VIII

Er übernachtete unter freiem Himmel. Nach dem milden Sonnenschein und der Wärme des Tages wurde es während der Nacht empfindlich kühl. Kim wickelte sich frierend in seine Decke ein und sehnte sich danach, ein Feuer entzünden zu können. Aber er hatte keine Streichhölzer, und selbst wenn er imstande gewesen wäre, nach Pfadfinderart durch Aneinanderreihen zweier trockener Hölzer einen Funken zu entfachen, hätte er es wahrscheinlich nicht gewagt. Die friedliche Stille täuschte. Seine Erlebnisse vom Vortag hatten ihm gezeigt, wie nahe das Böse bereits war. Vielleicht war sogar schon alles umsonst. Vielleicht hatte das schwarze Heer in der Zeit, die Kim bei der Dachsfamilie verbracht hatte, das ganze Land überschwemmt, so daß er, wohin er auch kam, nur noch Tod und verbrannte Ruinen vorfinden würde.

Solche und ähnliche Gedanken quälten ihn die ganze Nacht. Lange vor Sonnenaufgang rollte er seine Decke zusammen, schwang sich in den Sattel und ritt weiter. Im Morgengrauen erreichte er einen kleinen See, dessen liebliches Ufer zum Verweilen einlud. Kim stieg ab, ließ Junge nach einem freundschaftlichen Klaps auf das Hinterteil grasen und ging zögernd zum Wasser hinunter.

Ein leises Geräusch drang durch das Raunen des Waldes zu ihm. Zuerst glaubte Kim, seine überreizten Nerven spielten ihm einen Streich. Aber das Geräusch wiederholte sich, und Kim erkannte, daß es Schritte waren. Schwere Schritte, die schnell näher kamen. Wer immer das war, er gab sich nicht die mindeste Mühe, sein Kommen zu verbergen.

Kims Müdigkeit verflog und machte einer nervösen Anspannung Platz. Er sah sich nach einer Deckung um, aber der Waldrand war zu weit entfernt, um ihn noch rechtzeitig erreichen zu können. Schlagartig wurde ihm die Gefährlichkeit seiner Situation bewußt. Er stand, bildlich gesprochen, zwischen zwei Feuern. Seine Rüstung würde die schwarzen Ritter vielleicht noch einmal für kurze Zeit täuschen können, aber sie waren gewarnt und würden bald herausfinden, wen sie vor sich hatten. Und wenn ihn nun keine schwarzen Reiter, sondern Bewohner dieses Landes fanden, konnte ihm der schwarze Harnisch leicht zum Verhängnis werden. Es war gut möglich, daß sie ihn in blinder Wut erschlugen, ohne danach zu fragen, wer sich darunter verbarg. Kim hätte es ihnen nicht einmal verübeln können.

Rückwärts gehend wich er zum See zurück, zog sein Schwert aus der Scheide und starrte auf die Stelle am Waldrand, wo der Unbekannte auftauchen mußte.

Kims Atem stockte, als er den Fremden sah.

Es war ein Riese.

Kim hatte in letzter Zeit viele große Männer gesehen, auch solche, die man getrost als Riesen bezeichnen konnte. Aber neben diesem breitschultrigen, grobschlächtigen Kerl hätte sogar Baron Kart klein und schmächtig gewirkt. Kim schätzte seine Größe auf gute vier Meter. Die Schultern des Riesen waren so breit, daß Kim sie mit ausgestreckten Armen nicht hätte umfassen können. Er trug eine knielange dunkelbraune Wollhose, die an vielen Stellen zerrissen oder geflickt war, und darüber ein weit ausgeschnittenes, ärmelloses Hemd, das seine haarige Brust nur teilweise bedeckte. Sein langes dunkles Haar sah aus, als wäre es vor ungefähr fünfzig Jahren das letzte Mal gewaschen worden, und über der rechten Schulter trug er eine mächtige Keule, die größer war als Kim.

Der Riese schien über Kims Anblick ebenso überrascht wie Kim über den seinen. Er hielt mitten im Schritt inne, riß den Mund auf und entblößte zwei Reihen großer gelber Zähne.

»Ooooh!« machte er mit tiefer, grollender Stimme. »Wen haben wir denn da?«

Kim duckte sich. Er sah sich vergebens nach einer Fluchtmöglichkeit um. Sein Schwert mit beiden Händen umfassend, wich er noch weiter zurück, bis er weit über die Knöchel im Wasser stand. Der Riese machte einen Schritt auf ihn zu, knickte mit einer lässigen Handbewegung einen jungen Baum zur Seite und schwang seine Keule von der Schulter.

»Bleib, wo du bist!« rief Kim. Die Stimme versagte ihm fast vor Angst. Er sah ein, daß Weglaufen zwecklos war.

Der Riese grinste.

»Ein Schwarzer«, grollte er in einem Tonfall, als spreche er mit einem guten Freund oder auch mit sich selbst. »Sieh da, ein Schwarzer.« Er blieb wieder stehen, sah sich mit vorgestrecktem Hals nach beiden Seiten um und kratzte sich dann am Schädel. Es klang, als ziehe man Kreide über eine Schiefertafel. »Und noch dazu allein«, fügte er versonnen hinzu. »Es kommt nicht oft vor, daß man einen von euch allein trifft. Eine Gelegenheit wie diese sollte man nutzen.«

Kim konnte sich das lebhaft vorstellen. Er hob das Schwert ein wenig an, bis die schwarze Spitze genau auf den Bauch des Riesen zeigte, und sagte, so ruhig er konnte: »Bleib stehen, oder...«

»Oder?« Zwischen den buschigen Augenbrauen des Riesen erschien eine steile Falte.

»Oder ich hacke dich in Stücke!« fügte Kim mit zitternder Stimme hinzu.

Für einen Moment sah es so aus, als wollte der Riese in schallendes Gelächter ausbrechen. Doch dann nahm sein Gesicht einen besorgten Ausdruck an.

»Das bringst du fertig«, murmelte er und kratzte sich abermals am Schädel. »Das bringst du tatsächlich fertig.« Er machte einen Schritt auf Kim zu und blieb erschrocken stehen, als Kim drohend mit dem Schwert fuchtelte. Langsam hob er seine riesige Keule.

Kim raffte den letzten Rest seines Mutes zusammen, stieß einen krächzenden Laut aus und sprang auf den Riesen zu. Er holte aus, drehte das Schwert und schlug dem Riesen die flache Klinge vor den Bauch - höher kam er nicht.

Der Riese verdrehte entsetzt die Augen, warf seine Keule in hohem Bogen weg und fiel wimmernd auf die Knie.

»Nicht!« flehte er. »Tu mir nichts, Schwarzer. Ich... ich bin nur ein harmloser, feiger Riese, der noch keinem was getan hat.« Er zerdrückte eine Träne im Augenwinkel, faltete flehend die Hände und schluchzte laut.

Kim ließ verblüfft das Schwert sinken. Er war überzeugt gewesen, sein letztes Stündlein habe geschlagen. Und jetzt das?

»Bitte, mächtiger Herr!« flehte der Riese. »Verschont mich! Nehmt mich als Sklaven, aber tut mir nichts. Ich habe nie in meinem Leben jemandem etwas zuleide getan, am allerwenigsten einem Schwarzen.«

»Aber...« Kim schüttelte ratlos den Kopf und trat einen Schritt zurück. Das Gesicht des Riesen war blaß vor Angst. Seine Lippen zitterten, und aus seinen Augen sprach nackte Angst. Obwohl er auf den Knien lag, befanden sich sein und Kims Gesicht auf gleicher Höhe.

»Ich... ich bin kein schwarzer Ritter«, stieß Kim hervor. Er rammte sein Schwert in den weichen Waldboden, klappte das Visier hoch und nahm den Helm schließlich ganz ab. »Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte er beruhigend und kam sich dabei unglaublich komisch vor. Trotzdem fügte er noch hinzu: »Ich will dir nichts zuleide tun.«

Der Riese schluckte. »Wirklich nicht, mächtiger junger Herr? Ich... Ihr seid Gorg nicht böse, daß er Euch verwechselt und seine groben Späße mit Euch getrieben hat?«

»Bestimmt nicht«, sagte Kim.

»Aber... aber Ihr tragt die Rüstung eines Schwarzen, und...«

Kim seufzte. »Ich weiß«, sagte er. »Und es ist eine lange Geschichte. Aber ich bin kein Schwarzer.«

»Und Ihr seid mir auch bestimmt nicht böse?«

»Bestimmt nicht«, versicherte Kim ein zweites Mal. »Und jetzt steh auf und benimm dich, wie es einem Riesen zukommt.«

Gorg nickte eifrig, erhob sich zuerst auf ein Knie und dann auf beide Füße und überragte Kim auf einmal wieder um mehr als zwei Meter.

»Darf ich... darf ich meine Keule aufheben?«

Kim wußte nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Er nickte wortlos, hockte sich auf einen Felsbrocken und sah zu, wie der Riese seine Keule auflas und dann zum Ufer hinunterging, um sich mit seinen gewaltigen Händen etliche Liter Wasser ins Gesicht zu schöpfen. Er prustete, warf Kim einen furchtsamen Blick zu und kam dann mit hängenden Schultern zurück.

»Dein Name ist Gorg?« fragte Kim, nachdem der Riese ihm gegenüber Platz genommen und einen zwei Meter langen Ast von einem Baum abgerissen hatte, um sich damit am Rücken zu kratzen.

Der Riese nickte. »Eigentlich heiße ich Gorganogan Maropalkam Orovatusanius Premius Nesto Schranirak Gowlim, aber das kann keiner behalten. Alle nennen mich nur Gorg. Aber ich kann auch einen anderen Namen annehmen, wenn Ihr es befehlt, Herr. Wenn Euch Gorg nicht gefällt...«

»Es gefällt mir, doch, doch«, beeilte sich Kim zu versichern. Allmählich begriff er, daß Gorg nicht nur feige, sondern auch überaus geschwätzig war.

»Gut, dann bleiben wir bei Gorg«, nickte der Riese. »Ist mir auch lieber. Man gewöhnt sich so schlecht an einen anderen Namen, wißt Ihr. Früher nannte mein Vater mich immer Kleiner oder Knirps, aber als ich dann größer wurde, sagte er Langer und Bohnenstange zu mir, und später redete er mich nur noch mit meinem Namen an. Ah, das waren noch Zeiten.« Er wiegte den Kopf und sah Kim mißtrauisch an. »Wenn Ihr mir eine Frage gestattet, junger Herr...«

Kim seufzte. »Nur zu.«

»Ihr... Ihr seid kein Schwarzer?«

»Bin ich nicht. Ich sehe nur so aus.«

Gorg schien merklich erleichtert. »Das ist gut«, sagte er. »Das ist sehr gut. Ich fürchtete schon, Ihr wärt ein Schwarzer. Seit ein paar Tagen sind viele Schwarze in der Gegend, und als ich Euch vorhin am See stehen sah, meinte ich schon, Ihr wärt ein Schwarzer, der nur gekommen ist, dem armen Gorg etwas zu tun. Es sind viele in der Gegend, und sie waren die ganze Zeit hinter dem armen Gorg her, haben wohl geglaubt, er wäre gefährlich, dabei will Gorg nichts als seine Ruhe. Und als ich Euch gerade am See...«

Kim schnitt den Redefluß des Riesen mit einer Handbewegung ab. »Ich bin wirklich kein schwarzer Ritter, basta«, sagte er. »Und wenn ich ehrlich sein soll, ich hatte genausoviel Angst wie du, als ich dich vorhin am Waldrand auftauchen sah. Vielleicht sogar noch mehr.«

»Angst?« echote Gorg ungläubig. »Angst? Vor mir? Vor einem harmlosen, feigen Riesen?«

Kim konnte nicht anders - er mußte grinsen.

»Wieso feige? Wie kann jemand, der so groß ist wie du, feige sein?«

Gorg zog eine Grimasse, als hätte er Zahnschmerzen. »Ach, das ist eine lange Geschichte, junger Herr«, seufzte er. »Gorg war nicht immer so groß wie heute, o nein. Nicht immer«, wiederholte er gerührt. »Früher, als ich ein Kind war, da war ich so klein wie Ihr, Herr. Aber als die anderen aufhörten zu wachsen, wuchs ich einfach weiter. Mein Vater sagte immer, ich wäre einfach zu dumm, um zu erkennen, daß ich längst groß genug sei und allmählich aufhören könnte zu wachsen. Aber ich bin immer weiter und weiter gewachsen, bis ich so groß war wie jetzt.«

»Aber wieso bist du feige?« fragte Kim. »Wer so groß und stark ist wie du, hat doch nun wirklich keinen Grund, sich vor jemand zu fürchten.«

Gorg wiegte den Schädel. »Mit der Größe ist es so eine Sache, junger Herr«, sagte er nachdenklich. »Genau wie mit der Stärke. Früher, als ich klein und schwach wie die meisten anderen war, habe ich so gedacht wie Ihr, und wie jedes Kind habe ich davon geträumt, einmal in meinem Leben ein Riese zu sein.« Sein Gesicht nahm einen wehleidigen Ausdruck an. »Aber es ist nicht schön, junger Herr, gar nicht schön. Jeder ist kleiner als man selbst. Wenn man in ein Haus geht, stößt man sich den Kopf, und faßt man jemanden ein bißchen an, schreit er gleich. Und alle zeigen dann mit Fingern auf einen und rufen: Seht euch den groben Kerl an. - So ist das mit der Stärke, junger Herr. Wenn man sie nicht hat, wünscht man sie sich, aber hat man sie einmal, wird man sie nicht mehr los. Man muß sich alles, was man tut, genau überlegen, und schließlich ist man soweit, daß man sich gar nicht mehr unter Menschen traut. Sie gehen so leicht kaputt, wißt Ihr.« Er seufzte, zog durch die Nase hoch und hob spielend einen drei Zentner schweren Felsbrocken vom Boden auf, um ihn wie einen Kieselstein ins Wasser zu schnippen. »Wenn man so stark ist wie ich, muß man feige sein, Herr«, fügte er traurig hinzu.

»Und du lebst ganz allein hier im Wald?« fragte Kim nach einer Weile.

Gorg nickte. »Ganz allein, junger Herr«, bestätigte er. »Manchmal gehe ich ins Dorf hinunter, und ab und zu treffe ich jemanden vom Berghof, aber nicht oft.«

Die letzten Worte rissen Kim schlagartig in die rauhe Wirklichkeit zurück.

»Du sagtest vorhin, du hättest schwarze Reiter gesehen«, erinnerte er.

Gorg nickte eifrig. »Viele, junger Herr. Gestern und auch den Tag davor und den Tag vor dem Tag davor.«

»Nenne mich Kim«, sagte Kim. »Die Anrede junger Herr erinnert mich an Dinge, die ich lieber vergessen möchte.«

»Wie Ihr wollt, Kim. Ihr interessiert Euch für die schwarzen Reiter?« fragte Gorg mit einem Blick auf Kims Rüstung.

»Ich kam, um euch vor ihnen zu warnen«, erklärte Kim. »Aber ich fürchte, ich komme zu spät.«

»Es ist nie zu spät für eine warnende Stimme. Aber Ihr müßt Euch beeilen, wenn Ihr rechtzeitig in Gorywynn sein wollt.«

»Gorywynn?«

»Unsere Hauptstadt. Die schwarzen Reiter«, erklärte Gorg mit einer Sachlichkeit, die Kim fast noch mehr verblüffte als seine zur Schau getragene Furchtsamkeit, »werden kaum über das Gebirge gekommen sein, um in diesen Wäldern zu lustwandeln. Man spricht von Krieg.«

Kim stand mit einer entschlossenen Bewegung auf. »Du hast recht«, sagte er. »Und aus diesem Grund muß ich auch weiter. Eigentlich hätte ich mich gar nicht aufhalten dürfen. Ihr Vorsprung ist schon groß genug.«

Gorg schenkte Kim einen langen, nachdenklichen Blick. »Ihr wollt ins Tal.«

Kim nickte.

»Ich kenne Wege, die Euch schneller hinunterbringen als die Schwarzen. Wenn Ihr wollt, begleite ich Euch ein Stück. Ihr spart einen Tag dabei.«

Kim überlegte kurz. Gorgs Ortskenntnis würde ihm von Nutzen sein, und seine hünenhafte Gestalt mochte auch eine versprengte Schar schwarzer Reiter einschüchtern. »Warum nicht?« sagte er. Er bückte sich, hob Helm und Schwert auf und pfiff sein Pferd herbei. Der Rappe kam gehorsam angetrabt. Seine Nüstern blähten sich mißtrauisch, als er den Riesen witterte. Seine Ohren zuckten.

»Schwarz ist Eure Lieblingsfarbe, wie?« brummte Gorg.

Kim antwortete nicht darauf. Der Riese zuckte mit den Schultern und begann mit weit ausgreifenden Schritten in den Wald zu marschieren. Kim spornte sein Pferd an, ihm zu folgen. Er hatte es aufgegeben, sich zu wundern. Seit seiner Ankunft in Märchenmond hatte er bereits so viel Absonderliches erlebt, daß es ihn fast schon erstaunt hätte, einen ganz normalen Menschen zu treffen.

Gorg stampfte vor ihm her, sah sich immer wieder nach ihm um und brach mit seinen breiten Schultern eine Bresche, durch die bequem drei Reiter hätten hindurchreiten können. Der Lärm, den er dabei verursachte, mußte kilometerweit zu hören sein, aber darüber schien sich Gorg überhaupt keine Sorgen zu machen. Genaugenommen paßte dieses Verhalten nicht so recht zu seiner angeblichen Feigheit.

»Wo führst du mich eigentlich hin?« fragte Kim, nachdem sie eine gute halbe Stunde quer durch den Wald marschiert waren. Ihm war aufgefallen, daß Gorg von der westlichen Richtung abgewichen war und sie sich jetzt fast parallel zum Schattengebirge bewegten.

Gorg drehte sich im Gehen um und zauberte eine Grimasse auf sein Gesicht, die wohl ein beruhigendes Lächeln bedeuten sollte. »Ins Tal, Kim«, grollte er. »Vertraut mir, ich kenne den Weg.«

Bis zum Mittag marschierte Gorg unbeirrt nach Süden. Als die Sonne am höchsten stand, verkündete er lautstark, daß es Zeit für ein Schläfchen sei, und ohne etwaige Einwände abzuwarten, hatte er sich schon unter einen Baum gelegt, die Hände über dem Bauch gefaltet und zu schnarchen begonnen.

Kim stieg ergeben vom Pferd, holte seinen Proviantbeutel hervor und aß ohne rechten Appetit.

Gorg schnupperte. Sein linkes Augenlid hob sich träge. Es war unschwer zu erkennen, daß ihm das Wasser im Mund zusammenlief.

»Hast du Hunger?« fragte Kim.

Gorg öffnete nun auch das zweite Auge, setzte sich halb auf und nickte begeistert. Kim reichte ihm den Beutel hinüber. »Bedien dich«, sagte er.

Gleich darauf bereute er es schon. Aber zu spät. Gorg zog den Beutel auf, legte den Kopf in den Nacken und schüttete sich den ganzen Inhalt auf einmal in den Mund.

»Nicht schlecht«, sagte er kauend. »Ihr versteht zu leben, Kim, das muß man Euch lassen.« Er rülpste laut und strahlte über das ganze Gesicht. »Ein bißchen wenig zum Sattwerden, aber als Zwischenmahlzeit nicht zu verachten«, lobte er. »Es schmeckt nach der Küche von Frau Tak.«

»Richtig«, sagte Kim überrascht. »Du kennst die Dachsfamilie?«

»Wer kennt sie nicht? Es sind nette Leute. Doch. Durchaus nette...« Er hielt mitten im Satz inne, hob ruckartig den Kopf und lauschte mit geschlossenen Augen.

»Was ist?« fragte Kim. »Hörst du etwas?«

»Ein Bär!« sagte Gorg erschrocken. Mit einem Satz war er auf den Füßen, griff nach seiner Keule und wandte sich zur Flucht. »Ein Bär!« heulte er. »Rettet Euch, Herr, ein Bär!« Kim sprang ebenfalls auf und wollte zu seinem Pferd, aber zu spät. Ein riesiger, zottiger Schatten tauchte zwischen den Büschen auf, fegte ihn mit einem Prankenhieb zur Seite und stieß ein zorniges Brummen aus. Kim segelte ein paar Meter weit durch die Luft und landete unsanft auf dem Rücken. Er schrie vor Schmerz und Überraschung auf, sprang schnell auf die Füße und zerrte sein Schwert hervor. Der Bär brummte wieder, richtete sich auf die Hinterbeine auf und kam mit wiegenden Schritten auf seinen winzigen Gegner zu. Kim schnappte nach Luft. Er hatte schon große Bären gesehen, aber dieser hier schien der Urgroßvater sämtlicher Grizzlys zu sein. Es war ein altes, kampferprobtes Tier. Sein zottiges braunes Fell war von grauen und weißen Strähnen durchzogen, sein rechtes Ohr fehlte, und an der Stelle seines rechten Auges befand sich eine vernarbte, hornige Fläche.

Kim schwang verzweifelt seine Waffe. Der Bär brummte, schlug ihm das Schwert wie ein Spielzeug aus der Hand und warf ihn wieder zu Boden. Eine riesige, krallenbewehrte Pranke legte sich auf seine Brust und hielt ihn nieder.

Kim strampelte mit den Beinen, trat und schlug um sich, aber der Bär schien die Treffer gar nicht zu spüren. Sein gewaltiger Rachen klaffte auf und gewährte Kim einen Blick auf zwei Reihen fingerlanger spitzer Fangzähne. Das einzige Auge funkelte ihn in stummer Wut an.

Aber er biß nicht zu.

Sein Rachen schloß sich, und dann verbrachte er endlose Sekunden damit, Kim von oben bis unten zu beschnüffeln, ohne dabei die Pranke von Kims Brust zu nehmen.

»Das ist seltsam«, brummte er in tiefem, grollendem Baß. »Du siehst aus wie ein Schwarzer, aber du riechst anders. Soll ich dich nun fressen oder nicht?«

Kim ächzte. Die schwere Pranke auf seiner Brust schnürte ihm die Luft ab, und seine Stimme klang seltsam schrill und zitternd, als er sagte: »Ich bin kein schwarzer Ritter.«

»Möglich«, brummte der Bär. »Aber einer von uns bist du auch nicht. Außerdem«, fügte er grimmig hinzu, »trägst du die Kleider der Schwarzen. Vielleicht sollte ich dich doch fressen.«

»Ich schmecke nicht«, krächzte Kim. »Außerdem ist an mir nicht viel dran, und ehe du die Rüstung geknackt hast, hast du dir längst einen saftigen Braten gefangen.«

Der Bär wiegte den Schädel und schien eine Zeitlang ernsthaft über Kims Worte nachzudenken.

»Ach was«, brummte er dann. »Das bißchen Blech. Ich denke, ich fresse dich doch.« Er klappte den Rachen auf und machte Anstalten, seine Drohung wahr zu machen. Aber in diesem Augenblick teilten sich die Büsche hinter ihm, und Gorg warf sich mit weit ausgebreiteten Armen und wütendem Gebrüll auf seinen Rücken.

Der Bär knurrte unwillig, ließ von Kim ab und versuchte, sein Opfer auf Bärenart von sich abzuschütteln. Aber Gorg klammerte sich mit Armen und Beinen an ihm fest, warf sich herum und riß den Bären mit einer gewaltigen Kraftanstrengung von den Füßen. Aneinandergeklammert kollerten sie über den Waldboden.

Der Bär schien nun ernsthaft wütend zu werden. Er sprang auf, schleuderte Gorg von sich und stellte sich auf die Hinterbeine. Der Riese ballte die Fäuste, duckte sich unter den zuschlagenden Tatzen weg und versetzte dem Bären einen Nasenstüber, der ausgereicht hätte, einen Ochsen zu fällen. Der Bär schien ihn nicht einmal zu spüren. Er packte Gorg, hob ihn wie ein Spielzeug hoch und schleuderte ihn so wuchtig zu Boden, daß ein paar junge Bäume durch den Aufprall entwurzelt wurden. Gorg trat nach dem Bären, sprang auf und rammte ihm die Schulter in den Bauch. Der Bär wankte zurück und ging unter einem mächtigen Fausthieb des Riesen zu Boden.

»Laß meine Freunde in Ruhe«, keuchte Gorg. »Ich habe nichts dagegen, wenn du in meinem Gebiet wilderst, aber streiche bitte meine Freunde von deiner Speisekarte, ja?«

»Dein Revier?« empörte sich der Bär. »Du weißt wohl nicht, wo du bist, du Tölpel. Du bist in meinem Revier, schon seit Stunden. Und wieso Freunde? Seit wann«, fügte er mit einem Seitenblick auf Kim hinzu, »hast du Schwarze zu Freunden?«

»Er ist kein schwarzer Ritter«, sagte Gorg nun etwas gedämpfter. »Er sieht nur so aus.«

»So. Dann sieht er nicht gut aus. Sein Glück, daß die Schwarzen nicht schmecken. Sonst hätte ich gar nicht lange gefragt.«

»Ich... äh... nehme an, daß ihr euch kennt«, sagte Kim, der die Szene mit zunehmender Verwunderung beobachtet hatte, unsicher.

Gorg wandte den Kopf, nickte und drehte sich dann wieder dem Bären zu. »Laß ihn in Ruhe, Kelhim«, sagte er drohend. »Wenn du meinen Freunden etwas tust, schlage ich dir den Schädel ein.«

»Ha!« machte Kelhim. »Wer hier wem den Schädel einschlägt, wird sich erst noch zeigen!« Er sprang auf und breitete drohend die Arme aus, um die Frage gleich an Ort und Stelle zu entscheiden. Aber Kim war mit einem Satz ebenfalls auf die Füße gekommen und schob sich nun zwischen die beiden seltsamen Kampfhähne.

»Bitte«, sagte er. »Vielleicht sollten wir erst miteinander reden, ehe wir uns prügeln.«

Der Bär legte den Kopf auf die Seite und blinzelte.

»Mut hat dein winziger Freund ja«, sagte er zu Gorg gewandt. »Wesentlich mehr Mut als du, wenn ich mir die Bemerkung gestatten darf.«

Gorg verzog das Gesicht. »Nein, darfst du nicht. Aber egal jetzt«, sagte er. »Laß ihn in Ruhe.«

»Na ja«, brummte Kelhim. »Ich werde dem Winzling schon nichts zuleide tun. Jedenfalls im Moment nicht.«

Erleichtert sah Kim, wie der Bär sich umwandte, ein paar Schritte davontrottete und sich dann gemächlich niederließ.

»Äh... vielleicht«, sagte Kim zögernd zu Gorg, »wäre es nützlich, wenn du uns vorstellst.«

Gorg zuckte mißmutig die Achseln. »Da gibt es nicht viel vorzustellen«, sagte er. »Das ist Kelhim. Ein Bär, wie du siehst. Und der ungehobeltste Kerl, der mir je untergekommen ist. Frißt glatt die Freunde seiner Freunde, wenn man ihn läßt. Er hat überhaupt keine Manieren.«

Kelhim wackelte zornig mit dem Kopf. »Vielleicht fresse ich deinen winzigen Freund doch noch«, knurrte er. »Nur um dich zu ärgern. Und dich gleich dazu.«

Gorg reckte kampflustig das Kinn. »Versuch's doch«, knirschte er. »Versuch's doch.«

Kim seufzte. »Und ihr wollt Freunde sein?«

»Freunde?« heulte Kelhim auf. »Der da - und mein Freund? Eher such ich mir meine Freunde auf Burg Morgon, ehe ich mich mit dem da befreunde. Geh aus dem Weg, Winzling, damit ich diesem Burschen Manieren beibringen kann.«

Kim riß jetzt endgültig die Geduld. Gorg ballte die Fäuste, aber Kim schlug ihm zornig auf die Hand, stapfte dann auf den Bären zu und stieß ihm den Zeigefinger vor die Brust; er mußte sich zu diesem Zweck auf die Zehenspitzen stellen. »Jetzt hört mir mal zu«, sagte er, »alle beide. Der Wald steckt voller Feinde. Überall lauern schwarze Reiter, und wenn ihr unbedingt wollt, daß sie uns entdecken und niedermachen, dann brüllt euch ruhig weiter an. Aber erlaubt, daß ich währenddessen meiner Wege geh. Ich habe wirklich Besseres zu tun!« Er machte auf dem Absatz kehrt, ging zu seinem Pferd und griff nach dem Sattelknauf.

Eine schwere Hand legte sich auf seine Schulter. Kim hob den Kopf und schaute in Gorgs grinsendes Gesicht.

»Bleib«, bat der Riese.

»Aber nur, wenn ihr versprecht, vernünftig zu sein.«

»Ich bin vernünftig«, rief Kelhim. »Aber der da...«

»Schon gut, schon gut!« brüllte Kim. »Ich hab's begriffen. Ihr seid beide vernünftig.« Er schwang sich in den Sattel, um wenigstens ungefähr auf gleicher Höhe mit den beiden zu sein, sah abwechselnd den Riesen und den Bären an und schüttelte mißbilligend den Kopf. »Sind hier alle so?« fragte er. »Wenn ja, wundert es mich nicht, daß Boraas so leichtes Spiel mit euch hat.«

»Boraas und leichtes Spiel?« heulte Kelhim. »Warte, bis ich ihn zwischen die Pranken...«

»Pränkchen«, schränkte Gorg ein.

»Zwischen die Pranken bekomme«, fuhr der Bär fort.

»Nichts wirst du«, sagte Gorg. »Weil du gar nicht erst an ihn herankommst. Dazu bräucht man nämlich Köpfchen, weißt du...«

Kim schloß die Augen und zählte in Gedanken bis fünfzehn. »Von mir aus«, sagte er resignierend, »könnt ihr euch weiterstreiten bis zum Jüngsten Tag. Sagt mir, wohin ich reiten muß, und ich lasse euch in Frieden.«

Kelhim blinzelte, als sähe er Kim das erste Mal. »Dort entlang«, brummte er und deutete mit der Tatze hinter sich. »Aber wir begleiten dich. Allein ist es zu gefährlich.«

Kim zog die Augenbrauen hoch. »Und du glaubst, zusammen mit euch beiden wäre es nicht gefährlich?«

»Zusammen mit dem da«, antwortete Kelhim mit einer Geste auf den Riesen, »sicher. Deswegen komme ich ja mit.«

»Das ist nett«, stöhnte Kim. »Das ist wirklich nett. Da entlang hast du gesagt?« Ohne ein weiteres Wort ritt er an Kelhim und dem Riesen vorbei.

Es dauerte nicht lange, und die beiden sonderbaren Freunde hatten ihn eingeholt.

»He«, brummte Gorg, »du darfst das nicht ernst nehmen. Kelhim und ich zanken uns oft, aber wir meinen's nicht böse.«

»Ach nein?« seufzte Kim.

Der Nachmittag schritt dahin. Sie zogen weiter nach Süden, und Gorg und Kelhim stritten ununterbrochen. Schließlich gelangten sie an eine Weggabelung, und der Riese deutete nach links, ins Tal hinab.

»Dort hinunter«, sagte er. »Wenn wir Glück haben, stoßen wir noch vor dem Dunkelwerden auf die Hauptstraße.«

»Nichts da«, brummte Kelhim. »Die Sonne geht bald unter, und wir sollten sehen, daß wir bis dahin meine Höhle erreicht haben. Ich schlafe nicht gern unter freiem Himmel.«

»Deine Höhle?« Gorgs linke Augenbraue rutschte ein Stück nach oben. »Wieso deine Höhle?«

»Du kannst ja weitergehen, bis du vor Müdigkeit umfällst«, meinte Kelhim gleichmütig. »Wir beide gehen jedenfalls jetzt in meine Höhle und übernachten dort.« Er nickte zur Bekräftigung, richtete sich auf die Hinterbeine auf und zog Kim am Arm nach rechts. Der Riese streckte gleichzeitig die Hand aus, ergriff Kims linken Arm und zog nach links.

»Der Bursche denkt doch nur ans Schlafen«, schimpfte Gorg. »Wir müssen weiter. Nur noch den Hügel hinunter, und wir sind auf der Hauptstraße.«

Kim schrie entsetzt auf, als die beiden Riesen gleichzeitig anfingen, ihn in die jeweils entgegengesetzte Richtung zu zerren.

»Hört sofort auf!« rief er. »Sofort!«

Kelhim und Gorg blieben verdutzt stehen. Kim strampelte mit den Beinen und erreichte damit nur, daß sein Pferd unter ihm davonsprang und er hilflos zwischen den beiden Riesen baumelte.

»Loslassen!« brüllte er. »Laßt mich sofort los!«

Die beiden seltsamen Weggefährten gehorchten, und Kim landete aus fast zwei Meter Höhe unsanft auf dem Hosenboden.

»Jetzt reicht es aber«, knirschte er, als er wieder zu Atem gekommen war. »Jetzt reicht es endgültig!« Er stand auf, rieb sich das Hinterteil und funkelte die beiden wütend an.

»Wo ist deine verdammte Höhle?« brüllte er.

Kelhim deutete verlegen mit der Tatze über die Schulter. »Dort entlang. Es ist nicht mehr weit.«

»Gut«, nickte Kim. »Gehen wir in Dreiteufels Namen hin und übernachten dort. Und morgen früh zeigt ihr mir den Weg und laßt mich in Frieden ziehen. Ihr seid ja schlimmer als die schwarzen Reiter!«

Kelhim hatte nicht übertrieben. Sie waren nicht länger als eine halbe Stunde gelaufen, als der Wald plötzlich aufhörte. Vor ihnen lag eine glatte, senkrecht aufstrebende Felswand, die von hellen und dunklen Erzadern durchzogen war. Kaum einen Meter über dem Erdboden befand sich ein nahezu kreisrunder Höhleneingang.

»Wir sind da«, erklärte Kelhim überflüssigerweise.

»Seine Höhle«, fügte Gorg mit einer Kopfbewegung auf das Loch hinzu.

Kim verzog die Lippen zu einem säuerlichen Grinsen und sagte: »Ich vermute, dieses Loch da ist Kelhims Höhle...« Gorg nickte begeistert. Der ironische Unterton in Kims Stimme schien ihm entgangen zu sein. »Wir werden hier übernachten«, sagte er, »nach einem ausgiebigen Abendessen, versteht sich. Und morgen früh begleiten wir dich ins Tal.« Er grinste und fügte mit Verschwörermiene hinzu: »Die Höhle hat einen zweiten Ausgang, auf der anderen Seite des Berges. Wir sparen eine Menge Zeit, wenn wir durch den Berg hindurch statt um ihn herum gehen.«

Kelhim rollte verwundert die Augen. »Dann wolltest du sowieso hierher?«

»Klar doch«, sagte Gorg ungerührt.

Kim ahnte, was nun kommen würde.

Er sollte recht behalten.

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