XVIII

Stunde um Stunde wanderte Kim über den Regenbogen. Die Weltenmauer fiel hinter ihm zurück, und mit ihr verschwand auch die letzte Verbindung zur Wirklichkeit. Kim konnte nicht feststellen, wie weit er ging oder ob er sich überhaupt bewegte. Seine Füße schienen die Brücke nicht zu berühren, und als er sich herabbeugte und mit den Fingern über den regenbogenfarbenen Grund tastete, fühlte er nichts. Vielleicht kam er gar nicht voran; vielleicht glitt er schneller als ein Gedanke durch die große Leere zwischen den Welten - er wußte es nicht.

Irgendwann, vielleicht nach Stunden, vielleicht nach Minuten oder Jahren - sein Zeitgefühl war ausgelöscht, seit er diese phantastische Brücke betreten hatte - tauchte der Rand eines Kliffs, gleich dem, von dem er aufgebrochen war, vor ihm auf, nur daß es hier keine Weltenmauer gab, sondern nichts als eine endlose Ebene von einer Farbe, die er nie zuvor in seinem Leben gesehen hatte. Er wollte stehenbleiben und die seltsame Erscheinung in Ruhe betrachten, aber seine Beine bewegten sich ohne sein Zutun weiter, und schon nach wenigen Augenblicken verließ er die Brücke und schritt auf den festen Grund hinaus.

Er wandte den Kopf und sah, wie der Regenbogen hinter ihm langsam verblaßte. Seine Farben verloren an Leuchtkraft, wurden transparent und verschwanden.

»Willkommen, Mensch!« sagte eine mächtige Stimme.

Kim prallte erschrocken zurück. Vor ihm hockte ein riesiger schwarzer Vogel. Er ähnelte einem Adler, nur war er viel, viel größer, mit stumpfschwarzem Gefieder und einem armlangen, gefährlich aussehenden Schnabel.

»Wer bist du?« fragte Kim unsicher.

»Mein Name ist Rok«, antwortete der schwarze Vogel. »Ich bin der letzte Wächter, Hüter des Regenbogens und Herr der Unendlichkeit. Und wer bist du?«

»Ich heiße Kim«, antwortete Kim mit fester Stimme, obwohl ihm der Anblick des Vogels solchen Schreck einjagte, daß ihm die Knie zitterten. »Und ich bin auf der Suche nach dem Regenbogenkönig.«

Der Vogel starrte Kim einen Moment durchdringend an und begann dann krächzend zu lachen. »Du?« sagte er, nachdem er wieder zu Atem gekommen war. »Du willst zum König der Regenbogen? Ausgerechnet du?« Unvermittelt wurde er wieder ernst. »Warum?«

»Ich komme, um ihn um Hilfe zu bitten.«

»Hilfe? Wofür? Deine Probleme interessieren hier niemanden.«

»Ich will nichts für mich«, sagte Kim hastig, »ich will um Hilfe für Märchenmond bitten. Seine Völker sind in großer Gefahr.«

»Märchenmond...« Rok legte nachdenklich den Kopf schief. »Ja, ich glaube, ich habe diesen Namen schon einmal gehört. Und warum glaubst du, daß es hier jemanden geben könnte, der sich um eure Probleme schert?«

»Ich... das Orakel...« stotterte Kim. »Ich meine, es gab eine Prophezeiung...«

»Ach was«, unterbrach ihn Rok grob. »Prophezeiung! Quatsch mit Soße. Ihr Menschen habt schon alles mögliche prophezeit, Gutes und Schlechtes oder was ihr dafür haltet. Humbug. Ihr prophezeit euch immer das zusammen, was euch gerade in den Kram paßt. Du mußt dir schon einen besseren Grund ausdenken, wenn ich dich vorbeilassen soll.« Kim verzweifelte fast. So dicht vor dem Ziel, und nun sollte womöglich alles umsonst gewesen sein, nur wegen dieses dummen Vogels.

»Meine Gründe gehen dich gar nichts an«, sagte er wütend. »Ich habe größere Gefahren überwunden, um hierherzugelangen. Ich werde mich nicht von dir aufhalten lassen!« Seine Hand glitt wie von selbst an den Gürtel, und auf wundersame Weise steckte sein Schwert wieder in der Scheide, als hätte er es niemals fortgeworfen. All seine edlen Vorsätze waren vergessen. Mit einer entschlossenen Bewegung zog er die Waffe hervor, trat drohend auf Rok zu und sagte: »Verschwinde. Gib den Weg frei!«

Rok lachte amüsiert. »Mach dich nicht lächerlich, Menschlein.«

Kim sah rot. Er schwang seine Waffe und ließ sie mit aller Wucht auf das schwarze Gefieder heruntersausen. Aber die Klinge prallte ab, als wäre sie auf Stein geschlagen.

»Ohooo!« machte Rok. »Frech wird er auch noch!« Er hob einen Fuß, schubste Kim mit spielerischen Bewegungen zurück und klapperte drohend mit dem Schnabel. »Du bist nicht der erste, der versucht, mir mit Gewalt beizukommen!«

Kim schrie zornig auf und hackte nach Roks Schnabel. Der Vogel nahm den Streich ungerührt hin, schlug mit den Flügeln und sprang dann mit einem Satz auf Kims Brust.

»Laß den Quatsch!« sagte er drohend. »Wenn du keine besseren Argumente hast als dein Schwert, trollst du dich am besten wieder dorthin zurück, woher du gekommen bist.«

Kim stöhnte befreit auf, als der Vogel endlich von seiner Brust heruntersprang und sich wieder auf seinen Platz hockte. Mit einem Mal kam er sich schäbig vor. Er wußte selbst nicht, was in ihn gefahren war, Rok mit Waffengewalt angreifen zu wollen, und plötzlich schämte er sich. Schuldbewußt schob er die Waffe in den Gürtel zurück.

»Ich...« begann er stockend. »Verzeih, Rok. Aber ich habe fast schon vergessen, daß es auch noch andere Wege gibt, ans Ziel zu gelangen, als mit der Waffe in der Hand.«

Rok blinzelte wieder. Er hob sich auf den Beinen hoch und drehte sich herum, und Kim sah, daß der Vogel nur auf der einen Seite schwarz war. Die andere Seite war weiß, so strahlend weiß, daß Kim geblendet die Hand vor die Augen hielt.

»Wahr gesprochen, Kim«, sagte Rok. Seine Stimme klang, als schlüge man ein riesiges, dünnes Glas an. »Und ich lese in dir, daß du auch glaubst, was du sagst. Das ist gut so, denn mit Gewalt und Haß im Herzen gelangt niemand zur Regenbogenburg. Du bist also gekommen, um Hilfe zu erbitten?«

Kim nickte zaghaft.

»Und was willst du tun, wenn man sie dir verweigert?«

»Ich... ich weiß es nicht«, sagte Kim ratlos. »Um ehrlich zu sein, darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht.«

Rok schwieg eine Weile. Dann schüttelte er den Kopf. »So einer wie du ist mir noch nicht vorgekommen«, murmelte er. »Kommt hierher und weiß nicht einmal, was er will. Was willst du dem Regenbogenkönig denn sagen?«

»Ich will ihn bitten, Märchenmond zu retten.«

»Märchenmond. Soso. Sosososo. Du bist naiv, weißt du das?«

»Ich bin nicht naiv!« fuhr Kim auf. »Ich...«

Rok drehte sich blitzschnell um und wandte ihm wieder seine schwarze Seite zu. »Ja?« krächzte er lauernd. »Nur weiter, du unbeherrschter kleiner Dummkopf. Red nur weiter.«

Kim faltete betreten die Hände hinter dem Rücken. »Entschuldige«, sagte er leise. »Ich weiß, ich bin manchmal unbeherrscht, aber...«

»Aber du glaubst, ich würde das verstehen, nach all den Gefahren, die du überstanden hast«, beendete Rok den Satz, ihm nun wieder seine weiße Seite zuwendend. »Vielleicht hast du recht, kleiner Held. Ich muß gestehen«, krächzte er, »daß du mir Kopfzerbrechen bereitest. Ich kann dich nicht durchlassen, solange du mir keine besseren Gründe vorlegst. Aber ich kann dich auch nicht zurückschicken, weil es kein Zurück gibt.« Er schüttelte den Kopf. »Mir sind schon viele untergekommen. Manche wollten Macht und Ruhm, andere Gold oder...« Er lachte, als erzähle er etwas ungemein Komisches, »Unsterblichkeit. Aber einer, der nicht weiß, was er will, so einer war noch nicht hier.«

»Aber ich weiß, was ich will«, sagte Kim.

»Das weißt du nicht. Du glaubst es zu wissen, aber das ist ein Irrtum. Ich frage mich ernsthaft, was ich nun mit dir tun soll?« Sein weißes Auge musterte Kim mit einem seltsamen, langen Blick. Plötzlich nickte er, trat einen Schritt auf Kim zu und breitete die Flügel aus. »Setz dich auf meinen Rücken«, sagte er. »Es ist gegen die Vorschrift, aber ich kann dich auch nicht hierbehalten, wie du sicher verstehen wirst. Mögen sich andere die Köpfe darüber zerbrechen, was mit dir geschehen soll.«

Kim betrachtete die riesigen Schwingen Roks, und Karts Warnung fiel ihm ein. War dies eine der Fallen, vor denen er ihn gewarnt hatte? Oder wollte der schwarze Baron mit seinem letzten Wort doch nur Mißtrauen in sein Herz säen?

»Nun komm schon«, drängte Rok, »ehe ich es mir anders überlege.« Er wandte den Kopf, und für einen Moment sah Kim die schwarze Seite seines Körpers und das heimtückische Funkeln in seinem Auge. Kim zuckte hilflos die Schultern, schwang sich auf Roks breiten Nacken und klammerte sich in seinem Gefieder fest.

Rok nahm Anlauf und schwang sich mit einem kraftvollen Satz in die Luft empor. Kim zog den Kopf ein und klappte eilig das Visier herunter, als ihm die eisige Luft ins Gesicht stach. Rok gewann mit kraftvollen Flügelschlägen rasch an Höhe.

»Wohin fliegen wir?« rief Kim gegen das Rauschen der Luft. »Nirgendwohin«, entgegnete Rok, »weil es hier kein Da und Dort gibt. Wenn du wirklich zur Regenbogenburg willst, ist es nicht weit. Aber wenn du zweifelst, erreichst du sie nie, und wenn du tausend Jahre wanderst.«

Kim seufzte. Es wäre ja auch zu schön gewesen, eine klare und eindeutige Antwort zu bekommen. Rok flog schneller und immer schneller, bis die Ebene unter ihnen wie ein fliegender Teppich dahinzurasen schien. Selbst Rangarig hatte nicht annähernd eine solche Geschwindigkeit erreicht, dachte Kim mit leisem Bedauern.

Nach einer Weile wurden Roks Flügelschläge langsamer, und schließlich setzte er in sanftem Bogen auf der Ebene auf und hieß Kim, von seinem Rücken zu steigen.

Kim gehorchte zögernd. Von der versprochenen Regenbogenburg war keine Spur zu entdecken. Die Ebene war leer wie eh und je.

»Wo sind wir?« fragte Kim leise.

»Am Ziel«, antwortete Rok, und diesmal stand er so, daß Kim beide Seiten, die schwarze und die weiße, sehen konnte. »Jedenfalls fast. Weiter können wir dich nicht begleiten. Ob du dein Ziel erreichst, liegt ganz allein bei dir. Wenn es dein fester Wille ist, kannst du es schaffen.« Damit schwang er sich mit einem mächtigen Satz in die Luft, flog noch eine Schleife und zog mit langsamen Flügelschlägen von dannen. Kim blickte ihm nach, bis er zu einem winzigen Punkt zusammenschrumpfte und dann ganz verschwand.

Kim sah sich unschlüssig um. Die Ebene war leer wie zuvor, und er wußte nicht einmal mehr, aus welcher Richtung er gekommen war. Vergeblich versuchte er, einen Horizont oder irgendeine sichtbare Begrenzung auszumachen. Er war allein, vollkommen allein, und zum ersten Mal in seinem Leben begann er die innerste Bedeutung des Wortes Einsamkeit zu erahnen.

Er drehte sich einmal um seine Achse und ging dann in eine beliebige Richtung los. Seine Schritte waren seltsam leicht, er spürte weder das Gewicht seines Körpers noch der Rüstung. Er begann seine Schritte zu zählen, um wenigstens ungefähr zu wissen, wie weit er wanderte, aber nachdem er bei fünfhundert, dann bei tausend und schließlich bei zweitausend angelangt war, gab er das Zählen wieder auf. Wie hatte Rok gesagt: Wenn es dein fester Wille ist, kannst du es schaffen. - Ja! Es war sein fester Wille. Und er würde weiterwandern, egal, wie weit!

Als wäre dieser Gedanke der Schlüssel gewesen, erhob sich von einem Moment zum anderen aus dem Nichts ein prächtiges, in allen Farben des Regenbogens leuchtendes Schloß. Kim starrte wie gebannt auf die himmelstürmenden, buntschillernden Wälle und Türme. Die Regenbogenburg... Kim konnte sich keinen Namen denken, der besser zu diesem Traum aus Farben und Formen gepaßt hätte. Selbst Gorywynn und Schloß Weltende schrumpften im Vergleich mit der Regenbogenburg in nichts zusammen. Noch während Kim dastand und schaute, verblaßte deren Bild in seiner Erinnerung und war dann ganz verschwunden.

Der Anblick der Burg raubte Kim den Atem. Er versuchte vergeblich, Materie hinter den leuchtenden Farben zu erkennen. Die Burg schien ganz aus reinen, kräftigen Farben von unvorstellbarer Intensität erbaut zu sein, Farben, die sich über das gesamte Spektrum und weit darüber hinaus erstreckten. Farben, die er sich nie hätte vorstellen können; Farben für die die menschliche Sprache keine Namen hatte; die keines Menschen Auge je erblickt hatte.

Im unteren Drittel der Burgmauer öffnete sich ein riesiges, prachtvolles Tor, einem sich öffnenden Blütenkelch gleich, und ein breiter, schillernder Regenbogen brach hervor, flutete über die Ebene und bildete eine breite, schillernde Straße. Kim trat zögernd darauf, und unter seinen Füßen schien sich eine wahre Farbexplosion zu vollziehen.

Langsam, ganz benommen vor Staunen, ging Kim auf die Burg zu. Aber es war nicht nur die räumliche Entfernung, die er überwand. Er merkte es nicht, doch mit jedem Schritt, den er sich den schimmernden Wänden näherte, trat er ein Stück in die eigene Vergangenheit zurück. Er erlebte seine Reise noch einmal in umgekehrter Reihenfolge, Schritt für Schritt, Tag für Tag, jeder Schritt eine Stunde, alle zehn Meter ein Tag. Wie bei einem rückwärtsgespulten Film liefen sämtliche Ereignisse noch einmal vor seinen Augen ab. Er kehrte zurück zur Burg am Ende der Welt, erlebte noch einmal den Kampf mit dem Tatzelwurm, ging durch die Klamm der Seelen, flog noch einmal über die unendlichen Weiten Märchenmonds, getragen vom Wind und Rangarigs kräftigen Flügeln. Weiter ging die Reise, zurück nach Gorywynn, Caivallon und dem Schattengebirge, und mit jedem Schritt erlosch ein Stück seiner Erinnerung.

Als Kim durch den weitgeschwungenen Torbogen der Regenbogenburg trat, wußte er nicht mehr, warum er hierhergekommen war, nicht mehr, wo er war, nicht einmal seinen Namen. Er war plötzlich nur noch ein neugieriges, staunendes Kind, das sich an all den Wundern, die sich vor seinen Augen auftaten, erfreute. Er hatte seine Freunde und Feinde vergessen, und mit der Erinnerung an sie war auch die Furcht von ihm abgefallen. Das mächtige Tor schloß sich lautlos hinter ihm, und Kim empfand nichts als Verwunderung und Freude an den ihn umgebenden Farben. Er ging durch einen Korridor aus strahlendem Blau und golddurchwirktem Orange und erreichte schließlich eine zweite, kleinere Tür.

Sie führte in einen herrlichen Garten. Knorrige alte Bäume verbreiteten kühlen Schatten, und im saftigen Gras blühten Tausende und Abertausende bunte Blumen. Schmetterlinge mit farbenprächtigen, durchsichtigen Flügeln flatterten umher, und aus den Tiefen des Gartens schallte ihm ein Chor fröhlicher Vogelstimmen entgegen.

Kim trat aus der Tür in den Garten hinaus. Hinter ihm schloß sich die Wand wieder, ohne die geringste Spur einer Öffnung zu hinterlassen. Für einen kurzen Moment meinte Kim eine warnende Stimme zu hören, die ihm etwas zuflüsterte. Gerade was harmlos erscheint, mag eine tödliche Gefahr bergen. Aber der Gedanke entschlüpfte ihm, bevor er ihn zu Ende denken konnte, und wenige Augenblicke später hatte er ihn schon vergessen.

Seine Füße versanken bis zu den Knöcheln im weichen Gras. Einer der großen bunten Schmetterlinge flatterte ohne Scheu herbei und setzte sich auf Kims ausgestreckte Hand. Kim beobachtete eine Zeitlang das Spiel seiner zerbrechlichen Fühler, strich dann dem Schmetterling vorsichtig mit dem Daumennagel über den Rücken und hob die Hand, um ihn davonfliegen zu lassen. Ein kleiner, glasklarer Bach schlängelte sich in munteren Windungen durch den Garten. Kim kniete am Ufer nieder, tauchte die Hände hinein und trank ein paar Schlucke des eiskalten Wassers. Es schmeckte köstlich, besser als alles, was er jemals zuvor getrunken hatte.

Von irgendwo wehte Musik herüber, helle, fröhliche Musik. Als Kim den Kopf hob, erblickte er eine Schar lieblicher Feen, die aus dem nahen Waldrand hervorschwebten und zu den Klängen der zauberhaften Musik tanzten und sangen. Kim stand auf und winkte mit der Hand. Die Feen blieben stehen, hörten auf zu singen und schauten ihm neugierig entgegen.

»Keine Angst«, rief Kim. »Ich tu euch nichts.« Er sprang mit einem Satz über den Bach, lief durch das hohe Gras auf die Feen zu und blieb drei Armlängen vor ihnen stehen. Sie waren groß, sehr groß, und so schlank, daß sie beinah zerbrechlich wirkten. Ihre Körper waren durchscheinend, wie milchiges Glas, so daß das Licht der Sonne durch sie hindurchschimmerte und sie wie aus Wolken geformt schienen.

»Sei gegrüßt!« sagte eine der Feen. »Wer bist du?«

Kim überlegte einen Moment. »Das weiß ich nicht«, antwortete er dann ehrlich. Trauer überkam ihn, daß er seinen Namen vergessen hatte, und einen Augenblick lang schämte er sich vor den Feen. Aber die Zauberwesen schienen ihm seine Vergeßlichkeit nicht zu verübeln.

»Das macht nichts«, sagte die Fee, die ihn zuerst angesprochen hatte. »Dann paßt du zu uns. Keiner hat hier einen Namen. Wir brauchen keinen. Brauchst du einen Namen? Du kannst dir einen aussuchen, wenn du willst.«

Kim schüttelte den Kopf. »Wenn ihr keine Namen braucht, brauche ich auch keinen«, sagte er.

Die Fee lachte. »Das ist gut. Komm. Spiel mit uns. Willst du mit uns spielen?«

»O ja«, stimmte Kim freudig zu, und zusammen mit den Feen begann er zu tanzen und zu singen. Sie liefen über die Wiese, tollten am Ufer des Baches entlang und kehrten schließlich zum Waldrand zurück.

»Komm mit uns«, sagte eine der Feen. »Wir kennen einen Ort, wo es noch viel schönere Spiele gibt. Und viele nette Leute. Leute wie du.«

»Wie ich?« Kim konnte sich das nicht vorstellen. Aber die Fee hatte ihn neugierig gemacht, und so folgte er ihnen. Doch als er in den Schatten der Bäume trat, hatte er schon wieder vergessen, warum er eigentlich mitkam. Es genügte ihm, mit den Feen zu tanzen, zu singen und zu spielen. Sie liefen zwischen den glatten, moosbewachsenen Stämmen der Bäume hindurch, und nach einiger Zeit erreichten sie eine weite Lichtung, auf der sich noch mehr Feen tummelten, aber auch alle möglichen anderen Wesen. Wesen, halb Mensch, halb Pferd, menschenähnliche Gestalten in weißen, wallenden Gewändern mit herrlichen Flügeln, aber auch Menschen wie er. Sie alle wirkten heiter und gelöst, und ihr Singen und Lachen war bis weit in den Wald hinein zu hören.

Einige Männer hörten mit ihrem Spiel auf, als sie Kim zwischen den Feen entdeckten, und kamen ihnen lachend entgegen. Niemand fragte nach seinem Namen, wer er sei oder woher er käme. Sogleich nahmen sie Kim in ihre Mitte, und Kim hatte vom ersten Augenblick an das Gefühl dazuzugehören, Teil einer großen, glücklichen Familie zu sein. Unbeschwert folgte er seinen neuen Freunden zum Ufer des kleinen Sees, an den die Lichtung grenzte, hängte die Füße ins Wasser und lachte hell auf, als ihm jemand einen Schubs gab, so daß er bäuchlings ins Wasser fiel. Er kroch auf Händen und Knien ans Ufer, schüttelte sich die Nässe aus den Kleidern und ließ sich dann aus purem Übermut noch einmal rücklings ins Wasser fallen.

Als er das zweite Mal ans Trockene kroch, sah er die Elfe. Es war ein kleines, dünnes Wesen, zerbrechlich wie Glas und mit schlanken, grazilen Gliedern. Ihr Kleid schien aus gewobenen Sonnenstrahlen zu sein, und ihr Gesicht war, wie ihr Körper, schmal und weiß und verwundbar.

Rebekkas Gesicht.

Die Erkenntnis traf ihn wie ein Hammerschlag. Von einer Sekunde zur anderen wußte er wieder, wer er war, warum er hierhergekommen und was seine Aufgabe war.

Die Elfe sah ihn still, mit traurigem Lächeln an.

Kim stöhnte. Mit einem Mal erkannte er, wie leer und sinnlos die Fröhlichkeit um um ihn herum war. Es war nicht die Fröhlichkeit des Herzens, sondern die des Vergessens, eine Fröhlichkeit, die mit dem Preis endgültiger Erstarrung bezahlt wurde. All diese Menschen hier, jeder einzelne, waren irgendwann einmal den gleichen Weg wie er gegangen, aber keiner von ihnen hatte den Regenbogenkönig auch nur gesehen. Ihrer aller Weg endete hier, in diesem wunderbaren, verzauberten Garten des Vergessens, einem Ort, an dem alle Wünsche unwichtig und alle Sorgen nichtig wurden. Das also war es, was Kart gemeint hatte. Das letzte, gefährliche Hindernis auf dem Weg zum Regenbogenkönig: vollkommene Weltvergessenheit bis zum entpersönlichten Selbst. Auch er, Kim, hatte alles vergessen, hatte lange bevor er hergekommen war, ja schon ehe er aus Gorywynn aufgebrochen war, den eigentlichen Grund seiner Reise vergessen. Er war gekommen, um seine Schwester aus Boraas' Gefangenschaft zu befreien.

Und er würde es tun.

Er wollte sich umdrehen und zum Waldrand zurückgehen, als ihm die Stille auffiel. Das Lachen und Singen war verstummt, Menschen und Märchenwesen standen reglos da und starrten ihn an. Sekundenlang hatte er den Eindruck, als ob die Unbekümmertheit in ihren Augen Mißtrauen und Haß gewichen wäre.

»Laßt mich vorbei«, sagte er zu einer Gruppe von Männern, die ihr Würfelspiel fallengelassen hatten und ihm den Weg verstellten.

Die Männer rührten sich nicht.

»Laßt mich«, sagte er noch einmal. »Ich muß fort.«

»Niemand kann fort von hier«, antwortete einer der Männer ruhig. »Du würdest unser aller Glück zerstören, wenn du gingest.« Die Drohung in seiner Stimme war nicht zu überhören.

Kim spannte sich. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, daß diese fröhlichen Menschen plötzlich zu einer Gefahr werden sollten.

»Bleib«, sagte ein anderer sanft. »Es ist schön hier. Wir alle kamen vor langer Zeit hierher, voller Pläne und Hoffnungen wie du, und wir alle sind geblieben und glücklich geworden. Du wirst sehen, es ist leicht. Bald wirst du deinen Kummer vergessen haben und mit uns fröhlich sein. Für immer. Denn es gibt hier weder Alter noch Tod.«

Kim schaute zu der Elfe mit Rebekkas Gesicht hinüber und sah sie lange an. »Ich kann nicht«, sagte er leise. »Bitte, versteht mich. Ich kann nicht hierbleiben. Ich würde zu viele enttäuschen.«

»Du wirst sie vergessen, bald. Was immer der Grund war, der dich hergeführt hat, er ist unwichtig. Du wirst glücklich sein, wenn du bleibst. Und gibt es etwas im Leben eines Menschen, was wichtiger wäre, als glücklich zu sein?«

Kim nickte. »Ja, das gibt es. Und nun laßt mich vorbei.«

Die Reihe rückte bedrohlich näher. Kim wich unwillkürlich zurück, bis er bis zu den Waden im Wasser stand.

»Wir lassen nicht zu, daß du gehst«, sagte einer der Männer. Kims Herz begann zu hämmern. Jeder einzelne dieser Männer war ihm körperlich überlegen, und sie waren jetzt keine verspielten Kinder mehr, sondern gefährliche Gegner.

»Warum wollt ihr nicht, daß ich gehe?« fragte er mit zitternder Stimme. »Ich will nichts von euch. Ihr könnt bleiben und tun und lassen, was ihr wollt.«

»Du würdest alles zerstören. Noch nie ist es einem von uns gelungen, diesen Ort wieder zu verlassen. Und das ist gut so. Denn gelänge es einem, auch nur einem einzigen, so wüßten wir, daß wir unser Ziel nicht erreicht haben, daß es hinter diesem Garten noch etwas anderes gibt, und wir könnten nicht mehr glücklich sein. So aber können wir wenigstens vergessen, wenn es uns schon nicht vergönnt war, ans Ziel unserer Träume zu gelangen.«

Kims Hand fuhr an den Gürtel. Sein Schwert glitt scharrend aus der Scheide, aber er kam sich dabei lächerlich vor. Er stand einer hundertfachen Übermacht gegenüber.

Er wich einen weiteren Schritt zurück, als die Reihe weiter vorrückte. Sein Umhang legte sich naß und schwer um seine Beine und schien ihn hintenüberziehen zu wollen.

Der Umhang! Laurins Mantel!

Kim hatte auch den Zaubermantel fast schon vergessen gehabt. In diesem Augenblick fiel ihm das magische Kleidungsstück, das er die ganze Zeit wie einen gewöhnlichen Mantel getragen hatte, wieder ein.

Seine Finger krallten sich in das zarte Gewebe. Bring mich weg! dachte er. Mach mich unsichtbar!

Aber nichts geschah. Der Mantel reagierte nicht, und die Reihe der Männer rückte schweigend näher.

Kims Gedanken überschlugen sich. Er mußte irgend etwas falsch gemacht haben. Er versuchte es noch einmal, voller Inbrunst und mit aller Kraft, deren er fähig war. Aber auch jetzt blieben die magischen Kräfte des Mantels stumm.

»Gib auf«, sagte ein Mann. »Wirf die Waffe fort und vergiß, weswegen du gekommen bist. Es ist leicht!«

Kim schrie verzweifelt auf, riß das Schwert hoch über den Kopf und sprang vor. Ein Aufschrei lief durch die Reihe der Gegner. Kim schlug in blinder Angst um sich und hackte sich eine Gasse durch die entsetzt zurückweichenden Männer. Er stolperte vorwärts, rannte einen Mann über den Haufen und schlug mit der Breitseite des Schwertes zu, als sich ein anderer auf ihn stürzen wollte. Mit einem dumpfen Schmerzenslaut ging der Angreifer zu Boden, und Kim taumelte weiter. Hände griffen nach ihm, zerrten an seinem Umhang und an seiner Waffe, versuchten ihn niederzuringen. Kim hieb weiter um sich, trat, kratzte und verschaffte sich noch einmal Luft.

Aber die Verschnaufpause währte nur Sekunden. Ein riesiger, bärtiger Mann kam auf dem Rücken eines Zentauren herangaloppiert, schwang eine Keule und schlug Kim die Waffe aus der Hand. Vielstimmiges Triumphgeschrei gellte in Kims Ohren.

Ein drittes Mal rief Kim die Zauberkraft des Mantels an.

Ein hoher, glockenheller Ton schwang über die Lichtung. Ein schimmernder Regenbogen senkte sich vom Himmel herab, trieb die Angreifer auseinander und legte sich wie ein weicher, schmiegsamer Mantel um Kims Körper. Ein Gefühl der Wärme und Geborgenheit durchströmte ihn, und von einer Sekunde auf die andere verlor er alle Angst.

Kim fühlte sich wie von unsichtbaren Händen emporgehoben. Der See und die Lichtung und schließlich der ganze verzauberte Garten fielen unter ihm zurück. Mit einem Mal erfaßte ihn große Müdigkeit. Das gleiche, warme Gefühl, das er schon einmal erlebt hatte, damals im Thronsaal von Gorywynn, als das Orakel durch seinen Mund gesprochen hatte, überkam ihn - ein Empfinden, als berühre ihn eine große, sanfte und beschützende Hand.

Aber noch ehe er an den Gedanken anknüpfen konnte, sank er in tiefen, traumlosen Schlaf.

Er erwachte in einem weichen, wohligen Bett. Leise Musik erfüllte die Luft, und irgendwo waren Stimmen, die sich gedämpft unterhielten, ohne daß er die Worte verstehen konnte. Er blinzelte, öffnete dann mit einem Ruck die Augen und setzte sich auf. Das Bett befand sich in einem kleinen, schlichten Raum mit weißen Wänden und weißer Decke.

»Du willst also unbedingt den Regenbogenkönig sprechen«, sagte eine sanfte Stimme. Kim fuhr erschrocken herum und erblickte einen jungen, einfach gekleideten Mann - kaum älter als er selbst, gerade an der Schwelle vom Knaben zum Mann -, der mit verschränkten Armen an der Wand lehnte und Kim mit einem Ausdruck von gutmütigem Spott musterte.

»Wer bist du?« fragte Kim.

»Beantworte erst meine Frage«, beharrte der andere. »Warum willst du den Herrn sprechen?«

Kim zögerte.

»Du kannst ruhig antworten. Hier droht dir keine Gefahr mehr. Du bist sicher.«

»Das habe ich schon öfter geglaubt«, murmelte Kim.

Der junge Mann lächelte. »Dein Mißtrauen ist berechtigt; aber hier kannst du es vergessen.«

»Trotzdem...« Kim schüttelte entschieden den Kopf. »Mein Anliegen werde ich dem Regenbogenkönig persönlich vortragen und sonst keinem.«

Der junge Mann seufzte tief. »Nun gut«, sagte er, indem er sich mit einer kraftvollen Bewegung von der Wand abstieß und zur Tür ging. »Folge mir. Ich bringe dich zu ihm.«

Kim schwang verblüfft die Beine auf den Boden. »So... so schnell geht das?« fragte er verwundert.

»Warum nicht? Dein Weg hierher war schwer genug, oder?« Der junge Mann bewegte die Hand, und die Tür glitt lautlos vor ihnen in die Wand zurück. Ein schmaler, sanft erhellter Gang nahm sie auf. Sie durchquerten ihn, traten durch eine zweite Tür und gelangten schließlich in einen kreisrunden, vollkommen leeren Raum. Wieder bewegte der junge Mann die Hand. In der Mitte des Raumes erhob sich eine schlanke Säule aus weißem Marmor. Auf deren Spitze lag eine faustgroße Glaskugel, die mildes Licht verstrahlte.

»Nun, Kim, trage dein Anliegen vor.«

Kim blickte verwundert auf. »Ich...«

»Du wolltest mit dem Regenbogenkönig sprechen. Nun, ich bin hier. Also sprich.«

Kim wich vor Schreck einen halben Schritt zurück. »Du?« stotterte er. »Ich meine... Sie... Sie sind...«

»Bleib beim Du«, winkte der Regenbogenkönig ab. »Eine Unterscheidung in Du- und Sie-Personen, wie sie bei euch Menschen üblich ist, kennt man bei uns nicht.«

»Aber...« stammelte Kim, »ich dachte, Sie... du wärest...«

»Älter?« lächelte der Regenbogenkönig. »Um weise zu sein? Vielleicht mit langem weißem Bart und schütterem Haar?« Er lachte. »Auch so ein Irrglaube von euch Menschen. Ich bin unsterblich. Warum sollte ich als gebrechlicher Greis herumlaufen, wenn ich mir ein beliebiges Alter aussuchen kann? Doch nun zu dir«, wechselte er unvermittelt das Thema. »Ich habe deinen Weg hierher aufmerksam verfolgt. Du bist sehr tapfer für einen Jungen deines Alters, weißt du das?«

Kim nickte impulsiv, lächelte dann verlegen und schüttelte den Kopf.

»Keine falsche Bescheidenheit«, sagte der Regenbogenkönig ernst. »Schon Hunderte sind vor dir diesen Weg gegangen, und nur die wenigsten haben ihr Ziel erreicht - das heißt fast erreicht. Du bist seit langer Zeit der erste, der auch die letzte Prüfung bestanden hat.«

Kim nickte. »Der Zaubergarten...«

»Ja. Alle jene, die du dort getroffen hast, sind gleich dadurch die Klamm der Seelen gelangt. Sie haben den Tatzelwurm bezwungen oder überlistet, und auch die Weltenwächter und der Vogel Rok konnten sie nicht aufhalten. Nur mit sich selbst sind sie nicht ins reine gekommen.«

»Aber warum?« fragte Kim. »Warum hast du diese Falle errichtet, so kurz vor dem Ziel?«

»Es ist keine Falle, Kim. Erinnere dich an die Worte Roks, dieses streitlustigen alten Knaben. Nur wer wirklich festen Willens ist, kann sein Ziel erreichen. Sie alle, all diese großen, starken Helden, die du gesehen hast, wußten im Grunde selbst nicht, warum sie gekommen waren. Sie gaben sich mit Scheingründen zufrieden, wie zum Beispiel, um zu Reichtum und Ruhm zu gelangen, oder auch aus reiner Abenteuerlust. Nur wer sich selbst erkennt und weiß, warum er hierherkam, nur der kann mich sehen, Kim. So wie du.« Kim nickte schuldbewußt. Auch er hatte vergessen, warum er sich auf den Weg gemacht hatte. Er hatte geglaubt, sein Leben riskiert zu haben, um Märchenmond zu retten; aber das stimmte nicht. Erst der Anblick der Elfe hatte ihm die Augen geöffnet.

»Du bist gekommen, um deine Schwester zu retten«, sagte der Regenbogenkönig.

Kim nickte. »Die Elfe. Hast du sie geschickt?«

»Ja. Jeder, der den verzauberten Garten betritt, bekommt noch eine Chance. Aber die wenigsten erkennen sie.«

Kim raffte all seinen Mut zusammen. Er sah dem Regenbogenkönig gerade in die Augen und sagte: »Wirst du mir helfen?«

»Helfen - wobei?« fragte der König. »Gesetzt den Fall, ich würde dir einen Wunsch erfüllen - nur einen Kim, nur einen einzigen -, wie würde er lauten? Soll ich deine Schwester aus Morgons Verliesen befreien und euch dorthin zurückbringen, wo ihr herkamt? Aber dann würde Märchenmond untergehen, mit all seinen Menschen und Tieren und Wundern. Oder soll ich Gorywynn retten und die schwarzen Heere in die Flucht schlagen? Aber dann bliebe Rebekka in der Gewalt Boraas'. Welchen Wunsch würdest du wählen?«

Kim schwieg lange. »Du verlangst Unmögliches«, sagte er dann. »Du stellst mich vor eine Wahl, die ich nicht treffen kann. Ich möchte...«

»Du möchtest, daß ich beides tue«, unterbrach ihn der Regenbogenkönig. »Du sagst, ich stelle dich vor eine grausame Wahl, aber du vergißt, daß du als Bittsteller kommst. Dein Mut hat mir imponiert, Kim, und deshalb will ich dir einen Wunsch erfüllen. Einen einzigen nur. Überlege gut, ehe du dich entscheidest.«

Kim wollte schon antworten, doch der Regenbogenkönig schüttelte abwehrend den Kopf. Er legte den Zeigefinger auf die Lippen und bedeutete Kim mitzukommen. Kim folgte ihm zu der schlanken Marmorsäule in der Mitte des Raumes. Der Regenbogenkönig zeigte auf die Glaskugel auf der Spitze der Säule.

»Sieh hinein«, verlangte er.

Kim gehorchte. Im ersten Moment erkannte er nichts außer dem verschwommenen und leicht verzerrten Spiegelbild seines eigenes Gesichts. Dann füllte sich die Kugel mit einer Art Nebel, in dem Hunderttausende winziger, leuchtender Pünktchen zu wimmeln schienen. Als Kim genauer hinsah, merkte er, daß jeder dieser Punkte eine ganze Welt war, so groß wie die Erde oder wie Märchenmond, eine Welt mit Kontinenten und Meeren, Flüssen und Bergen und Ländern. Hunderttausende Welten mit Millionen und Abermillionen Völkern und ebenso vielen Schicksalen und Geschichten, jede so kompliziert und vielschichtig wie die der Erde, zugleich aber unbedeutend und winzig in dieser ungeheuren Vielzahl.

Der Regenbogenkönig legte lächelnd beide Hände auf die Kugel. Einen Moment lang geschah nichts. Dann erlosch das Gefunkel und Geglitzer, und Kim erblickte statt dessen einen wunderschönen, strahlenden Planeten. Das Bild verschwand abermals, und nun erkannte er eine Landschaft - Steppe, Wälder und Berge, einen See und an seinem Ufer eine schimmernde Burg aus Glas und Farben. Gorywynn. Aber wie hatte es sich verändert! Der Himmel über der Burg war schwarz von Ruß und Qualm. Ein gläserner Schutzwall war bereits den Flammen zum Opfer gefallen. Auf dem See trieben Hunderte von Schiffen und Flößen, und die Steppe wurde im weiten Umkreis von Boraas' Heerscharen verfinstert.

»Du hast gesehen«, sagte der Regenbogenkönig, »daß die Welt, aus der du kommst, nur eine von vielen ist. Was auch immer dort geschehen mag, es ist unwichtig, solange der große Plan nicht in Gefahr gerät. Märchenmond mag der Herrschaft Boraas' anheimfallen, aber im Großen wird das nichts ändern. Eure Probleme, so wichtig sie euch auch vorkommen, sind nichtig.«

»Aber das stimmt nicht!« widersprach Kim. »Es kann nicht unwichtig sein, ob ein so herrliches Land wie Märchenmond zerstört wird oder nicht. Wenn du allwissend bist, dann kennst du auch das Schattenreich!«

»Ich kenne es. Aber Gut und Böse ringen ständig miteinander, Kim, und keine Seite kann ohne die andere existieren. Es liegt in der Natur des Menschen, daß er zugleich Teufel und Heiliger sein kann. Schon oft erhob sich das Böse gegen das Gute, und schon oft kamen Männer wie Boraas, um Märchenmond niederzuwerfen. Aber solange ihre Herrschaft auch dauert, irgendwann, nach hundert, tausend oder auch hunderttausend Jahren, wird das Schicksal seine Gunst wieder der anderen Seite zuwenden. Du siehst, es ist nicht notwendig, für die eine oder andere Seite Partei zu ergreifen.«

»So etwas Ähnliches hat Themistokles auch gesagt«, murmelte Kim niedergeschlagen. »Du willst mir also nicht helfen.«

»Doch, Kim. Wenn du mich überzeugst, daß ich eingreifen muß, werde ich es tun. Ich mische mich grundsätzlich nicht in die Schicksale der Völker ein, ohne wirklich gewichtigen Grund.«

»Aber die Existenz Märchenmonds...«

»Ist kein gewichtiger Grund«, unterbrach ihn der Regenbogenkönig. »Märchenmond wird weiterbestehen, wenn nicht morgen, so in ferner Zukunft. Mich einmal einzumischen hieße, mich ein ums andere Mal einmischen zu müssen. Denn nach dir würden andere Bittsteller kommen, von anderen Welten, von anderen Völkern. Vielleicht würde eines Tages statt deiner Baron Kart vor mir stehen und mich um Hilfe bitten, mit ebensoguten Gründen wie du, möglicherweise mit besseren. Wie könnte ich ihm die Hilfe versagen, nachdem ich sie dir gewährte?«

»Du wärest bereit, der schlechten Sache zu dienen?« fragte Kim ungläubig.

»Der schlechten Sache?« Der Regenbogenkönig lächelte. »Was ist schlecht, Kim? Welche Seite ist im Unrecht? Welche im Recht? Immer die, auf der du stehst? Glaubst du nicht, daß Baron Kart und Boraas von der Gerechtigkeit ihrer Sache ebenso überzeugt sind wie du von der deinen? Glaubst du nicht, daß sie mit dem gleichen Recht Hilfe gegen euch verlangen? In Märchenmond hält man mich für mächtig, vielleicht allmächtig, aber das bin ich nicht. Ich bin ein Geschöpf wie du, nur an einem anderen Platz. Es steht nicht in meiner Macht, über das Schicksal eines Volkes zu bestimmen. Auch ich bin nur ein winziger Baustein im Gefüge des Universums, und über mir stehen Mächtigere, die sehr genau darauf achthaben, was ich tue. Deshalb verlange nicht leichtfertig, daß ich Partei ergreife. Ich kann und darf es nicht, außer es gelingt dir wirklich, mich von der Notwendigkeit dessen zu überzeugen. Aber bedenke, daß in all den Ewigkeiten, die ich herrsche, noch keiner bei mir war, dem es gelungen wäre, mich gegen mein besseres Wissen von etwas zu überzeugen.«

Kim trat niedergeschlagen von der Weltenkugel zurück. Der strahlende Glanz des Gebildes erlosch. Kim fühlte sich wie gelähmt. Seine Träume zerbarsten wie ein gläsernes Spielzeug, mit dem er zu grob umgegangen war. Er war hierhergekommen, ohne zu wissen, was ihn erwartete. Er hatte es sich zu leicht vorgestellt.

Es war umsonst gewesen, alles. Vielleicht würde Gorywynn schon in diesem Moment untergehen, ohne daß er etwas daran ändern konnte. Er hatte einen Wunsch frei, einen einzigen, wo zwei vonnöten gewesen wären. Rettete er Gorywynn, ließ er seine Schwester in den Klauen des Zauberers. Und befreite er Rebekka, überließ er Gorywynn, das seine ganze Hoffnung auf ihn gesetzt hatte, seinem Schicksal.

Und dann, von einer Sekunde auf die andere, wußte er die Lösung.

»Ich habe mich entschieden«, sagte er fest. »Du gewährst mir einen Wunsch, egal, was ich erbitte?«

Der Regenbogenkönig nickte. »Wenn es in meiner Macht steht, ihn zu erfüllen, ja.«

Kim atmete hörbar ein.

»Alles, was geschehen ist«, sagte er, »war meine Schuld. Boraas' Plan wäre undurchführbar gewesen, wäre ich nicht nach Märchenmond gekommen.«

»Und was verlangst du jetzt?«

»Daß«, Kim konnte seine Stimme nur mühsam beherrschen, »daß alles so ist, wie es war, bevor meine Schwester in Boraas' Gewalt gelangte. Daß es ist, als wäre ich niemals gekommen.«

Der Regenbogenkönig zögerte lange mit der Antwort. »Ich habe gehofft, daß du diesen Wunsch äußern würdest«, sagte er endlich. »Auch wenn er unerfüllbar ist.«

»Unerfüllbar?« rief Kim. »Aber...«

»Was du verlangst, ist ganz einfach unmöglich, denn einmal Gewesenes kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Aber du hast die letzte Prüfung bestanden.«

»Welche Prüfung?«

»Du erinnerst dich nicht? Nur wer wirklich weiß, was er will, kann mich überzeugen. Du hast den Grund deines Hierseins erkannt. Ich werde dir helfen.«

»Du willst...« Kims Stimme schnappte vor Aufregung fast über. »Du willst uns wirklich helfen?«

»Ich werde es versuchen, Kim. Wie ich schon sagte - ich bin nicht allmächtig.«

Kim deutete ratlos auf die Weltenkugel. »Aber... all diese Welten, der Zaubergarten, die...«

»Meine Macht ist groß, Kim. Aber nur hier, im Zentrum der Kraft, die den Kosmos zusammenhält und lenkt, bin ich stark. Verlasse ich diesen Ort, schwindet auch meine Macht.« Er lächelte begütigend, als er das Erschrecken auf Kims Gesicht sah. »Keine Sorge. Ich bin auch wieder nicht so schwach, wie du jetzt vielleicht glaubst. Auch in der anderen Welt stehen mir Hilfsmittel zur Verfügung, die dich in Erstaunen versetzen werden. Ich werde Boraas aufhalten und Gorywynn retten.«

»Dann komm!« drängte Kim. Das Bild der brennenden Burg stand noch deutlich vor seinen Augen. »Laß uns gehen.«

»Nicht so rasch, Kim. Es sind gewisse Vorbereitungen zu treffen. Du wirst dich noch ein wenig gedulden müssen.«

»Aber Gorywynn wird bereits belagert...«

»Boraas berennt die Märchenfestung schon seit vier Tagen, aber selbst sein Heer ist nicht stark genug, die Festung im ersten Sturm zu nehmen. Wir werden rechtzeitig dort sein. Folge mir jetzt.« Er wandte sich um und verließ den Raum durch dieselbe Tür, durch die sie eingetreten waren. Doch diese führte nun nicht wieder zurück in den Raum, in dem Kim erwacht war, sondern auf einen weiten, sonnenbeschienenen Hof.

Kim riß erstaunt die Augen auf. Am Fuße der breiten, aus puren Farben gefügten Treppe, die von der Tür in den Hof hinunter führte, wartete eine große Anzahl Reiter. Es waren kräftige Männer in goldschimmernden Panzern und goldenen Harnischen. Sie saßen auf riesenhaften weißen Pferden, deren goldenes Geschirr in der Sonne blitzte, als wäre es mit Sternenlicht übergossen. Erregtes Murmeln lief durch die Menge, als Kim und der Regenbogenkönig auf die Treppe heraustraten. Dann erhob sich ein Jubelgeschrei, daß die Treppe unter ihren Füßen zu wanken schien.

Kim sah den Regenbogenkönig verblüfft an. »Was sind das für Männer?« fragte er.

»Du kennst sie nicht? Schau genauer hin.«

Kim gehorchte, und nun erkannte er vertraute Gesichter in der Menge. Er hatte diese Männer - oder wenigstens einige von ihnen - erst vor kurzem gesehen. »Der Zaubergarten«, sagte er überrascht. »Das sind die Männer, die ich im Zaubergarten getroffen habe!«

»Richtig. Und sie jubeln dir zu, Kim, nicht mir.«

»Mir?« fragte Kim zweifelnd. Der Jubel und die Hochrufe wollten nicht verstummen. Die Reiter - sicher vierhundert oder mehr - schwenkten die Waffen, warfen die Helme in die Luft und klatschten Kim begeistert Beifall.

»Sie jubeln ihrem Befreier zu«, erklärte der Regenbogenkönig.

»Befreier? Aber wieso... was habe ich denn getan?«

»Du kennst das Geheimnis des Zaubergartens noch nicht ganz. Wie solltest du auch? Durch Jahrhunderte ist es den größten Helden - und nur ihnen - gelungen, hierherzugelangen, doch nicht einer hat den Weg über die Grenze des Gartens gefunden. Sie alle waren in ihm gefangen, bis zu dem Tag, an dem einer kommen würde, sie zu befreien. Denn sowie ein Mensch über den Zaubergarten hinaus zu mir vordringt, gibt dieser seine Gefangenen frei. Viele von ihnen haben lange, sehr sehr lange warten müssen. Deshalb jubeln sie dir zu, Kim. Sie waren glücklich oder haben sich zumindest eingebildet, glücklich zu sein. Trotzdem haben sie auf einen wie dich gewartet. Führe sie, Kim. Sie werden dir folgen, wohin du willst.«

Kim schwindelte es. Soeben noch hatte er geglaubt, versagt zu haben, und nun stand er da und blickte auf ein mächtiges Heer hinunter, das seinen Befehlen gehorchen sollte. Ein Heer, gebildet aus den Besten der Besten, aus den legendären Helden Märchenmonds, von denen jeder einzelne hundertmal tapferer und stärker war als Boraas' Reiter.

»Führe sie, Kim«, wiederholte der Regenbogenkönig. »Mit ihrer Hilfe wirst du Boraas besiegen können.«

Kim begann langsam die Treppe hinunterzugehen. Der Jubel verstummte nach und nach. Als Kim vor den Reitern stand, schlug ihm erwartungsvolle Stille entgegen.

Die Reihen teilten sich, und einer der Krieger führte ein rabenschwarzes Pferd am Zügel heran. Kims Herz machte einen freudigen Sprung, als er das Roß erkannte.

»Junge!« sagte er mit zitternder Stimme. Er klopfte dem Tier zärtlich den Hals. Dann schwang er sich mit einer entschlossenen Bewegung in den Sattel und griff nach den Zügeln. Das Pferd wieherte erfreut, schüttelte die Mähne und begann unruhig zu tänzeln. Nach all der Zeit, die vergangen war, seit Kim es in Gorywynn zurückgelassen hatte, hatte es ihn sofort wiedererkannt.

»Wir sind bereit, Herr«, sagte einer der Krieger. »Befiehl, und wir werden dir folgen.«

»Bis ans Ende der Welt«, sagte ein zweiter, und vierhundert weitere Stimmen pflichteten ihm lautstark bei.

Kim richtete sich kerzengerade im Sattel auf, zwang Junge mit leichtem Schenkeldruck herum und ritt durch die Reihen der Krieger auf die Stirnseite des Hofes zu. Die Mauern wichen zur Seite, und ein breiter, schillernder Regenbogen nahm sie auf.

»Vorwärts!« rief Kim. Er gab seinem Pferd die Sporen, galoppierte auf den Regenbogen hinauf und jagte an der Spitze seines Heeres in die Unendlichkeit hinaus.

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