III

Obwohl er den Beschleunigungshebel nur um eine Winzigkeit nach vorne geschoben hatte, schien die Stadt regelrecht unter ihm wegzustürzen. In weniger als einer halben Minute schrumpfte sie zuerst zu einem flimmernden Lichtermeer und dann zu einem trüben Fleck zusammen, der schließlich von der nachdrängenden Dunkelheit der Nacht verschluckt wurde. Kim bewegte vorsichtig den Steuerhebel, legte die Maschine auf die Seite und flog in einer weiten Schleife nach Norden. Der Fluß tauchte unter ihm auf, ein dünnes, schwarzes Band, stellenweise von treibenden grauen Wolken überdeckt, das sich in eigenwilligen Schlangenlinien dem Meer entgegenwand. Kim drückte die Viper etwas tiefer, schnitt mit den messerscharf auslaufenden Flügelspitzen eine tiefhängende Wolke entzwei und beschleunigte vorsichtig weiter. Die Maschine vibrierte. Das Land unten wurde zu einem verschwommenen Einerlei verschiedener Grautöne. Helle Lichtflecke huschten mit phantastischer Geschwindigkeit unter ihm vorbei, Städte und Dörfer, und dann, kaum drei Minuten nach dem Start, die Küste.

Der Himmel über dem Meer war wolkenlos. Ein trüber Mond schien auf die träge daliegende Wasserwüste hinab, und als Kim sich zur Seite beugte und nach unten sah, konnte er einen winzigen gleißenden Lichtpunkt auf der Wasseroberfläche ausmachen, die Reflexion der sonnenhellen Atomflamme, auf der er ritt.

Eine Insel tauchte unter ihm auf, wuchs zu einer schwarzen, großen Landmasse heran und versank dann wieder in der Nacht. Er drückte den Beschleunigungshebel weiter nach vorn, spürte das Vibrieren der mächtigen Triebwerke und beschleunigte weiter und immer noch weiter. Schließlich flog er so schnell, daß er sehen konnte, wie sich der Mond von seinem Platz löste und am Himmel entlangzuwandern begann.

Auf dem Armaturenbrett blinkte eine rote Warnlampe auf, dann noch eine, und dann setzte ein dünner, summender Warnton ein. Kim warf einen Blick aus dem Fenster und sah, daß die Spitzen der Tragfläche dunkelrot zu glühen begonnen hatten.

Mit einem Seufzer des Bedauerns zog er den Beschleunigungshebel zurück. Die Maschine wurde langsamer. Der Summton verstummte, und nach wenigen Augenblicken erloschen auch die Warnlämpchen. Die Viper war ein ungeheuer schnelles Schiff, aber sie war - auch wenn sie es mit jedem beliebigen Flugzeug aufnehmen konnte - im Grunde für den freien Raum konstruiert worden. Falls Kim die volle Schubkraft der beiden Triebwerke überhaupt jemals entfesseln konnte, dann nur dort. Er flog noch immer mit zigfacher Schallgeschwindigkeit, und wahrscheinlich würde das Meer tief unter ihm unter den Hammerschlägen der dutzendfach durchbrochenen Schallmauer beben. Aber all das war nichts gegen die Kraft, die wirklich in dem schlanken Rumpf steckte.

Kim nahm noch mehr Tempo weg und ging tiefer. Die Viper trudelte ein wenig, aber er fing die Bewegung geschickt mit einer Rolle auf, die ihn nach einem dreifachen Überschlag auf seinen ursprünglichen Kurs zurückbrachte. Plötzlich fühlte er tiefe Verbundenheit zwischen sich und dem Schiff. Sie waren nicht länger zwei verschiedene Wesen, Maschine und Pilot, sondern eine perfekt verschmolzene Einheit.

Das Meer glitt wie eine uferlose Masse aus grauem, geschmolzenem Blei unter ihm hinweg. Er ging noch tiefer, bis er den langgestreckten Schatten der Viper über die Oberfläche hinhuschen sah, zog dann wieder hoch und beschleunigte vorsichtig, jedoch ohne wieder in den Bereich gefährlicher Geschwindigkeiten zu gelangen.

Am Horizont tauchte eine dünne weiße Linie auf, wuchs binnen Sekunden zu einer mächtigen Steilküste aus Eis und Schnee, hinter der sich eine schimmernde Wüste aus Kälte und Eis und gefrorener Luft erstreckte. Kim ging tiefer, drosselte die Geschwindigkeit und ließ den Schatten der Viper langsam, wie einen großen, lautlosen Vogel, über das mondbeschienene Eis hüpfen. Ein winziger weißer, nach Norden trottender Punkt erschien auf dem Eis, wandte den Kopf und blickte dem Phantom verwundert nach. Kim lachte laut auf, grüßte den Eisbären, indem er scheinbar mit den Flügeln wackelte, und beschleunigte wieder. Das Eis wurde zu einer glitzernden Fläche, auf der keine Einzelheiten mehr zu erkennen waren.

Der kleine Magnetkompaß im Armaturenbrett begann zu kreiseln. Die Nadel zitterte, drehte sich einen Moment wie irr um die eigene Achse und schlug dann um hundertachtzig Grad um, als die Viper über den Nordpol jagte und dem Morgen entgegensprang.

Der Tag dämmerte herauf, als Kim die Küste überflog und erneut Kurs auf das offene Meer nahm. Wie in einer phantastischen Zeitrafferaufnahme kletterte die Sonne als kleiner, glühender Ball über den Horizont, wuchs zu einer flammenden Scheibe, deren Licht selbst durch das getönte Glas seines Helmvisiers noch schmerzhaft hell war, stieg jählings am Himmel empor, um dann ebensoschnell wieder hinter dem dahinjagenden Raumschiff zu versinken. Die Nacht brach herein, verging genauso plötzlich wie der Tag und wich einem neuen Morgen, als die Viper die Sonne ein weiteres Mal überholte. Unter ihm lag noch immer Meer, endlos hingestreckt, bar jeder Insel, jeder Unterbrechung und jeder Bewegung. Wieder lief ein ganzer Tag in wenigen Minuten ab. Die Maschine trug Kim weiter und immer weiter nach Süden, weiter, als je ein Mensch gelangt oder ein Gedanke geflogen war.

Dann, als sich der Himmel das dritte Mal mit Dunkelheit und der glitzernden Pracht der Sterne überzog, tauchte am Horizont eine schwarze, schnurgerade Linie über dem Meer auf.

Die Viper wurde langsamer.

Kim blickte verwirrt auf seine Kontrollen und tippte auf den Beschleunigungshebel. Aber diesmal weigerte sich die Maschine, seinen Befehlen zu gehorchen. Sie wurde im Gegenteil immer langsamer und sackte gleichzeitig sanft, aber beständig ab.

Vorsichtig bewegte Kim den Steuerknüppel nach rechts. Die Viper legte sich auf die Seite und begann in eine langgezogene, nach unten geneigte Kurve zu gehen. Kim atmete erleichtert auf. Wenigstens gehorchte die Maschine noch dem Kurs, den er ihr gab.

Er zog wieder hoch, brachte das Schiff auf geraden Kurs zurück und betrachtete neugierig die Landschaft, die tief unter ihm dahinzog. Er flog noch immer zu hoch und zu schnell, um Einzelheiten erkennen zu können, dennoch ließ ihn der Anblick schaudern. Unter ihm waren Felsen. Nackter, glasiger Stein, eine ungeheure Einöde aus Grau und Schatten und immer wieder Grau. Die Welt dort unter ihm schien ungeformt, eine leere Bühne, auf der das Leben noch nicht aufgetreten war, auf der es nicht einmal Erde oder Sand, sondern nur kahles, totes Felsgestein gab. So oder so ähnlich mußte die Erde einst ausgesehen haben, vor vielen Millionen Jahren, lange bevor das erste primitive Leben auf ihrer Oberfläche erschien.

Kim fröstelte. Das dort unten mußte das Reich der Schatten sein, von dem Themistokles erzählt hatte.

Er riß sich gewaltsam von dem schaurigen Anblick los, klappte das Helmvisier hoch und suchte mit zusammengekniffenen Augen den Horizont ab. Irgendwo vor ihm mußten die Schattenberge liegen.

Es dauerte lange, ehe er merkte, daß der schwarze Schatten vor ihm nicht der Horizont - sondern Berge waren!

Kim schrie vor Schreck und Überraschung auf, als ihn die Erkenntnis traf. Seine Augen weiteten sich. Themistokles hatte gesagt, daß die Schattenberge höher als der Mond seien, aber natürlich hatte Kim die Worte des alten Zauberers für eine romantische Übertreibung gehalten.

Er erwachte erst wieder aus seiner Erstarrung, als auf dem Instrumentenbrett vor ihm eine ganze Batterie roter Warnlämpchen zu flackern begann. Hastig richtete er sich auf, griff nach dem Steuerknüppel und zog die spitze Nase der Maschine steil empor. Die Anzeigeninstrumente der Viper begannen verrückt zu spielen, als sie vergeblich versuchten, Höhe, Masse und Ausdehnung dieses Alptraumgebirges zu vermessen. Kim schaltete kurzerhand die Geräte ab und konzentrierte sich voll darauf, den Jäger an der senkrecht emporstrebenden Felswand entlangzusteuern.

Er verlor jedes Zeitgefühl. Vielleicht vergingen nur wenige Augenblicke, vielleicht dauerte es Stunden, ehe endlich, weit über ihm und von schwarzen Wolkenmassen umhüllt, die eisbedeckten Gipfel der Schattenberge auftauchten. Er atmete tief durch. Mit einem letzten, machtvollen Schub der Triebwerke brachte er die Viper über die Gipfel und steuerte langsam wieder in die Waagrechte zurück.

Eine Weile flog er parallel zur Bergkette. Der Fels fiel zu beiden Seiten so tief ab, daß Kim den Boden nicht einmal mehr schemenhaft erkennen konnte. Die Berge schienen direkt aus der Unendlichkeit zu wachsen.

Kim drosselte erneut die Geschwindigkeit, legte die Hände auf das Steuerruder und ließ sie unschlüssig wieder sinken. Er war hier. Er hatte die Schattenberge erreicht und überwunden. Doch damit war er mit seiner Weisheit auch schon am Ende. Themistokles hatte versprochen, hier irgendwo auf ihn zu warten. Aber er hatte nicht gesagt, wo.

Kims Blick fiel auf das Funkgerät. Er seufzte, schüttelte den Kopf und konzentrierte sich wieder auf das allmählich in Monotonie erstarrende Bild der scharfzackigen Berggipfel, die wie bizarre Raubtierzähne aus dem schwarzen Nichts wuchsen. Nein - Themistokles würde sich sicher nicht über Funk melden, um ihm Landeanweisungen zu geben. Wie hatte Themistokles gesagt? »Jeder Mensch muß seinen eigenen Weg gehen. Auch du. Finde ihn. Du kannst es.«

Kim lächelte. Natürlich. Er mußte seinen Weg selbst finden. Themistokles hatte eine letzte, äußerste Sicherheit eingebaut. Nur wer den Weg nach Märchenmond aus eigener Kraft fand, konnte die Gefahren bestehen, die ihn dort erwarten mochten.

Leises Vibrieren der Maschine ließ Kim zusammenzucken. Er sah aus dem Fenster und bemerkte, daß die Nase der Maschine ganz leicht nach rechts abdriftete. Sofort zog er den Steuerknüppel herum und brachte die Viper wieder auf ihren alten Kurs zurück. Aber der sanfte und doch kraftvolle Sog hielt an. Kim konnte die Maschine mit der Schubkraft der Triebwerke weiter auf Kurs halten, doch sowie er den Steuerknüppel losließ, machte sich die unsichtbare Kraft wieder bemerkbar. Und wie er von den Instrumenten ablesen konnte, wurde der Sog beständig stärker.

Minuten verstrichen. Das Dröhnen der Triebwerke kletterte in eine immer höhere Tonlage empor, als das Schiff mehr und mehr Kraft aufwenden mußte, um dem geheimnisvollen Sog zu entgehen. Die Belastung der Hülle nahm allmählich ein gefährliches Ausmaß an, und aus dem sanften Vorwärtsgleiten der Viper wurde ein rüttelnder Galopp.

Schließlich gab er den Kampf auf. Die Viper war ein mächtiges Schiff, aber den Kräften, die da auf sie einwirkten, hatte sie nichts entgegenzusetzen. Er würde sich und das Schiff in Gefahr bringen, wenn er sich weiter wehrte. Und die Vorstellung, über den tödlichen Graten dieses apokalyptischen Gebirges Schiffbruch zu erleiden, gefiel Kim gar nicht.

Er nahm die Hände vom Steuerknüppel, ließ sich zurücksinken und verfolgte mit klopfendem Herzen, wie der unsichtbare Sog die Maschine in eine enge Kurve und dann an der Flanke des Gebirges hinunterzwang. Die Triebwerke heulten auf. Irgend etwas schlug krachend gegen den Plastikstahl der Kanzel und hinterließ einen langen, häßlichen Kratzer auf dem durchsichtigen Material. Die Viper jagte minutenlang fast senkrecht in die Tiefe, ging dann in einen flachen Sinkflug über und drosselte ihre Geschwindigkeit. Eine steinige Ebene, von großen braunen und beigefarbenen Mustern durchzogen, tauchte unter ihm auf, wurde von einem still daliegenden Ozean und dann von einem weiteren Gebirge abgelöst, dessen schneebedeckte Gipfel längst nicht diejenigen der Schattenberge erreichten, aber noch immer viel höher als die höchsten Gipfel der Erde sein mußten. Die Viper stieg wieder, segelte in elegantem Bogen über die kahlen Berggipfel hinweg und stieß in das dahinterliegende Tal hinunter.

Und in diesem Moment setzten die Triebwerke aus.

Kim saß einen Herzschlag lang wie gelähmt in seinem Sitz und versuchte das Unfaßliche zu fassen. Nicht nur die Triebwerke, auch die Instrumentenbeleuchtung, die Sauerstoffversorgung, ja, jedes einzelne Instrument, jeder Schalter, jede Leitung an Bord der Viper war tot!

Das Raumschiff schoß, von seinem eigenen Schwung wie ein mächtiger Speer vorwärts getragen, weit in das Tal hinaus, schüttelte sich und begann dann wie ein Stein zu stürzen. Die Welt vor der gekrümmten Kanzel wurde zu einem irren Kaleidoskop aus tanzenden Farben und Umrissen. Die Luft strich pfeifend an der Flanke der Maschine vorbei, und Kim spürte, wie diese mit jeder Sekunde schneller wurde.

Er riß mit einer verzweifelten Bewegung den Steuerknüppel heran und hantierte mit fliegenden Fingern an Höhen- und Seitenruder. Ein dröhnender Schlag traf die Maschine, es krachte und knisterte, als breche Metall, als sich die Landeklappen gegen die Kraft der vorbeijagenden Luft stemmten.

Ein Viperjäger ist im Grunde ein reines Raumschiff. Seine aerodynamische Form und die ungeheure Kraft seiner Triebwerke gestatten es ihm, auch in der Lufthülle eines Planeten zu manövrieren. Aber beim bloßen Gedanken, eine Viper wie ein Segelflugzeug zu fliegen, würden jedem Raumpiloten die Haare zu Berge stehen.

Doch Kim war nicht irgendein Pilot. Er war der beste. Schon während seiner Ausbildung hatte er seine Fluglehrer verblüfft, und die langen, einsamen Jahre im All und die unzähligen gefährlichen Einsätze, bei denen sein Leben und das seiner Kameraden einzig und allein davon abhing, daß er seine Maschine um eine Spur besser beherrschte als seine Gegner, hatte ihn zum besten Viperpiloten werden lassen, den die Flotte jemals besessen hatte.

Jetzt, in diesem Augenblick, als der Boden immer schneller auf ihn zukam und sein Leben vielleicht nur noch nach Sekunden zu rechnen war, wuchs Kim über sich selbst hinaus und wagte es, was noch keiner vor ihm gewagt hatte.

Er arbeitete verzweifelt mit Höhen- und Seitenruder zugleich. Der steile Sturzflug der Viper ging in unkontrolliertes Trudeln über. Die Maschine schlug einen halben Looping, raste einen Moment lang in Rückenlage weiter und näherte sich gefährlich dicht der Felswand. Der graugefleckte Stein füllte plötzlich das Sichtfenster aus, überschlug sich und raste dann weiter auf die hilflos trudelnde Maschine zu.

Kim bekam die Maschine für einen Moment unter Kontrolle. Er warf einen Blick auf die brodelnden Wolkenmassen über seinem Kopf und konzentrierte sich dann wieder auf das Unmögliche, das er schaffen mußte, wenn er überleben wollte. Ein harter Schlag traf die Viper, ließ sie in allen Verbindungen ächzen und drängte sie weiter an die Felswand heran.

Kim begann zu schwitzen. Seine Hände zitterten, und sein Herz klopfte so laut, daß er glaubte, es müsse sogar das Heulen des Sturmes übertönen. Vorsichtig, Millimeter für Millimeter drehte er den Steuerknüppel. Er befand sich nicht einmal mehr eine Meile über dem Boden.

Der Fels näherte sich unbarmherzig, während die Maschine in steilem Winkel dem Boden entgegenschoß.

Das Pfeifen der Luft klang mit einem Mal weniger schrill. Die Maschine bebte, schüttelte sich und sackte für einen kurzen, schrecklichen Moment durch. Dann begann sich die spitze Nase langsam zu heben.

Kim atmete auf. Noch war die Gefahr nicht überstanden, aber er wußte jetzt, daß er eine wenn auch noch so winzige Chance hatte. Wie überall in den Bergen gab es auch hier starke, wechselnde Aufwinde, die dicht an den Felswänden emporstrichen, kräftig genug, einen so schweren Körper wie den der Viper zu tragen. Es war ein alter Trick der Segelflieger, die Steigwinde in den Bergen auszunutzen, und Kim hatte die Chance, die sich ihm bot. blitzschnell erkannt. Natürlich hatte er keine Ahnung gehabt, ob der Trick auch bei einem so schweren Flugzeug wie der Viper funktionieren würde - aber es trennten ihn nur noch wenige Sekunden von dem tödlichen Aufprall, so daß ihm keine Zeit für lange Überlegungen blieb.

Die Viper strich heulend an der Felswand entlang, stieg ein paar hundert Fuß in die Höhe und sackte dann wieder durch, um erneut nach oben zu schießen, als Kim vorsichtig den Steuerknüppel betätigte. Wie ein Stein, der über die Wasseroberfläche hüpft, schoß die Viper in immer größeren Kurven an der Felswand entlang und verlor dabei gleichermaßen an Höhe wie an Geschwindigkeit.

Kim handhabte das Steuer so feinfühlig wie ein Virtuose sein Instrument. Er wußte, daß er nicht zuviel an Geschwindigkeit verlieren durfte, um nicht wie ein Stein in die Tiefe zu stürzen.

Der Steuerknüppel in seinen Händen begann sanft zu beben. Kim spürte, daß der kritische Moment gekommen war. Er riß die Maschine noch einmal in die Höhe, zwang sie in einer weiten Kurve von der Felswand weg und ging in flachen Sinkflug über.

Der Boden schien ihm entgegenzuspringen. Das dunkle Band eines Flusses huschte unter der Maschine weg, dann hatte Kim einen flüchtigen Eindruck kahler, braungrüner Baumkronen, die sich der Viper wie gierige Klauen entgegenstreckten. Etwas kratzte am Rumpf des Schiffes entlang. Die Viper sprang noch einmal in die Höhe und überschlug sich. Ein Flügel brach ab. Irgendwo explodierte etwas, und dann versank die Welt in einem Chaos aus splitterndem Glas, Flammen und berstendem Metall.

Brandgeruch lag in der Luft, als er erwachte. Sein Hals schmerzte, und sein Rücken fühlte sich an, als hätte ihm jemand stundenlang geduldig hineingetreten. Er bewegte sich vorsichtig, hob die Hand an den Hals und zog sie stöhnend wieder zurück. An seinen Fingerspitzen klebte Blut.

»Bleibt liegen, junger Herr«, sagte eine tiefe Stimme hinter ihm. Kim schrak zusammen. Er wollte den Kopf drehen, doch sofort zuckte ein brennender Schmerz durch Hals und Schultern und zwang ihn, bewegungslos liegenzubleiben. Schritte näherten sich, dann beugte sich ein schwarzes, glänzendes Gesicht über ihn.

»Habt Ihr große Schmerzen, junger Herr?« fragte die Stimme wieder.

Kim schüttelte vorsichtig den Kopf. Er wollte antworten, aber alles, was er hervorbrachte, war ein mühsames Krächzen.

Das schwarze Gesicht beugte sich tiefer herab. Der Widerschein des prasselnden Feuers jenseits der Lichtung übergoß es mit blitzenden Lichtreflexen und gab ihm ein bedrohliches Aussehen.

Kim schauderte. Die riesige schwarze Gestalt mit dem seltsam starren Gesicht flößte ihm Furcht ein.

Er biß die Zähne zusammen, stemmte die Ellbogen in den Boden und versuchte sich aufzurichten, aber der Schwarze drückte ihn mit sanfter Gewalt zurück.

»Ihr dürft Euch nicht bewegen, junger Herr. Ihr seid verletzt.« Eine schwarze, behandschuhte Hand machte sich an seinem Hals zu schaffen. Im ersten Moment verspürte Kim ein heftiges Brennen, das aber sofort wieder verschwand und von einem kühlen, wohltuenden Druck abgelöst wurde. Kim betrachtete seinen Retter genauer. In der herrschenden Dunkelheit war der Mann selbst wenig mehr als ein großer schwarzer Schatten gegen den sternklaren Himmel, und das zuckende Licht der Flammen verfremdete das Bild noch mehr. Trotzdem erkannte Kim jetzt, daß er in kein lebendes Gesicht, sondern in eine schwarze Metallmaske blickte, die zu einem stachelbewehrten Helm gehörte. Überhaupt schien der Mann von Kopf bis Fuß in tiefschwarzes, glänzendes Metall gepanzert zu sein. Ein Ritter - ein riesiger schwarzer Ritter, stellte Kim überrascht fest.

»Wer... bist du?« fragte er. Themistokles' Warnung fiel ihm ein. Märchenmond mochte ein phantastisches Land voll großartiger Wunderdinge sein, die noch keines Menschen Auge erblickt hatte. Aber es gab auch Gefahren hier. Ziemlich handfeste Gefahren, wie sein eigenes Schicksal bewies. Der schwarze Ritter richtete sich auf ein Knie auf und betrachtete Kim eine Zeitlang schweigend durch die schmalen Sehschlitze seiner Maske.

»Kart«, sagte er dann. »Mein Name ist Kart, junger Herr. Aber Ihr sollt nicht reden. Es strengt Euch zu sehr an.« Kim runzelte unwillig die Stirn. Ja, er fühlte sich elend, aber er mochte es nicht, daß man ihn wie ein kleines Kind behandelte. Er schob die Hand des Ritters beiseite, stemmte sich hoch und sank gleich darauf wieder zurück, als ihm schwindelig wurde.

»Ich habe Euch gesagt, daß Ihr Euch nicht anstrengen dürft, junge Herr«, sagte Kart mit leisem Tadel. »Ihr seid noch zu schwach. Sorgt Euch nicht. Wir sind bei Euch.«

Kim blinzelte. Vor seinen Augen begannen plötzlich bunte Kreise zu tanzen. »Wieso wir?« fragte er. »Wer... seid ihr überhaupt? Und wie komme ich hierher?«

Kart schüttelte den Kopf. »Viele Fragen auf einmal, junger Herr«, sagte er. »Wir - das sind meine Männer und ich. Wir brachen auf, um Euch willkommen zu heißen.«

Kim hätte am liebsten laut gelacht, wenn er sich nicht so elend gefühlt hätte.

»Ich weiß, daß wir zu spät kamen«, sagte Kart, als hätte er Kims Gedanken gelesen. »Wir sahen Eure Maschine abstürzen, aber wir konnten nichts tun.«

»Ist sie schlimm beschädigt?« fragte Kim.

Kart drehte den Kopf in die Richtung, aus der das flackernde rote Licht und das Prasseln der Flammen kamen. »Seht selbst.« Er bückte sich, schob die Hände unter Kims Achseln und setzte ihn vorsichtig auf.

Die Viper lag etwa fünfzig Meter von ihnen entfernt am Ende einer breiten, versengten Schleifspur. Der Jäger hatte sich wie ein gewaltiges Geschoß in den Boden gegraben, hatte Büsche, Wurzelwerk und kleinere Bäume zerfetzt und war schließlich am Fuße einer riesigen Eiche zerschellt. Der schlanke Rumpf war zusammengestaucht und an vielen Stellen geborsten. Zu beiden Seiten des zertrümmerten Raumschiffes brannte der Wald, und aus dem zerschmetterten Cockpit drang schwarzer Qualm. Kim beobachtete eine Zeitlang die hochgewachsenen schwarzen Gestalten, die vor dem prasselnden Feuer auf und ab liefen und versuchten, den Brand unter Kontrolle zu bekommen. Dann schloß er mit einem lautlosen Seufzer die Augen. Die Viper würde nirgends mehr hinfliegen.

»Ihr hattet Glück im Unglück, junger Herr«, sagte Kart. »Ihr wurdet beim Aufprall aus der Maschine geschleudert.«

»Schönes Glück«, murrte Kim. »Ich hätte mir um ein Haar den Hals gebrochen.« Er warf dem Wrack der Viper einen letzten, bedauernden Blick zu, schüttelte den Kopf und versuchte, sich aus eigener Kraft aufzusetzen. Es ging einigermaßen.

»Ihr seid mir entgegengeritten, sagst du?«

Kart nickte. »Ja. Unser Herr schickt uns, Euch den Weg zu zeigen.«

»Euer Herr?« Kim sah den hünenhaften Ritter fragend an. »Du meinst Themistokles?«

Kart zögerte. Er trat einen Schritt zurück und nickte ruckartig. »Meine Männer und ich werden Euch sicher nach Morgon geleiten.«

»Morgon?«

»Das Schloß unseres Herrn«, antwortete der schwarze Ritter. »Es erwartet Euch. Für Euren Empfang ist alles vorbereitet.«

»Der erste Empfang hat mir gereicht«, entgegnete Kim mit gequältem Lächeln. Er versuchte noch einmal aufzustehen und sank mit einem wimmernden Schmerzenslaut zurück.

»Bleibt liegen, junger Herr«, mahnte Kart. »Ihr dürft nicht laufen.«

»Schon gut, schon gut«, fauchte Kim. »Ich habe es begriffen.« Er umklammerte sein Fußgelenk und biß die Zähne zusammen. »Und hör endlich auf, mich junger Herr zu nennen«, fügte er hinzu. »Ich heiße Kim.«

Kart nickte. Kim glaubte die Augen hinter den schmalen Sehschlitzen der Metallmaske spöttisch aufblitzen zu sehen. »Wie Ihr befehlt... Kim.« Er drehte sich um, rief ein paar Worte in einer dunklen, fremden Sprache und machte eine befehlende Geste. Zwei schwarzgepanzerte Ritter eilten herbei, faßten Kim unter den Armen und hoben ihn wie ein Spielzeug hoch.

»He!« beschwerte sich Kim. »Was soll das?«

»Wir haben einen Wagen für Euch vorbereitet. Ihr könnt nicht reiten. Und wir müssen Morgon vor dem Morgengrauen erreichen.« Kart wandte sich um und ging mit steifen Schritten auf den Waldrand zu. Er bewegte sich nicht wie ein Mensch, sondern wie ein großer, perfekter Roboter, fand Kim.

Die Ritter trugen ihn über die Lichtung in den Wald. Ein gutes Dutzend großer schwarzer Pferde war zwischen den Bäumen angebunden; mächtige Tiere mit schwarzem Sattelzeug und gepanzerten Köpfen. Von den Sätteln hingen Waffen und riesige, dreieckige Schilde. Die Tiere schnaubten unruhig, warfen die Köpfe hin und her und versuchten nach den Reitern zu beißen. Einer der Männer schlug dem zunächststehenden Pferd mit der behandschuhten Hand auf die Nüstern.

Kart deutete auf einen vierrädrigen, hölzernen Karren, der hinter den Pferden abgestellt war.

»Wir konnten leider kein edleres Gefährt für Euch finden«, erklärte er. »Aber dies mag angehen, um Euch nach Morgon zu bringen. Es ist nicht weit.«

Die beiden Ritter luden Kim behutsam auf dem mit Kissen ausgepolsterten Karren ab und entfernten sich auf einen Wink ihres Anführers. Kim rutschte in eine einigermaßen bequeme Lage, stützte den Kopf in die Hand und sah sich mit gemischten Gefühlen um. Dieser Wald, die Ritter mit ihren großen, häßlichen Pferden und die Dunkelheit gefielen ihm nicht. Er war erst wenige Augenblicke hier, aber er spürte bereits, daß Märchenmond anders, ganz anders war, als Themistokles gesagt hatte. Und er hatte das sichere Gefühl, daß dies nicht die einzige unangenehme Überraschung war, die ihn hier erwartete.

Er wandte den Kopf und ließ den Blick an der schwarzen Mauer des Waldes emporwandern. Die Bäume, so groß und kräftig sie auch waren, wirkten auf eigenartige Weise verkrüppelt und krank. Ihre Stämme strebten zehn, fünfzehn Meter weit in die Höhe und gabelten sich dort zu wuchtigen, breit ausladenden Ästen, die Kim an kraftvolle, einwärts gekrümmte Finger erinnerten, und die Schatten zwischen den Bäumen schienen ihm unnatürlich leer und schwarz, gar nicht wie Schatten, sondern wie glatte, konturlose Flächen, als wäre dieser ganze Wald eine Attrappe, die man vor einer undurchdringlichen Wand errichtet hatte.

Die Lichtung begann sich allmählich zu füllen. Kim zählte insgesamt sechzehn der riesigen, in schimmerndes Schwarz gehüllten Gestalten, die nach und nach aus dem Wald auftauchten und zu ihren Pferden gingen. Er schauderte. Etwas an der Art, wie sich die Krieger bewegten, kam ihm seltsam vor; es dauerte eine Weile, bis er merkte, was es war: Sie bewegten sich absolut zielstrebig. Es war nicht einer unter ihnen, der die kleinste überflüssige Bewegung machte - und sei es nur ein Fingerschnippen. Wieder mußte er an Roboter denken, und bei diesem Gedanken lief es ihm kalt den Rücken hinunter.

»Trinkt das«, sagte Kart, »es wird Euch guttun und wieder zu Kräften bringen.« Der schwarze Ritter war an den Wagen herangetreten. Er hielt eine Schale mit einer farblosen, dampfenden Flüssigkeit in Händen.

Kim rümpfte mißtrauisch die Nase. »Was ist das?«

»Etwas, was Euch helfen wird«, antwortete Kart. Er machte eine herrische Bewegung, und Kim griff automatisch nach der Schale und setzte sie an die Lippen, zögerte aber noch, zu trinken.

»Hat Themistokles gesagt, wie es meiner Schwester geht?« fragte er, um Zeit zu gewinnen.

»Davon weiß ich nichts. Ich habe Befehl, Euch nach Morgon zu geleiten, sonst nichts. Unser Herr erwartet dich. Er wird dir alles Nötige mitteilen. Trink jetzt.«

Die letzten Worte hatten scharf und befehlend geklungen, und der unvermittelte Wechsel der Anrede ließ Kim stutzig werden. Er hatte mit einem Mal das Gefühl, daß es besser war, zu tun, was der schwarze Ritter von ihm verlangte. Vorsichtig kostete er die Flüssigkeit. Sie schmeckte würzig und angenehm, ein bißchen wie Hühnersuppe, aber mit einem fremdartigen, rauchigen Beigeschmack, den Kim nicht identifizieren konnte. Er trank mit langsamen, kleinen Schlucken, setzte die Schale ab, um Luft zu holen, und leerte sie dann mit einem Zug.

»Danke«, sagte er. »Das war nicht schlecht.«

Kart nahm ihm die Schüssel aus den Händen und warf sie achtlos hinter sich. »Wenn du bereit bist, brechen wir auf«, sagte er. Seine Stimme hatte jede Spur von Freundlichkeit verloren und klang jetzt schneidend und kalt.

Kim starrte in das ausdruckslose Metallvisier des schwarzen Riesen. Angst begann in ihm hochzukriechen. Seine Hand glitt automatisch zum Gürtel und tastete nach der Laserwaffe. Erleichtert atmete er auf, als er den Kolben des Strahlers unter den Fingern fühlte. Er wußte nicht, was hier nicht stimmte, was ihn bedrohte. Aber diese schwarzen Ritter würden ihr blaues Wunder erleben, wenn sie glaubten, einem wehrlosen Opfer gegenüberzustehen.

Karts Blick war seiner Bewegung gefolgt. Einen Atemzug lang stand er bewegungslos da, trat dann mit einem schnellen Schritt zurück und sah Kim durchdringend an. Kim erwartete, daß er die Waffe von ihm fordern würde. Aber der schwarze Ritter begnügte sich damit, zu seinem Pferd zurückzugehen und sich in den Sattel zu schwingen.

Ein kurzer Befehl, und sie brachen auf. Die Pferde formierten sich zu zwei Doppelreihen, die den Wagen in die Mitte nahmen. Sie holperten ein Stück durch den Wald, und Kim biß jedesmal schmerzlich die Zähne zusammen, wenn der Wagen über eine Unebenheit, ein Loch oder querliegende Wurzeln und Äste rollte und die Stöße fast ungemildert auf seinen Körper übertrug. Dann wichen die Bäume zur Seite, und die Kolonne bog in einen schmalen, morastigen Weg ein.

Lähmende Müdigkeit hatte Kim erfaßt. Hinter seiner Stirn summte es wie von einem Bienenschwarm, und seine Glieder fühlten sich bleischwer an. Nebel lag wie ein knöcheltiefer grauer Teppich über dem Weg, und aus dem Wald schienen unsichtbare dunkle Finger nach ihm zu greifen. Kim schüttelte benommen den Kopf und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Aber die Müdigkeit ließ sich nicht wegwischen, im Gegenteil. Ein Gefühl, als hätte er Fieber, breitete sich in seinen Schläfen aus, und das dumpfe Trommeln der Pferdehufe wurde von hallenden Echos begleitet.

Kim stöhnte. Seine Kehle war wie ausgetrocknet und fühlte sich pelzig an. Er hatte Durst, aber er war zu schwach, einen der Ritter um einen Schluck Wasser zu bitten. Ein bleicher Halbmond schien auf das Land herunter, und irgendwo schrie ein Nachtvogel; ein hoher, krächzender Schrei, der Kim einen eisigen Schauer über den Rücken jagte.

Der Wald verschwamm vor seinen Augen. Bäume, Zweige und Unterholz, ja, selbst die Schatten zwischen den knorrigen Stämmen überzogen sich mit einem nebeligen Schleier. Kim warf sich hin und her. Er stöhnte und versuchte die Hände zu bewegen, aber es ging nicht. Seine Glieder schienen von unsichtbaren Stricken gefesselt zu sein. Der Wald trat zurück, machte einer felsigen, lebensfeindlichen Einöde Platz, die von böigem Wind und eisiger Kälte erfüllt war. Dann war ihm, als ob es bergauf ginge. Der Wagen knarrte, und manchmal stieß etwas hart gegen den Boden. Einer der schwarzen Ritter drehte sich halb im Sattel herum und starrte Kim durch die schmalen Schlitze seines Visiers an. Kim bekam eine Gänsehaut. Die Augen des Ritters waren schwarz; vollkommen. Keine Pupille, keine Iris, kein Augapfel war zu sehen, nur zwei schwarze, grundlose Tümpel. Und doch hatten sie eine hypnotische Kraft, die es Kim unmöglich machte, dem blicklosen Gesicht auszuweichen.

Kim verfiel in fiebrigen, von Schüttelfrost und Alpträumen geplagten Halbschlaf. Der Wagen quälte sich holpernd und quietschend über unebenen Boden und Geröll. Kim vermeinte durch eine bizarre Landschaft aus brodelnden Sümpfen, Steinwüsten und windumtosten, felsigen Abhängen zu fahren. Nach einiger Zeit wurde die Luft merklich dünner, und gleichzeitig wurde es noch kälter. Der Bodennebel war nun so dicht, daß der Wagen und seine schwarzen Begleiter auf einer unendlichen weißen Wolkenfläche dahinzugleiten schienen.

Das Fieber sank erst, als die Sonne aufging. Das wattige Schwarz der Nacht wich allmählich einer grauen, von unsicheren Schatten erfüllten Dämmerung, und der Nebel kroch langsam und widerwillig zurück in die Löcher, aus denen er gekommen war.

Kart zügelte sein Pferd, lenkte es vom Weg herunter und wartete, bis die Reiter an ihm vorübergezogen waren.

»Wir sind am Ziel«, sagte er. »Burg Morgon.«

Kim hob müde den Kopf und folgte mit dem Blick Karts ausgestrecktem Arm. Die kleine Kolonne bewegte sich einen steilen, gewundenen Bergpfad hinauf. Der Fels wirkte glatt wie Glas, und zwischen den zyklopischen Trümmern, die rechts und links des Weges lagen, wuchs kein Halm. Im Tal unten dämmerte bereits der Morgen, aber hier oben herrschte noch immer diesiges Grau, als weigere sich der Tag, in diese Enklave der Nacht vorzudringen.

Und am Ende des Pfades, schwarz und drohend, ragte die Burg.

Kims Finger krampften sich um den Wagenrand. Die Burg war riesig. Ihre schwarzen, senkrecht abfallenden Wände schienen mit der Nacht zu verschmelzen. Es gab keine Fenster oder Balkone, nur ein riesiges, halbrundes Tor, aus dessen oberem Ende die rostigen Zähne eines Fallgitters hervorbleckten, und daneben eine Reihe schmaler, nach oben spitz zulaufender Schießscharten.

Morgon... der Name hatte in Kims Ohren einen düsteren, bedrohlichen Klang angenommen. Kim schloß die Augen und versuchte sich Themistokles vorzustellen. Aber das Bild des gütigen Alten schien einfach nicht zu dieser finster dräuenden Burg dort oben zu passen.

»Das ist...«

»Morgon«, bestätigte Kart. Die Ungeduld in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Die Burg unseres Herrn.«

»Aber es ist... alles so... so anders, als ich es mir vorgestellt habe«, sagte Kim.

Kart nickte. »Natürlich. Aber wir müssen uns schützen. Du wirst die Schönheit unseres Landes noch kennenlernen. Morgon jedoch ist anders.« Er zögerte einen Moment, machte mit der Rechten eine unbestimmte Geste und fuhr dann fort. »Es ist unser Schutz, verstehst du? Unsere letzte Bastion. Ein Ort, der sicher ist vor unseren Feinden. Gäbe es Morgon nicht, wären wir hilflos.«

Kim schwieg betroffen. Was Kart gesagt hatte, klang logisch. Themistokles hatte davon gesprochen, daß es auch böse Mächte in diesem Land gab, vor denen sie sich schützen mußten. Vielleicht hatte der schwarze Ritter recht. Vielleicht war Morgon der Tribut, den Märchenmond dem Bösen zahlen mußte. Eine Burg, die der Verteidigung und dem Kampf diente und nicht schön sein konnte. Dennoch wuchs seine Angst, je mehr sie sich dem Burgtor näherten.

Er setzte sich auf und versuchte durch den Torbogen ins Innere der Burg zu schauen. Aber außer schwarzen Schatten und nebelhaften Umrissen konnte er nichts erkennen.

Der Wagen rollte unter dem Fallgitter hindurch. Kim stellte fest, daß die Mauern mindestens zehn Meter dick waren. Kart hatte nicht übertrieben - Morgon war wirklich ein Bollwerk. Er konnte sich keine Kraft vorstellen, der diese Mauern nicht standhalten würden.

Die Ritter zügelten ihre Pferde. Der Wagen hielt an. Kart schwang sich aus dem Sattel, trat an den Wagen heran und streckte Kim die Hand entgegen. »Komm. Unser Herr erwartet dich.«

Er öffnete eine niedrige Tür aus eisenbeschlagenen Bohlen und trat wortlos beiseite.

Hinter der Tür lag ein schmaler, niedriger Gang, der von brennenden Fackeln in ein Gewoge aus Licht und Schatten getaucht wurde. Kart legte Kim die Hand auf die Schulter und schob ihn vor sich her in den Gang hinein. Kim stolperte ein paar Schritte über den Steinboden, prallte gegen die Wand und fuhr aufgebracht herum. Der schwarze Ritter zog die Tür hinter sich zu, legte den schweren Riegel vor und wies den Gang hinunter.

»Geh!«

Kim zögerte. Kart war mit einem Schritt neben ihm. Er mußte sich bücken, um nicht mit dem Helm gegen die gewölbte Decke zu stoßen, dennoch überragte er Kim noch um fast einen Meter.

Kims Hand strich über den Kolben der Laserwaffe.

Nein - das hatte keinen Sinn. Vielleicht hatte Kart Grund für sein Benehmen. Vielleicht war in der Zwischenzeit etwas geschehen, was sein Verhalten rechtfertigte.

Kim gab den Widerstand auf und lenkte seine Schritte zwischen den steinernen Wänden den Gang hinunter. Kart folgte ihm in geringer Entfernung.

Nach einer Weile tauchte eine steile Treppe mit schmalen, ausgetretenen Stufen vor ihnen auf. Sie stiegen empor, traten durch eine Tür und standen in einer riesigen leeren Halle.

»Warte hier«, befahl Kart. »Ich werde dich unserem Herrn melden.« Ehe Kim antworten konnte, war Kart durch eine Tür in der gegenüberliegenden Wand verschwunden.

Kim blickte ihm verwundert nach. Seine anfängliche Furcht schlug in Zorn um. Themistokles würde ihm einige wirklich unangenehme Fragen beantworten müssen!

Wütend starrte er die Tür an, hinter der der schwarze Ritter verschwunden war. Er spielte kurz mit dem Gedanken, Karts Befehl zu mißachten und ihm zu folgen, ließ den Gedanken aber gleich wieder fallen. Wer weiß, ob Themistokles tatsächlich hinter dieser Tür wartete. Und Kim hatte keine Lust, sich in den düsteren Gängen der Burg zu verirren. Neugierig begann er sich in der Halle umzusehen.

Viel gab es nicht zu entdecken. Der Boden war mit schwarzen, spiegelnden Kacheln ausgelegt, die sich unter Kims Schuhen wie Glas anfühlten und ihm sein eigenes, verzerrtes Spiegelbild zeigten.

Kim erschrak, als er sich sah. Seine Uniform war zerrissen und mit Schmutz und Blut durchtränkt. Sein Gesicht wirkte hohlwangig und müde, und um seinen Hals lag ein enger, blutiger Verband. Kim hob die Hand, tastete über den Stoff und wunderte sich, daß er keinen Schmerz spürte. Kart hatte irgend etwas mit der Wunde gemacht, daran erinnerte er sich. Dann hatte er ihm dieses Zeug zu trinken gegeben, und danach waren das Fieber und die Alpträume gekommen. Aber die Wunde schien verheilt zu sein.

Kim ließ sich auf die Knie nieder, löste den Verband und befühlte mit den Fingern seine Haut. Eine dünne, kaum noch spürbare Narbe zog sich über die linke Seite des Halses fast bis zum Ohr hinauf.

Kim stand auf. Er warf den Verband in eine Ecke und leistete Kart in Gedanken Abbitte. Eine Nacht Fieber und Alpträume waren ein geringer Preis für eine so schnelle Heilung.

Ein heller Trompetenton wehte durch die Halle. Kim drehte sich überrascht um und hielt nach der Quelle des Geräusches Ausschau. Die Wände der Halle schienen aus dem gleichen lichtschluckenden schwarzen Stein wie die Außenmauern Morgons zu bestehen, aber an einer Seite befand sich ein hohes, schmales Fenster, durch das man die gegenüberliegenden Burgmauern erkennen konnte. Kim ging hin, stützte sich auf den Fenstersims und schaute hinaus. Das Fenster blickte auf einen weitläufigen Innenhof hinunter. Der Himmel war noch immer dunkel, aber das steinerne Viereck dort unten wurde von einer Unzahl schwelender Fackeln und glühender Kohlenbecken fast taghell erleuchtet. Eine Abteilung schwarzgepanzerter Ritter marschierte über den Hof und begann zu exerzieren. Eine dunkle Stimme brüllte Befehle, dann erschienen noch mehr Ritter, mehr und immer mehr, bis der Hof schwarz von großen, gepanzerten Gestalten war.

»Du kannst jetzt kommen.«

Kim fuhr erschrocken herum. Kart stand wenige Schritte hinter ihm. Sein Blick wanderte zwischen Kim und dem Fenster hin und her. Es war unmöglich zu erkennen, was er dachte.

»Der Herr erwartet dich«, sagte Kart.

Kim ging an dem schwarzen Ritter vorbei zur Tür. Hinter dieser Tür war wieder ein Gang, eine weitere Treppe, dann eine kleine Kammer, deren ganze Stirnseite von einem schweren Vorhang aus schwarzem Samt eingenommen wurde. Kart schlug den Vorhang zurück und machte eine einladende Handbewegung.

Kim trat in den dahinterliegenden Saal.

Der Raum war gigantisch. Hohe, glatte schwarze Säulen trugen die gewölbte Decke. An den Wänden hingen dunkle Vorhänge und Waffen, und vor jeder Säule stand bewegungslos und stumm ein schwarzer Ritter. Der ganze Raum schien von Kälte und Ablehnung erfüllt zu sein.

All das nahm Kim jedoch nur am Rande wahr.

Sein Blick wurde wie hypnotisch von dem mächtigen schwarzen Thron angezogen, der an der Rückwand des Saales stand. Eine Anzahl hoher, wuchtiger Stufen, deren Kanten schief und verzerrt wirkten, als wären sie nach den Regeln einer dem Menschen fremden Geometrie errichtet, führten zu ihm empor. Und dort oben...

Kim näherte sich dem Thron bis auf wenige Schritte. Dann blieb er stehen, ballte die Fäuste und starrte den weißhaarigen, bärtigen alten Mann auf dem Thron ungläubig an.

Das Gesicht des Mannes war das von Themistokles. Das weiße Haar, der Bart - jede kleinste Falte, jede Einzelheit stimmte.

Und doch war es nicht Themistokles.

»Du bist nicht Themistokles«, sagte Kim.

Der alte Mann starrte ihn sekundenlang schweigend an.

»Das ist richtig«, sagte er dann.

Kim zog scharf die Luft ein. Jetzt, endlich, wurde ihm alles klar. Die schwarzen Ritter. Das Land mit seiner Kälte, seinen Sümpfen, dem Nebel und der Dunkelheit, diese schreckenerregende Burg - alles bekam mit einem Mal einen Sinn. Ihm fiel auf, wie still es plötzlich in der Halle geworden war. Noch nie in seinem Leben hatte Kim eine solche Stille erlebt.

Er raffte all seinen Mut zusammen, trat einen Schritt vor und sagte noch einmal:

»Du bist nicht Themistokles.«

Es kostete ihn unglaubliche Überwindung, hinzuzufügen:

»Du bist Boraas.«

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