Die Wand war nicht besonders hoch, aber das Sprühwasser, das den Felsendom wie Nebel ausfüllte und sich als eisiger Film über alles und jedes legte, machte den Abstieg zu einer lebensgefährlichen Kletterei. Der Stein war feucht und glitschig, so daß Hände und Füße kaum Halt fanden. Kim überzeugte sich vor jedem Tritt davon, daß seine Füße und seine rechte Hand sicher in der Wand verankert waren, ehe er vorsichtig die Linke löste und mit klammen Fingern nach winzigen Unebenheiten und Rissen im Fels tastete. Seine Muskeln waren verkrampft, und nach etwa zehn Minuten war er bereits erschöpft und am Ende seiner Kräfte. Dabei hatte er noch nicht einmal die Hälfte des Abstiegs geschafft. Er verhielt einen Moment, rang keuchend nach Atem und blickte nach unten. Das schmale Felsband lag knapp zehn Meter unter ihm. Gorg und Priwinn waren bereits unten angelangt und schauten besorgt zu ihm hinauf. Der Riese formte mit den Händen einen Trichter vor dem Mund und rief etwas. Aber das Tosen der Wassermassen, die neben ihnen in die Tiefe stürzten, verschlang seine Worte.
Kim wußte, was Gorg ihm sagen wollte. Er war bei seiner Kletterei zu weit nach links geraten. Etwas weiter rechts war der Weg einfacher, aber Kim hatte weder die Kraft noch den Mut, noch einmal ein Stück die Wand hinaufzuklettern. Und so tastete er sich Zentimeter für Zentimeter weiter, bis er schließlich tief genug war, daß Gorg mit ausgestreckten Armen seine Hüften umfassen konnte.
»Laß los!« rief Gorg.
Kim gehorchte mit einem Seufzer der Erleichterung. Gorg klaubte ihn wie ein Spielzeug von der Wand und stellte ihn behutsam vor sich auf den Boden.
»Alles in Ordnung?«
Gorg brüllte es, trotzdem waren die Worte über dem Dröhnen des Wassers kaum zu verstehen. Kim nickte und blickte dann, dem Beispiel der beiden anderen folgend, nach oben.
Seit beinah zwei Tagen (oder jedenfalls lange genug, um zweimal bis zur Erschöpfung durch dieses unterirdische Labyrinth zu irren) folgten sie jetzt dem Verschwundenen Fluß, und der Weg war nie ganz problemlos gewesen. Aber diese vergleichsweise harmlose Felswand konnte ihnen - zumindest einem von ihnen - leicht zum Verhängnis werden.
»Nun?« brüllte Gorg. »Wie sieht's aus?«
Kim hätte geschworen, daß seine Stimme dort oben nicht mehr zu hören sei. Trotzdem erschien kurz darauf ein struppiger, einäugiger Kopf über dem Felsrand. Kelhim brummte eine Antwort, die sie zwar nicht verstanden, deren Sinn ihnen jedoch klar war. Der Bär war dem Pfad, der sie bis zu diesem Felsabbruch geführt hatte, weiter gefolgt, in der Hoffnung, die Wand umgehen zu können. Offensichtlich erfolglos. Auch ohne Verletzung wäre der Abstieg über die Wand für den Bären praktisch unmöglich gewesen. Die Wunde hatte sich zudem noch entzündet, so daß die Schmerzen in der Schulter fast unerträglich waren und ihm das Gehen auf ebenem Grund schon schwerfiel. Der Pfeil war zwar nicht vergiftet gewesen, aber es schien auch so etwas wie eine negative Umkehrung der phantastischen Heilkräfte Märchenmonds zu geben. Jedenfalls versagte jeder Versuch, dem Bären Linderung zu verschaffen. Die Wunde wollte nicht heilen.
Gorg ballte in stummer Wut die Fäuste. »Wenn wir wenigstens ein Seil hätten«, murmelte er. »Irgend etwas, um ihn daran herunterzulassen.« Er starrte den tosenden Wasserfall an, als würde er ihm die Schuld an ihrer verzweifelten Lage geben.
»Tretet zur Seite!« rief Kelhim von oben. »Ich springe!«
Gorg tippte sich unmißverständlich an die Schläfe und blieb ungerührt stehen. »Du bist verrückt!« rief er zurück. »Du wirst dir alle Knochen brechen!«
»Ich breche höchstens dir deinen Dickschädel, wenn du nicht aus dem Weg gehst!« brüllte Kelhim gereizt. »Mach Platz! Es sind lächerliche zehn Meter!«
Gorg zögerte noch. Aber jeder von ihnen wußte, daß Kelhim schließlich keine andere Wahl blieb. Es gab kein Zurück. Selbst wenn es dem Bären gelang, zur Klamm der Seelen zurückzufinden, würde er niemals an dem Ungeheuer vorbeikommen, das dort lauerte. Ganz davon abgesehen, daß Kelhim viel zu schwach war, die ganze Strecke noch einmal zu gehen.
Der Bär näherte sich vorsichtig der Kante, schnupperte in die Luft und hob dann gebieterisch die Tatze. Gorg trat seufzend zur Seite. Hinter ihnen donnerte der Wasserfall in die Tiefe; so tief, daß das Wasser in einem schwarzen, lichtlosen Abgrund zu verschwinden schien. Es mußte mit ungeheurer Wucht unten aufprallen. Der massive Fels unter ihren Füßen zitterte kaum merklich, und wenn man genau hinhörte, konnte man über dem Tosen der Wassermassen ein dumpfes Grollen hören.
Es war nicht der Sprung, der Gorg Sorgen bereitete. Kelhim war sicher schon aus größerer Höhe hinabgesprungen, bei seiner Körpergröße stellten die zehn Meter wohl nur einen besseren Hopser für ihn dar. Aber - und das war das gefährliche daran - der Sims war kaum anderthalb Meter breit und noch dazu etwas abfallend und glitschig vor Feuchtigkeit. Kelhims Verletzung mit eingerechnet, standen seine Chancen, heil unten anzukommen, alles andere als gut.
Kim wurde abrupt aus seinen Überlegungen gerissen. Kelhim trat entschlossen vor und ließ sich über die Kante fallen. Für den Bruchteil einer Sekunde schien er bewegungslos in der Luft zu hängen. Dann stürzte er ab, rollte sich noch im Flug zu einem riesigen pelzigen Ball zusammen und schlug mit fürchterlicher Wucht am Boden auf. Sein Schmerzensschrei mischte sich mit dem Donnern des Wasserfalls. Kelhim rollte weiter auf den Abgrund zu und suchte verzweifelt nach Halt. Für einen schrecklichen Augenblick drohte er vollends abzurutschen. Gorg sprang vor, verkrallte die Hände im Nackenfell des Bären und zerrte ihn mit äußerster Kraftanstrengung zurück.
Kelhim brach mit einem wimmernden Laut zusammen. Die Wunde an seiner Schulter brach wieder auf, und dunkles Blut mischte sich in die hellen Wassertropfen auf seinem Fell.
Gorg kniete neben dem Freund nieder und berührte sanft, fast zärtlich seine Tatze. Kelhim brummte. Zum ersten Mal, seit Kim den Bären kannte, hörte sich seine Stimme wackelig an.
Zu dritt halfen sie Kelhim, auf die Füße zu kommen.
»Legen wir eine Pause ein«, schlug Priwinn vor. »So kann er auf keinen Fall weitergehen.«
Kelhim schüttelte ärgerlich den Kopf. »Wenn ich mich jetzt hinlege, komme ich nie wieder hoch«, sagte er bestimmt. »Wir müssen weiter. Allmählich habe ich die Nase voll von Höhlen und unterirdischen Gängen. Ich weiß kaum noch, wie freier Himmel aussieht.«
Kim sah den Bären voll Mitleid an. Kelhims munterer Ton sollte sie darüber hinwegtäuschen, wie elend ihm zumute war. Aber ein wenig spürten sie es wohl alle. Sie hatten Schlimmeres durchgestanden, auf dem Weg nach Caivallon und später von Gorywynn hierher, aber mehr als die körperliche Belastung zerrten die Dunkelheit und das unablässige Grollen und Tosen des Wassers an ihren Nerven. Kim fror. Er fror unablässig seit zwei Tagen, und schlimmer noch als die Kälte setzte ihm die allgegenwärtige Feuchtigkeit zu, die erbarmungslos unter seine Kleidung, ja unter die Haut bis in den Körper hineinkroch. Kim hatte das Gefühl, von einer Kälte ausgefüllt zu sein, die nichts, auch das heißeste Feuer nicht, je wieder vertreiben konnte.
Der Sims fühlte steil in die Tiefe und lief schließlich in ein trapezförmiges, weit überhängendes Felsstück aus, von dessen Ende eine Art natürlicher Treppe weiter hinabführte. Kim lugte vorsichtig über die Kante, und Schwindelgefühl erfaßte ihn. Sie mußten inzwischen ein gutes Stück tiefer gekommen sein, denn er konnte jetzt bis auf den Grund hinuntersehen. Der Wasserfall stürzte in einen schwarzen, annähernd kreisrunden See, über dem sich eine gigantische Halbkugel aus Schaum und Gischt mehr als hundert Meter in die Höhe wölbte. Das Donnern der Wassermassen war nun so laut geworden, daß eine stimmliche Verständigung nicht mehr möglich war. Kim stupste Gorg mit dem Ellbogen an und deutete nach unten. Der Riese nickte kurz. Er warf dem Bären einen besorgten Blick zu und begann als erster mit dem Abstieg.
Sie kamen besser voran als erwartet. Der Fels bildete tatsächlich eine Treppe, und seine Oberfläche war hier so rauh, daß sie sicher auftreten konnten. Trotzdem dauerte es noch länger als eine Stunde, ehe sie schließlich am Ufer des unterirdischen Sees standen. Seltsamerweise war der Lärm hier unten, unmittelbar an der Quelle seiner Entstehung, nicht so unerträglich laut wie weiter oben. Der Felskamin, durch den sie abgestiegen waren, mußte den Schall irgendwie ablenken oder auch verstärken.
Kim blickte nachdenklich über die brodelnde Oberfläche. Dieser See war weitaus größer als jener, in dem der Tatzelwurm hauste. Der Abfluß war mehr als hundert Meter breit und unabsehbar tief. Ein richtiger Strom, der hier tief unter der Erdoberfläche dahinfloß. Kim kniete nieder und streckte vorsichtig den Finger ins Wasser. Es war wärmer, als er erwartet hatte, und von der ehemals reißenden Strömung des Verschwundenen Flusses war nichts mehr geblieben.
Kim stand auf, kniff die Augen zusammen und versuchte dem Stromverlauf mit Blicken zu folgen. Es herrschte das gleiche eigenartige, grünliche Licht, das sie schon die ganze Zeit begleitete und für das sie bis jetzt noch keine Erklärung gefunden hatten. Nur war das Licht hier unten viel schwächer als oben. Alles, was mehr als schätzungsweise fünf Meter weit entfernt war, konnte man nur noch schemenhaft erkennen. Eigenartigerweise konnten sie die riesige Höhle dennoch in ihrer vollen Breite überblicken. Es war, dachte Kim verwirrt, als ob zwar die Intensität des Lichtes, nicht aber das Licht selbst nachließe.
»Und was jetzt?« sprach Priwinn die Frage aus, die sie alle bewegte.
Gorg hob hilflos die Schultern. »Ich weiß es nicht. Niemand, der schon einmal so weit vorgedrungen ist, ist je wieder zurückgekehrt.«
Kim bezweifelte das. Wäre es so, wie der Riese sagte, wüßte auch niemand, was nach dem Verschwundenen Fluß kam; und die Kunde von der Eisigen Einöde, von der Burg Weltende und all den Gefahren, die sie noch erwarteten, wäre nicht bis Gorywynn gedrungen. Aber er sagte nichts.
Sie umrundeten einmal den See, um sich davon zu überzeugen, daß es keinen zweiten Ausgang aus der Höhle gab und sie nicht womöglich so kurz vor dem Ziel noch den falschen Weg wählten. Dann drangen sie hintereinander in den niedrigen Stollen ein, durch den die Wassermassen abflossen. Die Decke war glatt gewölbt und so niedrig, daß Gorg weit vornübergebeugt gehen mußte, um sich nicht den Schädel anzuschlagen. Kim glaubte das Gewicht der Tonnen und Abertonnen schwarzer Felsen, die sich über ihnen türmten, fast körperlich zu spüren. Obwohl der Weg hier so breit war, daß sie bequem nebeneinander gehen konnten, bekam er Platzangst, ein Gefühl, als würden sich Decke und Wände unaufhaltsam um ihn zusammenziehen und ihm den Atem abschnüren.
Der Weg wurde allmählich wieder schmaler, und aus dem Fluß ragten jetzt immer öfter spitze Felsen, an denen sich das Wasser zu kleinen Schaumbergen oder winzigen Strudeln brach.
»Es kann nicht mehr weit sein«, brummte Kelhim. »Nicht mehr weit.«
Gorg nickte zustimmend. »Wir sollten noch einmal rasten«, schlug er vor.
»So kurz vor dem Ziel?«
»Gerade so kurz vor dem Ziel. Wir alle sind müde, und wer weiß, was uns auf der anderen Seite des Gebirges erwartet. Vielleicht ist es besser, wenn wir ausgeruht dort ankommen.«
Niemand hatte etwas gegen den Vorschlag einzuwenden. Sie waren wirklich zum Umfallen müde. Und der Riese hatte recht. Der Fluß würde sein unterirdisches Bett nun bald verlassen; da war es besser, wenn sie frisch und kräftig waren. Vielleicht mußten sie fliehen, vielleicht kämpfen - wer weiß.
Sie wichen bis zur Höhlenwand zurück und legten sich nebeneinander zum Schlafen nieder. Das Rauschen des Wassers war auch hier noch überlaut. Aber trotz des Lärms und der klammen Kälte schliefen sie fast augenblicklich ein.
Kim hatte das Gefühl, noch keine fünf Minuten geschlafen zu haben, als ihn jemand unsanft an der Schulter rüttelte und gleich darauf die Hand auf seinen Mund preßte, damit er nur ja keinen Laut von sich gab.
Kim fuhr hoch und blickte verwirrt in Priwinns Gesicht. Der Steppenprinz zog langsam die Hand zurück und legte den Finger auf die Lippen.
Kim nickte verstehend. »Was ist?« fragte er im Flüsterton.
Priwinn deutete mit dem Daumen über die Schulter zurück. »Jemand kommt«, zischte er. »Sieht aus, als würden wir verfolgt.«
»Schwarze?« fragte Kim erschrocken.
Priwinn zuckte die Schultern. »Gorg ist zurückgegangen, um nachzusehen«, flüsterte er. »Aber bereiten wir uns lieber auf eine schnelle Flucht vor.«
Kim stand unverzüglich auf, schnallte sein Schwert um und befestigte den Schild an seinem linken Arm. Er zögerte einen Moment. Dann zog er die Klinge aus der Scheide und reichte sie Priwinn.
»Was soll ich damit?«
»Dich wehren. Du hast keine Waffe.«
Der Steppenprinz reichte ihm lächelnd das Schwert zurück und schüttelte den Kopf. »Das brauche ich nicht.«
»Ich weiß«, sagte Kim. »Ich habe gesehen, wie du in der Klamm gekämpft hast, auch ohne Waffe. Aber...« Priwinn schnitt ihm mit einer unwilligen Handbewegung das Wort ab. »Du mißverstehst mich. Wir benutzen keine Waffen. Keiner von uns.«
»Du meinst...«
»Ich meine, daß kein Steppenreiter jemals eine Waffe in die Hand nehmen würde«, erklärte Priwinn. »Wir haben gelernt, uns auch so zu verteidigen. Wir verachten Waffen, und wir verachten die, die Waffen tragen.«
»Aber der Schild ist doch auch von euch!«
»Waffen zum Töten und ein Schild, um sich vor ihnen zu schützen, sind doch wohl zweierlei, oder?« gab Priwinn spöttisch zurück. Doch sogleich wurde er wieder ernst. »Ich schlage vor, wir unterhalten uns später darüber. Mir scheint, ich höre etwas.«
Sie traten aus dem Schatten der Felswand hervor und blickten gespannt den Weg hinunter. Gorg kam, keineswegs leise, angestampft.
»Wo ist Kelhim?« flüsterte Kim.
Priwinn deutete stumm hinter sich. Einer der schwarzen Schatten am Wegrand schien ein wenig zu rund und struppig für einen Stein, und bei genauerer Betrachtung gewahrte Kim einen rotglühenden Punkt auf der Höhe von Kelhims Auge. Kim nickte anerkennend. Wenn Baron Karts schwarze Reiter sie wirklich bis hierher verfolgten, würden sie eine böse Überraschung erleben.
Gorg war mit ein paar Schritten bei ihnen. Über seine rechte Schulter hing ein schlaffer, lebloser Körper. Das Gesicht des Riesen zeigte einen zerknirschten Ausdruck.
»Brobing!« rief Priwinn, als er den Mann erkannte.
Gorg lud den Bauern behutsam ab und trat einen halben Schritt zurück. Kim kniete nieder, befühlte Gesicht und Hals des Bewußtlosen und atmete erleichtert auf. Auf Brobings Hinterkopf prangte eine mächtige Beule, aber er atmete, und als ihm Kim eine Handvoll Wasser ins Gesicht schöpfte, öffnete er stöhnend die Augen.
»Was hast du mit ihm gemacht, Gorg?«
Der Riese drehte verlegen die Daumen. »Es... es tut mir leid...« stammelte er. »Aber er kam so dahergeschlichen, und in dem schlechten Licht... ich habe ihn nur gestreichelt, ehrlich, ich...«
»Schon gut. Er kommt ja schon wieder zu sich.«
Brobing griff sich an den Kopf und zuckte zusammen.
Priwinn beugte sich über ihn. »Was hast du dir nur dabei gedacht, uns zu folgen«, sagte er vorwurfsvoll. »Gorg hätte dir fast den Schädel eingeschlagen, weil er dich für einen Schwarzen hielt.«
Brobing stöhnte wieder. Er setzte sich mühsam auf und hielt sich den Kopf.
»Weg...« preßte er hervor. »Ihr müßt... fliehen. Ich... ich kam, um euch zu warnen.«
»Warnen? Wovor?«
»Vor den schwarzen Reitern. Sie verfolgen euch.«
»Das haben wir gemerkt«, grollte Kelhim, der aus seinem Hinterhalt getrottet kam und den Bauern kopfschüttelnd betrachtete. »Sie waren schon vor uns in der Klamm und haben uns erwartet. Aber wir haben ihre Pläne ein klein wenig durchkreuzt.«
Brobing schüttelte den Kopf. »Das ist es nicht, Kelhim. Ich... Als ihr aufgebrochen wart«, sagte er, »da machten wir uns auf die Suche nach einem geeigneten Unterschlupf für die kommende Woche. Wir waren noch nicht weit gekommen, als ich ein verdächtiges Geräusch hörte. Ich hieß meine Familie, sich zu verstecken, und folgte dem Lärm. Es war eine ganze Armee schwarzer Reiter.«
»Wie viele genau?« fragte Gorg.
»Ich weiß nicht. Wohl an die fünfhundert, vielleicht mehr. Sie befanden sich auf dem Weg zur Klamm...«
»Fünfhundert!« rief Gorg erschrocken.
»Dann waren die in der Klamm also nur die Vorhut«, stellte Kelhim sachlich fest.
»Wahrscheinlich«, sagte Brobing. »Jedenfalls kehrte ich daraufhin zu meiner Familie zurück, um zu beraten, was zu tun sei. Wir kamen überein, daß wir euch warnen müßten. Ich brachte die Meinen in ein sicheres Versteck in den Bergen und machte mich auf den Weg.«
»Aber wie bist du an Kart vorbeigekommen?« fragte Priwinn. »Und am Tatzelwurm?«
»Gar nicht«, gestand Brobing. »Jedenfalls nicht direkt. Ich hatte Glück, dem schwarzen Baron nicht persönlich in die Arme zu laufen. In der Klamm herrschte große Aufregung. Allem Anschein nach hatte ein Kampf stattgefunden. Die Schwarzen mußten große Verluste erlitten haben, aber es war für mich unmöglich, an ihnen vorbeizukommen. So suchte ich mir ein Versteck und wartete, bis der Haupttrupp angekommen war. Als sie weiterzogen, folgte ich ihnen in sicherem Abstand. Ich hoffte, später eine Gelegenheit zu finden, sie abzuhängen.«
»Und weiter?« fragte Gorg.
»Die Reiter erreichten den Verlorenen See«, berichtete Brobing, »und griffen den Tatzelwurm an.«
»Ist das dein Ernst?«
»Ja«, sagte Brobing. »Der Kampf war fürchterlich. Die schwarzen Reiter hatten riesige Katapulte mitgebracht, mit denen sie große Pfeile und Felsbrocken nach dem Ungeheuer schleuderten, aber die Geschosse zerbrachen an ihm wie Zunder. Und dann ging der Tatzelwurm zum Gegenangriff über.«
»Hast du irgendeine Spur von Rangarig gesehen?« fragte Kim leise.
Brobing sah ihn traurig an. »Nein, nicht die geringste. Es tut mir leid.«
»Was geschah weiter?« drängte Gorg.
»Der Kampf dauerte wohl länger als eine Stunde«, erzählte Brobing, »und viele der schwarzen Reiter haben ihn mit dem Leben bezahlt. Aber schließlich erlag der Tatzelwurm der Übermacht. Sie töteten ihn, und der Rest des Heeres zog weiter. Am Ufer des Verlorenen Sees schlugen sie ihr Nachtlager auf. Ich wartete bis nach Einbruch der Dunkelheit, dann stieg ich ins Wasser und schwamm an ihnen vorbei in die Höhle.«
»Ein riskantes Wagnis.«
Brobing winkte ab. »Nicht so riskant, wie es scheint. Die Reiter fühlten sich sicher, und die Wachen schliefen ebenso tief wie alle anderen. Wer sollte sie auch an diesem Ort angreifen. Ich kam unbehelligt vorbei und folgte dem Fluß, und nun bin ich hier.«
Gorg seufzte. »Ja, nun bist du hier. Wie weit sind die anderen zurück?«
»Nur wenige Stunden, fürchte ich«, antwortete Brobing bedrückt. »Ich habe mich einmal in den Höhlen verirrt und fand nur mit Mühe wieder auf den richtigen Weg zurück«, fügte er wie zur Entschuldigung hinzu.
»Und wir haben uns zu sicher gefühlt und unnütz Zeit vertrödelt«, grollte Gorg. »Wir müssen sofort weiter!« Er starrte mit zusammengekniffenen Augen den Fluß hinauf, als erwarte er jeden Augenblick, die Verfolger auftauchen zu sehen.
»Wir danken dir, daß du es gewagt hast, uns zu folgen, um uns zu warnen«, sagte Kim. »Du hast uns vielleicht das Leben gerettet.«
Brobing lächelte verlegen. »Ihr habt euer Leben riskiert, um das unsere zu retten«, erinnerte er ihn. Er stand auf, ging zum Flußufer hinüber und tauchte die Handgelenke ins eisige Wasser.
»Wie viele sind es jetzt noch, die uns folgen?« fragte Priwinn, nachdem Brobing sich erfrischt hatte und prustend vom Wasser zurückkam.
»Der Kampf mit dem Tatzelwurm hat schwere Opfer von ihnen gefordert. Trotzdem - über hundert werden es wohl noch sein«, sagte er nach kurzem Überlegen.
»Worauf warten wir noch?« sagte Gorg. »Los, gehen wir. Je eher wir aus diesen Höhlen heraus sind, desto besser.«
Sie brachen auf. Kelhim, der von ihnen allen wohl die schärfsten Sinne hatte, bildete den Schluß. Der Gedanke an die Verfolger, die vielleicht schon dicht hinter ihnen waren, spornte sie zu raschem Tempo an. Das Flußbett verengte sich allmählich wieder, und die Strömung nahm zu. Noch einmal mußten sie über eine steile, mit Schutt und Geröll bedeckte Rampe nach unten klettern, ehe sie schließlich in einer riesigen, domartigen Höhle standen, an deren jenseitigem Ende ein winziger grauer Fleck leuchtete. Tageslicht.
Kim stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Bis zum anderen Ende der Höhle mochten es noch zwei, vielleicht auch drei Stunden Fußmarsch sein. Nach allem, was sie überstanden hatten, war dies eine vergleichsweise lächerliche Anstrengung. Sie blieben stehen und warteten auf Kelhim, der freiwillig zurückgeblieben war, um nach den schwarzen Reitern auszuschauen.
»Geschafft!« sagte Priwinn. »Ich habe nicht mehr daran geglaubt, je wieder den Himmel und die Sonne zu sehen.«
Kim verstand Priwinn nur zu gut. Er selbst empfand ähnlich, und auch in Gorgs Augen blitzte es freudig auf, als er zum ersten Mal seit Tagen wieder Licht sah, natürliches Licht, nicht diesen kränklichen, grauen Schimmer, der aus Wänden und Decke zu sickern schien.
Sie standen eine Zeitlang am Fuße der Geröllhalde und hingen schweigend ihren Gedanken nach; jeder für sich und froh, daß auch die anderen schwiegen.
Schließlich verlor Gorg die Geduld. »Ich werde nach Kelhim sehen«, sagte er. »Dieser hoffnungslose Tolpatsch bringt es fertig und läßt sich noch fangen.« Natürlich wollte er mit diesen rauhen Worten nur seine Sorge um den Freund übertünchen. Er machte kehrt und begann den Hang wieder hinaufzuklettern.
Gorg war erst wenige Meter weit gekommen, als der Bär schnaufend und keuchend oben auftauchte und in einer Lawine aus Staub und Steinen den Hang herunterhetzte. »Sie kommen!« brüllte er. »Die Schwarzen kommen!«
Der Riese brachte sich mit einem Satz vor dem heranpreschenden Bären und der Steinlawine in Sicherheit. »Wenn du noch lauter schreist«, knurrte er, »brauchen sie uns nicht einmal zu suchen.«
»Weg!« rief Kelhim. »Bloß weg hier! Sie sind gleich da.«
»Immer mit der Ruhe«, sagte Gorg, die Keule über die linke Schulter geschwungen und das Kinn kampflustig vorgereckt. »Was heißt gleich? Und wie viele sind es?«
Kelhim schnaubte ärgerlich. »Gleich heißt gleich. In wenigen Augenblicken. Sie haben mich gesehen, glaube ich. Und wie viele es sind? Ich habe sie nicht gezählt, aber jedenfalls sind es mehr, als wir vertragen können. Außerdem sind sie uns mit ihren Pferden hier überlegen.«
»Sie haben ihre Pferde mitgebracht?« fragte Kim ungläubig. »Ja. Und frag mich nicht, wie. Ich kann es mir selbst nicht erklären. Sie müssen sie abgeseilt haben, oder was weiß ich. Und jetzt kommt.« Damit wandte er sich dem Ausgang zu und humpelte, so schnell er konnte, vor den anderen her am Flußufer entlang.
Kims Gedanken überschlugen sich. Pferde? Hier unten? Schon für sie war es eine Tortur gewesen, dem unterirdischen Verlauf des Flusses zu folgen; was erst für einen ganzen Troß mit Pferden und in voller Rüstung... Aber er hatte ja selbst erlebt, wie unbarmherzig Kart seine Leute vorantrieb. Menschenleben spielten für ihn keine Rolle.
Ein wütender Schrei mischte sich in das Tosen des Wassers. Kim sah sich im Laufen um und erschrak. Am oberen Ende der Geröllhalde war eine hochgewachsene, ganz in Schwarz gekleidete Gestalt aufgetaucht, und in der Dunkelheit hinter ihr bewegten sich weitere schwarze Gestalten.
Kim zog unwillkürlich den Kopf ein, als der Mann einen scharfen Befehl ausstieß und ein Hagel schwarzer Pfeile von oben auf sie herabsirrte. Aber sie waren schon außer Reichweite. Die Geschosse prallten harmlos gegen die Felsen oder verschwanden im Wasser.
Jetzt tauchte oben der erste Reiter auf, dann noch einer und noch einer, bis schließlich die ganze Höhle von schnaubenden, unruhig auf der Stelle tänzelnden Pferden erfüllt zu sein schien. Ein knapper Befehl, und der erste Reiter trieb sein Roß vorsichtig den Hang hinunter. Das Tier wieherte ängstlich und warf den Kopf zurück, aber sein Reiter zwang es unbarmherzig weiter. Ein zweiter folgte ihm, dann, als wäre die Dunkelheit selbst zum Leben erwacht, folgte der ganze Heereszug, über hundert Reiter, wie Brobing gesagt hatte. Eines der Pferde verlor auf dem unsicheren Grund den Halt und begrub im Stürzen seinen Reiter unter sich. Eine Geröllawine polterte herab, riß mehrere Reiter mit sich und erschlug Menschen und Tiere. Aber der Vormarsch kam nur für Sekunden ins Stocken.
»Schneller!« brüllte Gorg. Mit einem Satz war er neben Priwinn, hob den Prinzen wie eine Stoffpuppe hoch und setzte ihn auf Kelhims breiten Rücken. Der Bär brummte, als Priwinn seine verletzte Schulter berührte, griff dann aber schneller aus und sprengte beinah mit der Geschwindigkeit eines Pferdes davon. Gorg packte den erschöpften Brobing und schwang ihn sich über die Schulter, und dann fühlte auch Kim sich von einer riesigen Hand gepackt und wie ein lebloses Bündel unter den Arm des Riesen geklemmt. Gorg rannte los, so schnell, daß Kim fast schwindelig wurde. So holten sie auch den Bären wieder ein. Aber Kim war klar, daß weder der Bär mit seiner verletzten Schulter noch der Riese mit seiner doppelten Last dieses Tempo lange durchhalten konnte.
Wieder zischte ein Hagel schlanker schwarzer Pfeile durch die Luft; noch immer zu kurz, so daß keines der Geschosse in gefährliche Nähe kam, aber schon merklich dichter als die erste Salve. Die ersten Reiter hatten den Fuß der Halde erreicht und setzten unverzüglich zur Verfolgung an. Die Tiere kamen auf dem rissigen und mit Steinen und spitzen Zacken übersäten Boden nicht gut voran; dennoch stand außer Zweifel, daß sie ihre Geschwindigkeit länger und müheloser halten konnten als ihre Opfer. Gorg beschleunigte seine Schritte noch mehr, aber er keuchte bereits heftig und stolperte immer öfter über irgendein Hindernis am Boden, um sich nur mit Mühe wieder zu fangen.
»Kim!«
Kims Kopf ruckte hoch. Diese Stimme. Es war nicht Priwinns Stimme oder die eines der anderen. Aber er kannte sie!
»Kim! Riese! Zurück zum Fluß!«
Gorg gehorchte automatisch. Mitten im Lauf warf er sich herum, übersprang eine fast zwei Meter hohe Felsbarriere und kam dicht neben dem Bären wieder auf dem felsigen Grund auf.
»Runter!«
Wieder gehorchten sie, instinktiv und ohne zu überlegen. Donnergrollen erfüllte mit einem Mal die Höhle, brach sich an der hohen Decke und ließ die Felsen beben. Die Oberfläche des Flusses schien zu zittern. Für einen winzigen Moment kam die Strömung zum Stillstand, dann bäumten sich die Wasser wie unter einer ungeheuren Spannung auf. Ein dumpfer Schlag folgte. Wasser spritzte schäumend zehn, fünfzehn Meter empor, regnete auf Flußbett und Ufer zurück und barst erneut auseinander. Graue, schaumgekrönte Wellen schwappten über den Uferstreifen, benetzten den Felsen und leckten nach den Füßen der heranpreschenden Pferde. Aber wenn die Reiter die Gefahr bemerkten, so ignorierten sie sie. Unbeirrt trieben sie ihre Tiere vorwärts, auch als auf die erste Welle eine zweite, mächtigere folgte und das Wasser geheimnisvoll zu kochen und zu brodeln begann.
»Dort!« rief Gorg aufgeregt. »Seht doch!«
Ihre Blicke folgten seinem ausgestreckten Arm. In der Mitte des Flusses begann sich das Wasser zu drehen. Schneller und immer schneller wirbelte es im Kreis, formte sich zu einem Trichter, dessen Zentrum tiefer und tiefer sank, bis der halbe Fluß von diesem gewaltigen strudelnden Sog ausgefüllt schien. Ein ungeheures Dröhnen marterte ihre Ohren. Kim preßte die Hände an den Kopf, verzog schmerzhaft das Gesicht und starrte aus tränenerfüllten Augen zu den näher kommenden Reitern hinüber. Es war nur eine kleine Gruppe, die dem Hauptheer vorausgeeilt war, vielleicht zehn, zwölf Mann, und ihre Gestalten waren hinter dem Sprühregen, der von der kochenden Wasserfläche ausging, kaum zu erkennen.
Und dann explodierte der Fluß.
Jedenfalls hatte Kim im ersten Moment den Eindruck, als ob der gesamte Fluß unter einer ungeheuerlichen Explosion auseinanderbarst und sich aus seinem Bett erhob. Die Höhle wankte. Steine regneten von der Decke, und als sich der Schaumnebel über dem Fluß verzogen hatte, sahen sie eine gigantische, glitzernde Wasserwand, die mit urgewaltigem Brüllen auf das Ufer und die vor Schreck erstarrten Reiter zuraste. Die Männer versuchten noch, ihre Tiere herumzureißen und aus der Gefahrenzone zu entkommen, aber zu spät. Die Welle donnerte heran, spülte über das Ufer und verschlang Pferde und Reiter, ehe sie sich gischtend an den Felsen brach.
Kim zog den Kopf ein, rollte sich zusammen und wartete mit angehaltenem Atem, bis die Flut über ihre Deckung hinweggerollt war. Der Felsen hatte dem Wasser den größten Teil seiner Wucht genommen, trotzdem hatte Kim den Eindruck, als ob tausend Hämmer mit vernichtender Kraft auf seine Rüstung einschlügen. Keuchend und mühsam nach Atem ringend, kam er wieder hoch, stolperte auf die Beine und hielt nach den anderen Ausschau. Sie waren genauso überrascht und durchgeschüttelt wie er, aber keiner schien ernstlich verletzt zu sein.
»Was... was war das?« fragte Priwinn.
Statt einer Antwort deutete Kim stumm den Fluß hinunter. Vor ihnen, etwa halbwegs zwischen ihrer Deckung und dem Höhlenausgang, ragte eine schlanke Felsnadel aus dem tobenden Wasser. Zwei kleine, weißgekleidete Gestalten zeichneten sich gegen das trübe Licht in der Öffnung ab.
»Wer ist das?«
»Ado«, antwortete Kim. »Ado und sein Vater, der Tümpelkönig.«
»Du kennst die?«
»Ja. Ich traf sie... vor langer Zeit. Aber ihre Anwesenheit hier überrascht mich genauso wie euch.« Kim wollte noch mehr sagen, doch in diesem Moment drang Ados Stimme erneut über das Dröhnen des Flusses zu ihnen.
»Flieht! Ihr seid in Gefahr! Verlaßt die Höhle! Wir folgen euch!«
Ohne eine Sekunde zu zögern, brachen sie aus ihrer Deckung hervor und rannten los. Kim sah sich gehetzt um. Von dem Reitertrupp, der sie verfolgt hatte, war keine Spur mehr zu entdecken. Der Fluß hatte ihn verschlungen. Aber damit war die Gefahr noch nicht überstanden. Neue Reiter formierten sich, ungeachtet des Schicksals, das ihren Kameraden widerfahren war, zu einer tiefgestaffelten Angriffsreihe. »Nach links!« rief Ado. »Weg vom Fluß!«
Die fünf gehorchten. Der Boden war direkt am Ufer glatt und besser begehbar als der felsige Grund dahinter; aber der Anblick der kochenden Wasserwand, die die Reiter verschlungen hatte, stand noch deutlich vor ihren Augen.
Wieder begann der Fluß zu kochen und zu brodeln, und wieder entstand in seiner Mitte ein zischender, sich immer schneller um sich selbst drehender Strudel. Kim stolperte über einen Felsen, schlug der Länge nach hin und sah sich noch im Aufstehen nach den Verfolgern um. Die Reiter hatten die drohende Gefahr erkannt und zügelten ihre Tiere. Einen Augenblick lang wirkten sie unentschlossen, und Kim begann schon zu hoffen, daß sie sich zurückziehen würden. Aber dann erschien auf dem Hang oben ein einzelner, riesenhafter Mann in schimmerndem Schwarz. Die Soldaten fuhren entsetzt herum und preschten weiter. Selbst der sichere Tod schien sie nicht davon abhalten zu können, Baron Karts Befehle auszuführen.
Kim und seine Freunde rannten weiter, liefen im Zickzack auf den Höhlenausgang zu, während hinter ihnen das Unheil ein zweites Mal über die schwarzen Reiter hereinbrach. Die Höhle hallte wider von den verzweifelten Schreien der Männer und ihrer Tiere und dem Grollen des Wassers.
Wetterleuchten umspielte die Felsnadel, auf der der Tümpelkönig stand. Die Luft roch plötzlich scharf und metallisch, wie nach einer starken elektrischen Entladung, und eine Linie kleiner blauer Flammen lief mit phantastischer Geschwindigkeit über die Wasseroberfläche auf die Reiter zu. »Lauft!« rief Ado ihnen über das Toben des Wassers zu. »Lauft um euer Leben!« Er federte kurz in den Knien und sprang dann mit einem behenden Satz ins Wasser. Wie ein Fisch schoß er dicht unter der Wasseroberfläche ans Ufer, warf sich mit weit ausgebreiteten Armen an Land und stürmte auf Kim und den Riesen zu. »Schnell«, rief er. »Vater kann sie nicht mehr lange aufhalten, ohne die Seegeister zu beschwören!«
Kim verstand kein Wort, aber nach allem, was er in den letzten Minuten erlebt hatte, schien es ihm angeraten, Ados Rat zu befolgen. Sie rannten weiter, stolperten über Felsen, sprangen über Risse und rasiermesserscharfe Grate und erreichten schließlich, nach einer scheinbaren Ewigkeit, den Ausgang. Ein weites, felsiges Tal breitete sich vor ihnen aus. Kim wollte sich umdrehen, um nach dem Tümpelkönig zu sehen, aber Ado riß ihn vom Höhlenausgang fort und zerrte ihn hinter einen Felsbuckel in Deckung. Kim hatte nur einen flüchtigen Blick erhaschen können: eine schmale, verwundbare Gestalt, die trotz ihrer gebeugten Schultern hoch aufgerichtet auf der Spitze der Felsnadel stand und blaues Feuer in die Tiefe der Höhle schleuderte. Und noch etwas war da gewesen, etwas, was Kim nicht richtig hatte erkennen können, was ihn aber dennoch schaudern ließ. Etwas Großes, Brodelndes, Mächtiges.
Der Boden begann zu zittern. Ein dumpfer Donnerschlag rollte aus der Höhle heraus und brach sich an den Felsen. Plötzlich hob sich der Boden, sackte mit einem Schlag wieder zurück und begann zu springen und zu schütteln wie ein bockendes Pferd. Ein ungeheures Brüllen drang aus dem Höhlenausgang. Und dann schoß eine schäumende Flutwelle aus dem Berg, Menschen, Tiere und Felstrümmer mit sich reißend und das Ufer in weitem Umkreis überflutend. Noch lange, nachdem die Flutwelle sich verlaufen hatte und ihr Donnern verklungen war, dröhnte und klingelte es in Kims Ohren. Vorsichtig, jederzeit auf eine zweite Flutwelle und die damit verbundene Erschütterung gefaßt, richtete er sich auf und blickte zum Höhlenausgang zurück. Der Fluß hatte sich beruhigt; noch immer kräuselten schaumige Wellen seine Oberfläche, und ab und zu trieb ein schwarzer, formloser Umriß mit dem Wasser heraus. Aber das Schlimmste schien vorüber zu sein.
Kim riß sich gewaltsam von dem Anblick los und drehte sich zu Ado um, der mit unbewegtem Gesicht auf das schäumende Wasser starrte.
»Danke«, sagte Kim einfach. Vielleicht wären jetzt größere Worte angebracht gewesen, aber Kim war noch viel zu benommen von dem Geschehen, um eine wohlgesetzte Dankesrede zu halten.
Ado lächelte, wurde jedoch gleich wieder ernst. »Du brauchst dich nicht zu bedanken«, murmelte er, ohne den Blick vom Wasser zu nehmen. »Das habe ich mir schon lange gewünscht.«
Allmählich fanden sich auch die anderen, die beim Hervorschießen der Flutwelle hinter den Felsen Schutz gesucht hatten, wieder ein. Ado betrachtete den Riesen mit einer Mischung aus Furcht und Bewunderung, wandte seine Aufmerksamkeit dann dem Bären und zum Schluß wieder Kim zu.
»Ist der Drache nicht mehr bei euch?« fragte er.
Gorg runzelte verwundert die Stirn. »Du weißt von Rangarig?«
Ado nickte. »Man hat uns von ihm erzählt.«
Kim beantwortete schweren Herzens Ados Frage. Dann konnte er seine Ungeduld nicht länger bezähmen und bestürmte seinerseits Ado mit Fragen. »Wo kommt ihr her? Wie habt ihr uns gefunden? Und was hat euch überhaupt veranlaßt, uns zu folgen?«
Ado hob abwehrend die Hände. »Nicht alles auf einmal, Kim. Es ist eine lange Geschichte. Laß mich erst einmal Atem schöpfen.«
»Natürlich«, nickte Kim. Ado mußte genauso erschöpft sein wie sie. Wenn nicht noch mehr. »Ruh dich erst einmal aus. Wir alle«, fügte er hinzu, »sollten ein wenig rasten.«
Die Sonne stand im Zenit. Es war Mittag, aber ihre Körper hatten sich während des fast dreitägigen Marsches durch das unterirdische Labyrinth an einen anderen Rhythmus gewöhnt und verlangten nach Ruhe. Doch Gorg schien nicht geneigt, ihnen jetzt schon eine Pause zu gönnen. Er schaute noch einmal zum Höhlenausgang zurück und schüttelte den Kopf.
»Weiter unten am Fluß ist es sicherer«, murmelte der Riese. »Zwei, drei Stunden sollten wir noch gehen. Mir behagt der Gedanke nicht, so nahe am Höhlenausgang zu rasten.«
Sie einigten sich darauf, nur kurz zu verschnaufen und dann zügig weiterzugehen. Kim fügte sich seufzend, obwohl er sich nicht vorstellen konnte, daß irgend jemand das Chaos, das der Tümpelkönig entfesselt hatte, überlebt haben sollte. »Wie seid ihr über die Schattenberge gekommen?« versuchte er es noch einmal, Ado zum Erzählen zu bewegen, nachdem dieser sich endlich vom Anblick des Flusses losgerissen hatte. »Es war einfacher, als ich dachte«, murmelte Ado. »Das Ganze kam so. Nachdem du verschwunden warst, rückten uns die Schwarzen auf den Leib. Boraas mußte irgendwie erfahren haben, daß du bei uns - oder wenigstens im Wald - gewesen bist. Schließlich kam er höchstpersönlich, drei Tage nachdem du gegangen warst. Zusammen mit Baron Kart.« Kim erschrak. »Haben sie euch etwas angetan?«
Ado schüttelte den Kopf. »Nein. Sie kamen in der Morgendämmerung. Sie haben lange mit Vater geredet. Ich weiß nicht, was sie gesprochen haben, aber als sie auseinandergingen, war Vater sehr nachdenklich. Zwei Tage lang sprach er kein Wort, schlief nicht, saß nur die ganze Zeit da und grübelte.« Er seufzte, lehnte sich gegen einen Felsen und schlang die Arme um die Knie. Er fröstelte, und auf seinen nackten Unterarmen erschien eine Gänsehaut.
»Und dann«, fuhr Ado nach einer Weile fort, »sagte mir mein Vater, daß wir weggehen müßten. Ich glaube, Boraas und Baron Kart haben ihm gedroht. Oder irgend etwas von ihm verlangt, was er nicht tun konnte. Wir brachen noch am gleichen Abend auf.«
»Über die Berge?«
Ado lächelte. »Nein. Wir kamen auf einem ähnlichen Weg nach Märchenmond wie du. Unter dem Gebirge hindurch. Der Verschwundene Fluß entspringt nicht in den Schattenbergen, wie ihr glaubt. Er entspringt noch im Reich der Schatten, wo er ebenfalls meist unterirdisch fließt, ehe er dann das Gebirge durchquert. Einen Tag und eine Nacht mußten wir schwimmen, um auf die andere Seite zu gelangen.«
»Dann hat dein Vater den Weg schon immer gekannt?« fragte Kim überrascht.
Ado nickte. »Ja. Aber du irrst, wenn du jetzt glaubst, daß er dich absichtlich ins Ungewisse geschickt hat. Der Weg, den wir nahmen, wäre für dich unmöglich gewesen. Oder kannst du zufällig vier Stunden unter Wasser schwimmen, ohne Atem zu holen?« fügte er spöttisch hinzu.
»Natürlich nicht«, sagte Kim beschämt. Einen Moment lang hatte er wirklich so etwas wie Zorn oder zumindest Verstimmung empfunden. »Erzähl weiter«, drängte er. »Was geschah dann?«
»Wir erreichten Caivallon, und...«
»Caivallon?« fiel ihm Priwinn ins Wort. »Ihr habt Caivallon gesehen?«
Ado sah ihn überrascht an. »Du kennst Caivallon?«
»Es ist meine Heimat. Mein Vater war der Herr von Caivallon, ehe die schwarzen Reiter kamen.«
»Du mußt Priwinn sein.«
Priwinn nickte ungeduldig. »Ja. Aber das spielt jetzt keine Rolle. Wie sieht es dort aus?«
Ado druckste eine Weile herum. »Es tut mir leid, Prinz«, sagte er dann. »Aber das Steppenschloß ist fast bis auf die Grundfesten niedergebrannt. Von seiner früheren Pracht ist nichts mehr geblieben. In den Ruinen lagern jetzt die schwarzen Reiter.«
Priwinn schluckte. Obwohl er das Flammenmeer mit eigenen Augen gesehen hatte, traf ihn die Wahrheit zutiefst. Er gab sich Mühe, seine Bewegung zu verbergen, aber es gelang ihm nicht ganz.
»Und dann?« fragte Gorg neugierig.
»Wir schwammen weiter nach Gorywynn. Es war nicht leicht, das Schloß zu erreichen. Überall wimmelte es von Boraas' Leuten.«
»Hat der Angriff schon begonnen?«
»Nein. Aber ich fürchte, er steht kurz bevor. Gorywynn ist eingeschlossen. Die Schwarzen haben einen weiten Belagerungsring um das Schloß gezogen. Niemand kann hinein, und niemand kann das Schloß verlassen. Ihr müßt im letzten Augenblick durchgeschlüpft sein.«
»Aber ihr kamt hinein?«
»Natürlich. Wir schwammen durch den Fluß und weiter durch den See, direkt unter den Booten der Schwarzen hindurch.«
»Und dann?«
»Der Rest ist rasch erzählt. Wir trafen auf Themistokles. Er und mein Vater kannten sich wohl von früher, obwohl Vater nie davon gesprochen hat. Wir erfuhren alles, auch von eurem Aufbruch und eurem Vorhaben. Und so beschlossen wir, euch zu folgen. Es war nicht schwer. Der Verschwundene Fluß brachte uns zu euch.«
»Genau im richtigen Moment«, sagte Kelhim. »Ein wenig später, und wir wären verloren gewesen.«
Ado nickte. Falsche Bescheidenheit war jetzt nicht angebracht. Er starrte eine Zeitlang zu Boden, stand dann ruckartig auf und deutete nach Westen.
»Gehen wir. Es ist keine Zeit mehr zu verlieren.«
»Aber wir müssen auf deinen Vater warten!« protestierte Kim.
Keiner der anderen antwortete. Es dauerte eine Weile, bis Kim begriff, daß sie nicht zu warten brauchten. Der Tümpelkönig würde nicht wiederkommen. Nie mehr.