenne sie. Willst du behaupten, daß es kein Märchen ist?«

»Ja und nein. Die Menschen haben es schon immer verstanden, eine Geschichte so lange und so oft und immer wieder neu zu erzählen, sie umzudichten, zu verändern und zu verdrehen, bis von ihrem ursprünglichen Sinn nicht mehr viel zu erkennen war. Aber wer an das Wunderbare glaubt, wer wie du bereit ist, alles zu riskieren, um alles zu gewinnen, der wird Dinge erfahren, die sich andere Menschen niemals träumen ließen.«

»Wie meinst du das?«

»Es gibt...« Themistokles besann sich. »Verzeih«, bat er. »Ich schweife ab. Die Zeit ist noch nicht reif, um dir zu sagen, was hinter allem steht. - Nein«, sagte er und hob abwehrend die Hände. »Dringe nicht in mich, ich bitte dich. Später, zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort, werde ich dir alles erklären. Vorerst nimm mein Wort, daß dies wirklich Laurins Mantel ist. Er verleiht seinem Träger große Macht. Aber die Schultern, um die er sich legt, tragen auch eine große Verantwortung.«

»Macht?« fragte Kim. »Was für Macht?«

»Der Sage nach«, antwortete Themistokles, und Kim spürte, daß es ihn Mühe kostete, es auszusprechen, »kann er seinen Besitzer unsichtbar machen. Wer ihn trägt, vermag durch Wände und feste Hindernisse zu schreiten, ohne von eines Menschen Auge gesehen oder von einer Waffe verwundet zu werden.«

»Unsichtbar!« rief Kim. Unwillkürlich zog er die Finger von dem zarten Gewebe zurück, als befürchtete er, den kostbaren Umhang zu beschädigen oder zu beschmutzen. »Aber das wäre ja... wenn das stimmt, dann sind wir gerettet! Mit diesem Mantel könnte man mitten ins Herz von Boraas' Armee vordringen, ohne gesehen zu werden. Wir könnten ihn aus seinem Zelt holen, wir...«

Themistokles unterbrach ihn mit einer mahnenden Geste. »Du hast mich nicht ausreden lassen, Kim«, sagte er. »Der Umhang verleiht dir Unsichtbarkeit, aber er tut es nur ein einziges Mal. Wenn du dich einmal seiner Gabe bedienst, ist seine Kraft erschöpft, und er wird zu dem, was er war, bevor Laurins Zauber auf ihn fiel: zu einem ganz gewöhnlichen Stück Stoff. Dieser Umhang ist unsere letzte Waffe, das letzte Mittel, wenn alles andere versagt hat. Benutze ihn nicht leichtfertig, Kim.«

Kim brauchte eine Weile, um zu begreifen, was für einen Schatz ihm Themistokles da anvertraut hatte. Vielleicht lag nun das Schicksal dieser ganzen Welt in seinen Händen.

»Ich... verspreche es«, stammelte er.

Themistokles nickte. Ohne ein weiteres Wort wandte er sich zu seinem Pferd. Aber Kim hatte noch eine Frage an ihn, die schon die ganze Zeit auf seinen Lippen brannte.

»Auf ein Wort noch, Themistokles.«

Themistokles drehte sich um. Auf seinen Stab gestützt, sah er an Kim vorbei auf die Lichtung hinaus. Ein seltsamer Ausdruck lag in seinen Augen. »Ja?«

Kim schluckte. Plötzlich saß ihm ein würgender Kloß in der Kehle. Die Frage, die ihn nicht ruhen ließ, seit er aus Morgon geflohen war, wollte auf einmal nicht heraus. Aber er war schon zu weit gegangen, um jetzt noch zurückzukönnen. Ein zweites Mal würde er den Mut dazu nicht aufbringen. »Boraas erzählte mir etwas«, begann er ungeschickt. »Etwas, was ich nicht glauben kann, aber...«

»Er hat dir gesagt, daß wir Brüder sind«, sagte Themistokles ruhig.

Kim nickte.

»Es ist die Wahrheit«, sagte der alte Magier. »Und auch wieder nicht. Es mag für dich schwer zu verstehen sein, aber wir sind uns so gleich, wie sich zwei Brüder nur sein können, und doch sind wir so verschieden voneinander wie nur irgend zwei Menschen auf der Welt. Ja, wir sind Brüder. Mehr noch, wir waren eins - eine Seele, so hätte man meinen können, die zufällig in zwei verschiedenen Körpern wohnte. Was der eine dachte, tat der andere, und umgekehrt. Aber diese Zeit liegt weit zurück. Sehr weit, Kim. Es geschah etwas, was uns trennte.«

»Was?« fragte Kim.

Themistokles lächelte. »Du würdest es nicht verstehen, selbst wenn ich es dir erklären könnte. Unsere Wege trennten sich, und je weiter wir uns voneinander entfernten, desto verschiedener wurden auch die Pfade, die wir einschlugen, um unser Schicksal zu meistern. Es ist eine lange, traurige Geschichte, Kim. Boraas war nicht immer so, wie er ist, und vielleicht trage auch ich ein wenig Schuld daran, daß er so wurde. Vielleicht wir alle.«

»Du?« fragte Kim ungläubig. Er hätte gelacht, wäre Themistokles nicht so unerschütterlich ernst geblieben. »Du gibst dir die Schuld daran, daß Boraas sich zum Bösen gewandelt hat? Das glaubst du doch selbst nicht.«

»Und doch ist es so. Boraas ging den falschen Weg, das stimmt. Aber jeder von uns kommt irgendwann einmal in Versuchung, dasselbe zu tun. Kein Mensch kann von sich behaupten, er kenne nicht die Verlockung, die diese finstere Seite des Lebens ausstrahlt. Und es gibt Menschen - und es sind nicht wenige, Kim -, die allein nicht die Kraft haben, dieser Verlockung zu widerstehen. Boraas war wie ich, aber er hatte nicht meine Stärke. Ich hatte sie, und ich wußte auch, daß er sie nicht hatte. Es wäre meine Pflicht gewesen, ihn zurückzuhalten. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn ich im richtigen Moment an seiner Seite gestanden hätte.«

Kim schüttelte trotzig den Kopf. »Mit diesem Argument kannst du dir gleich die Schuld geben an jedem Verbrechen, das irgendwo auf der Welt geschieht«, sagte er.

Themistokles schwieg einen Moment. »Vielleicht hast du recht«, murmelte er, mehr zu sich selbst als zu Kim. »Aber vielleicht war es auch ein Fehler, es dir erklären zu wollen. Und nun komm, Kim. Für einen Tag ist genug Blut geflossen. Laß uns gehen. Unser Weg ist noch weit.« Er wandte sich um und ging mit raschen Schritten davon. Kim folgte ihm.

Themistokles schritt zügig voran, warf noch einmal einen Blick über das Schlachtfeld und hob sich dann mit einem Schwung in den Sattel, dessen Kraft und Eleganz sein scheinbares Alter Lügen strafte. Und erst jetzt, aus der Nähe, sah Kim, daß Themistokles' Männer ebenso wie dieser selbst nicht auf Pferden, sondern auf großen weißen Einhörnern ritten. Die Tiere wirkten genauso stolz wie ihre Reiter, und wenn das Fell der meisten auch blutig und zerschrammt war, so boten sie doch einen prachtvollen Anblick. Themistokles winkte. Kim sprang behende in den Sattel und schloß sich an. Die Einhörner wichen zurück, als sie das große, schwarze Roß zwischen sich auftauchen sahen, und einige scheuten, so daß sie von ihren Reitern beruhigt werden mußten. Kim glaubte die Furcht und Abneigung der Tiere deutlich zu spüren. Mit ihren langen, gewundenen Hörnern, die spitz wie Dolche waren und an langgezogene Schneckenhäuser erinnerten, wäre es ihnen ein leichtes gewesen, Kim und sein Pferd in Sekundenschnelle zu töten.

Themistokles rief mit lauter Stimme einen Befehl, und die Gruppe setzte sich in Bewegung, wobei die herrenlosen Tiere unaufgefordert hinter den Reitern aufschlossen. Kelhim und Gorg folgten zögernd in einigem Abstand, bis Themistokles sich im Sattel umdrehte und Gorg zu sich rief. Der Riese war mit ein paar langen Schritten bei ihm, dicht gefolgt von Kelhim, der wie ein brauner, struppiger Schatten hinter ihm nachzottelte.

Themistokles mußte den Kopf in den Nacken legen, um Gorg ins Gesicht sehen zu können.

»Ich möchte, daß ihr uns begleitet«, sagte er zu ihm. »Euer Wort gilt viel bei den Steppenreitern. Sie sind ein stolzes und eigenwilliges Volk. Aber wenn ihr mich begleitet, werden sie mir Gehör schenken.«

Gorg schwieg dazu, und Kelhim brummte etwas Unverständliches.

»Ich weiß, daß ihr lieber hierbleiben und Jagd auf die schwarzen Reiter machen würdet«, fuhr Themistokles fort. »Aber glaubt mir - dort, wo wir hingehen, seid ihr nützlicher. Eure Arbeit hier ist getan. Die Leute in den Bergen sind geflohen, und...«

»Nicht alle«, unterbrach Gorg. Seine Stimme klang mit einem Mal ganz anders, kein bißchen unterwürfig oder furchtsam. »Nicht alle konnten rechtzeitig gewarnt werden. Der Berghof... wir... wir kamen zu spät...«

Themistokles nickte traurig. »Ich weiß, Gorg. Kim erzählte mir davon. Aber ich weiß auch, daß euch keine Schuld trifft.«

»Wir haben die Mörder verfolgt«, brummte Kelhim. »Und wir hätten sie gestellt, wenn wir nicht auf den da getroffen wären. Aber wir dachten, es wäre wichtiger, auf ihn aufzupassen.«

»Es war richtig«, bestätigte Themistokles. »Rache nutzt niemandem etwas, Kelhim. Am wenigsten den Erschlagenen.« Kim hatte den Wortwechsel mit wachsendem Erstaunen verfolgt. Er wartete, bis Gorg und Kelhim an ihren Platz am Ende des Zuges zurückgekehrt waren. Dann lenkte er sein Pferd neben das Einhorn des Zauberers und blickte Themistokles fragend an.

»Aufpassen?« platzte er heraus. »Die beiden sollten auf mich aufpassen?«

Ein amüsiertes Lächeln stahl sich in Themistokles' Augen. »Kelhim ist oft nicht sehr zimperlich bei der Wahl seiner Worte.«

»Aber ich verstehe nicht... ich dachte, wir wären uns zufällig begegnet.«

»Keine Spur«, entgegnete Themistokles.

Kim schüttelte verwirrt den Kopf. »Aber dann«, sagte er unsicher, »dann haben mir die beiden die ganze Zeit über nur Theater vorgespielt.« Er grinste. »Eigentlich hätte ich längst darauf kommen müssen. So, wie Gorg auf die schwarzen Reiter losgegangen ist, war von Feigheit nichts mehr zu spüren.«

Jetzt war die Reihe an Themistokles, überrascht zu sein. »Feigheit?« sagte er verwundert. »Gorg und feige? Ich kenne den Riesen gut. Er und Kelhim sind nicht nur die besten Freunde, die man sich wünschen kann. Sie sind auch die tapfersten Burschen, die mir jemals begegnet sind. Das einzige, was man ihnen vielleicht vorwerfen kann«, fügte er nach einer kleinen Pause hinzu, »ist, daß sie manchmal einen sehr skurrilen Humor entwickeln.«

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