XVII

Es waren sieben. Sechs schlanke, hochragende Gestalten in schimmerndem Schwarz, Bogen und Pfeile kampfbereit in der Faust. Und an ihrer Spitze, gigantisch und drohend und als einziger mit einem großen schwarzen Morgenstern bewaffnet, Baron Kart. Tief über den Hals ihrer Pferde gebeugt, preschten die schwarzen Todesboten heran, noch dreihundert, noch zweihundert Meter entfernt, und mit jedem Augenblick wurde der Abstand geringer.

Kim packte sein Schwert fester. Die schwarze Klinge schien in seinen Händen zu vibrieren. Kim brauchte eine Weile, ehe er merkte, daß er selbst es war, der zitterte, nicht vor Angst oder Kälte, sondern vor Erregung. Neben ihm bereitete sich Priwinn auf den Zusammenstoß vor. Seine Augen waren geschlossen, der Körper seltsam entspannt. Und hinter ihm richtete sich Kelhim langsam auf die Hinterbeine auf und nahm die für Bären typische Kampfhaltung ein. Gerade aufgerichtet, beide Vordertatzen vorgestreckt, überragte er selbst die schwarzen Reiter auf ihren Pferden noch um ein gutes Stück.

Kim blickte den näherkommenden Reitern gefaßt entgegen. Zu einem anderen Zeitpunkt wären sie leicht mit ihnen fertig geworden. Es waren nur sieben, und Kelhim allein wog vier oder fünf von ihnen auf. Brobing und Priwinn hatte Kim bereits im Kampf erlebt und wußte, was ihnen zuzutrauen war, und auch er selbst hatte mit Schild und Schwert umzugehen gelernt. Aber diesmal waren die Karten schlecht verteilt. Auch wenn Kelhim sich alle Mühe gab, sich nichts anmerken zu lassen, machte ihm seine Verletzung doch schwer zu schaffen; Ado war in keiner Weise für einen Kampf auf Leben und Tod gerüstet, und auf dem offenen, deckungslosen Gelände waren ihnen die Reiter mit ihren Pferden weit überlegen.

Fast als wäre dieser Gedanke das Signal zum Angriff gewesen, teilte sich jetzt die Reihe der herangaloppierenden Reiter. Je drei scherten nach rechts und links aus, um von beiden Seiten anzugreifen. Nur Baron Kart ritt auf seinem riesigen Pferd direkt auf Kim zu. Ein Hagel schwarzer Pfeile sirrte durch die Luft. Kim warf sich mit seinem Schild schützend vor Ado und fing eines der tödlichen Geschosse auf. Der Anprall ließ ihn zurücktaumeln. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Priwinn sich unter einem heranzischenden Pfeil wegduckte. Baron Kart riß mit einem gellenden Schrei seine Waffe empor. Die stachelbewehrte Kugel am Ende der armlangen Kette begann zu rotieren und bildete einen singenden, tödlichen Kreis.

Aber er kam nicht dazu, den Schlag zu führen.

Irgend etwas geschah mit dem Licht. Es wurde gelb, flackerte einen Moment und sank dann zu einem sanften Glühen herab. Von einem Augenblick zum anderen kam Nebel auf, und die Kälte schien sich zu verdichten.

»Halt!«

Die Stimme dröhnte in ihren Köpfen, ihren Körpern, im Eis und der Luft, ein Befehl von solch gebieterischer Macht, daß Kim unwillkürlich sein Schwert fallen ließ und die Hände vor die Ohren schlug. Zwei, drei der schwarzen Reiter stürzten aus den Sätteln, als sich ihre Tiere erschrocken aufbäumten, und auch der schwarze Baron hielt sich nur noch mit Mühe im Sattel. Die geordnete Angriffsformation der Reiter löste sich binnen Sekunden in Chaos auf.

Kim fuhr erschrocken herum, als er die Bewegung sah. Ein riesiger Schatten tauchte aus dem Nebel auf. Die treibenden Schwaden teilten sich, und ein hünenhafter weißer Reiter drängte sich zwischen die Kämpfenden.

Kim betrachtete den Fremden mit einer Mischung aus Bewunderung und Furcht. Roß und Reiter waren vollkommen weiß, von der gleichen, milchigen Farbe wie das Eis, über das sie seit Stunden gelaufen waren. Der Mann war in dicke Pelze und schenkellange, fellgefütterte Lederstiefel gekleidet, und auch sein Tier wurde durch einen weißen Fellüberhang gegen die grimmige Kälte geschützt. Der Mann war riesig, nicht sosehr aufgrund seiner Körpergröße, obwohl er wirklich sehr groß war; viel mehr noch durch seine Ausstrahlung, jene Aura unerschütterlicher Überlegenheit und Kraft, die ihn wie ein unsichtbarer Schild umgab. Er wäre ein würdiger Gegner für Gorg gewesen, dachte Kim mit einem Anflug von Wehmut.

Die schwarzen Reiter formierten sich wieder. Baron Kart hatte sein Tier unter Kontrolle gebracht, und auch die Gestürzten kletterten rasch wieder in die Sättel und reihten sich hinter ihrem Anführer auf.

»Geh aus dem Weg«, zischte Kart. Seine Stimme klang sogar noch in dieser Umgebung eiskalt.

Der Eisriese schüttelte mit Bestimmtheit den Kopf. »Nein. Es wird keinen Kampf geben, Kart. Nicht hier.«

Kart warf zornig den Kopf zurück und rief einen scharfen Befehl. Zwei seiner Reiter rissen die Pferde herum, zogen ihre Waffen und galoppierten auf den weißen Riesen zu. Dieser wartete gelassen, bis die beiden Reiter heran waren, und hob dann die Hand. Ein zweifacher, gellender Aufschrei zerriß die Luft. Pferde und Reiter stürzten wie vom Blitz gefällt nieder und blieben reglos liegen. Ihre Körper überzogen sich augenblicklich mit Eis.

»Ich habe dich gewarnt, Kart«, sagte der Eisriese. »Halte deine Männer zurück, oder ihnen und dir widerfährt das gleiche Schicksal.« Er drehte den Kopf, musterte Kelhim und die anderen abschätzig und wandte sich dann an Kim. »Nun zu dir, Kim Larssen. Wir haben dich erwartet. Dich und deine Freunde. Ihr kommt spät.«

Kim erschrak. »Du... du kennst meinen Namen?«

Ein Lächeln glitt über das Gesicht des weißen Riesen. »Natürlich«, antwortete er. »Den deinen und auch die deiner Freunde. Ich weiß, warum ihr hier seid, und ich weiß auch, wie ihr gekommen seid. Nichts, was irgendwo in unserem Reich geschieht, bleibt uns verborgen.«

»Aber warum...« stotterte Kim, »was... wer... wer bist du?«

»Man hat uns viele Namen gegeben, und einer ist so gut wie der andere. Ich glaube, die Menschen von Märchenmond nennen uns die Weltenwächter.«

»Weltenwächter?« wiederholte Kim fragend. »Was bedeutet das?«

»Du wirst es erfahren. Doch nun kommt!« Er wendete sein Pferd, bewegte die Hand und ritt langsam voran. Die Nebelwand riß auf, und wo kurz zuvor nur leere, eisige Einöde gewesen war, erhob sich vor ihren staunenden Augen nun eine prächtige Burg, die ganz aus Eis und Schnee erbaut war. Schimmernde Eisbrücken verbanden die himmelstürmenden Türme der Festung miteinander, und über dem weitgeöffneten Tor prangte das aus Eis geformte Symbol der Unendlichkeit, eine liegende Acht.

Kelhim stieß einen Laut der Überraschung aus.

»Burg Weltende!« brummte er.

Der weiße Reiter verhielt sein Pferd und wartete, bis Kelhim und Kim neben ihm angelangt waren.

»Geht voraus«, sagte er. »Man erwartet euch.«

Kim zögerte. Kart und die vier verbliebenen Reiter hatten sich nicht von der Stelle gerührt. Aber Kim konnte beinah Karts haßerfüllten Blick im Rücken spüren.

»Geht ruhig«, sagte der Weltenwächter. »Ihr seid hier sicher. Burg Weltende ist ein Ort des Friedens. Boraas' Macht endet hier.«

Sie gehorchten und näherten sich dem Tor, während der Reiter hinter ihnen zurückblieb und langsam mit dem Nebel zu verschmelzen schien. Kim kam sich unglaublich winzig und verloren vor, als sie durch das mächtige Tor von Weltende traten, ein geschlagener, verlorener Haufen, von dessen einstigem Mut und Optimismus kaum noch etwas geblieben war. Diese plötzliche, neuerliche Rettung erschien ihm wie ein Wunder. Gleichzeitig fiel ihm wieder ein, was der Weltenwächter gesagt hatte. Nichts, was in unserem Reich geschieht, bleibt uns verborgen...

Bedeutete das, daß sie die ganze Zeit unter dem Schutz des weißen Riesen gestanden hatten? Kim dachte diesen Gedanken lieber nicht zu Ende. Denn wenn es so war, dann war zumindest Gorgs Opfer sinnlos gewesen.

Ein weiter, vereister Innenhof nahm sie auf. Kim hörte ein leises Geräusch. Als er sich umdrehte, sah er, wie sich die riesigen Torflügel schlossen. In der Mitte des Hofes blieben sie unschlüssig stehen. Die Türme und Mauern ragten ringsum glatt und fugenlos in die Höhe, ebenmäßige, schimmernde Wände ohne Fenster und Türen. Die Burg erinnerte Kim ein wenig an Gorywynn, nur daß, was dort aus Glas war, hier aus Eis und Schnee erbaut war und statt der funkelnden Farbenpracht hier kaltes steriles Weiß herrschte. Wo in Gorywynn Licht und Anmut die Linien der Architektur prägten, herrschte hier Ruhe und majestätische Größe vor. Und es war still. Unheimlich still.

Eine der fugenlosen Wände öffnete sich wie von Geisterhand, und ein Mann trat auf den Hof. Seinem Aussehen nach hätte er ein Bruder dessen sein können, der sie draußen empfangen und gerettet hatte; nur fehlte ihm etwas von der Macht und Ruhe, die jener ausstrahlte.

»Willkommen in Weltende, der Burg am Rande der Zeit«, sagte der Fremde. Kim fand die Worte ein wenig theatralisch, aber er nahm sich zusammen und nickte ernsthaft. Der Eisriese schwieg, als erwarte er eine Antwort, zuckte dann die Achseln und machte eine einladende Geste. »Folgt mir. Ich werde euch in eure Gemächer geleiten, wo ihr zu essen bekommt und eure Wunden gepflegt werden.«

So verlockend das Angebot auch klang, alle fünf blieben stocksteif stehen und machten keine Anstalten, der Einladung zu folgen.

»Ihr habt nichts zu befürchten«, sagte der Eisriese lächelnd. »Ihr befindet euch am sichersten Ort dieser Welt.«

»Darum geht es nicht«, gab Priwinn zurück. »Aber wir dürfen keine Zeit verlieren. Unser...«

»Euer Weg endet hier«, unterbrach ihn der Eisriese, noch immer freundlich, aber in sehr bestimmtem Ton.

»Was heißt das?« fragte Kim erschrocken.

»Euer Weg ist zu Ende, so, wie alle Wege hier enden. Kein Pfad, kein Weg, keine Straße führt über Burg Weltende hinaus.«

»Aber... aber irgend etwas muß doch auf der anderen Seite liegen«, stammelte Kim.

Der Eisriese schüttelte ernst den Kopf. »Nur das Nichts. Eure Welt endet hier.«

»Unsere Welt?« fragte Priwinn hellhörig. »Was heißt das - unsere Welt?«

»Es gibt mehr als nur eine Welt, Prinz der Steppe«, entgegnete der Eisriese geduldig. »Es gibt unzählige Welten, so, wie es unzählige Menschen mit unzähligen Gedanken gibt. Jeder von euch trägt mehr Welten in sich, als Planeten im Kosmos sind. Sie alle haben eines gemeinsam. Sie enden hier.«

»Dann gibt es doch einen Weg?« bohrte Priwinn. »Nur nicht für uns?«

»Es gibt einen«, antwortete der Eisriese zögernd, »doch ist er gefährlich und schmal und nicht für Wesen wie euch bestimmt. - Kommt jetzt. Wir werden später noch genug Zeit haben, uns darüber zu unterhalten.«

Er trat beiseite, und ein zweiter, dritter, vierter und fünfter Eisriese erschienen auf dem Hof, bis jeder von Kims Gefährten einen Führer hatte, dem er, wenn auch widerstrebend, ins Innere der Burg folgte. Die Gänge waren schmal und hoch, so hoch, daß man die Decke nicht sehen konnte und den Eindruck gewann, sich im Inneren der gewaltigen Burgmauern zu bewegen.

Kims Führer deutete auf einen Türbogen, der plötzlich aufklaffte, wo soeben noch fugenloses Eis gewesen war.

»Tritt ein, Kim.«

Kim sah sich unsicher nach den anderen um. Es paßte ihm nicht, von ihnen getrennt zu werden, aber er sah ein, daß jeder Widerstand zwecklos war. Die sanfte und freundliche Art der Eisriesen täuschte nicht darüber hinweg, daß ihre Gebote keinen Widerspruch duldeten.

Kim seufzte resignierend und folgte seinem Begleiter in den angrenzenden Raum. Hinter seinem Rücken verschmolz die Tür wieder spurlos mit der Wand.

Kim sah sich staunend um. Es gab keine Fenster und Türen, dennoch war das Zimmer taghell erleuchtet. Ein breites, bequemes Bett nahm eine ganze Seite des Raumes ein, davor stand ein Tisch mit einem hochlehnigen Stuhl. Auf dem Tisch türmten sich Teller und Schalen mit Früchten und Fleisch und Brot, daneben bauchige Krüge mit dampfenden Getränken. Alles in diesem Raum, selbst die Möbel und die Schalen, in denen die Speisen angerichtet waren, bestand aus Eis. Trotzdem war es warm, mollig warm sogar.

»Ich lasse dich jetzt allein«, verkündete Kims Begleiter. »Iß, trink und ruh dich aus. Später komme ich wieder, um deine Wunden zu versorgen.«

Kim wollte widersprechen, aber der Eisriese wandte sich rasch um und trat durch die geschlossene Wand hinaus. Kim starrte die Stelle, wo er verschwunden war, noch eine Weile verblüfft an, dann drehte er sich achselzuckend um und ging zögernd zum Tisch. Er schwankte zwischen dem immer mächtiger werdenden Wunsch, sich hinzulegen und endlich wieder einmal in einem weichen, warmen Bett zu schlafen, und seinem Hunger. Schließlich siegte letzterer. Vorsichtig ließ Kim sich auf dem zerbrechlich aussehenden Stuhl nieder und griff nach einem Teller mit duftenden Bratenscheiben. Das Fleisch war noch heiß, so daß er sich fast die Finger verbrannte. Trotzdem schmolz der Eisteller nicht. Aber Kim hatte längst aufgehört, sich über all das Unmögliche und Erstaunliche, das er hier erlebte, den Kopf zu zerbrechen. Er nahm es eben hin, wie es war.

Als er satt war, stand er auf, streckte seine müden Glieder und wankte zum Bett hinüber. Auch das Bettgestell bestand, wie nicht anders zu erwarten, aus Eis, und die Bettwäsche schien aus Schnee gewoben zu sein, so weich und anschmiegsam war sie. Er legte sich hin, deckte sich zu und war binnen Sekunden eingeschlafen.

Diesmal wurde er nicht von Alpträumen geplagt. Als Kim erwachte, fühlte er sich frisch und kräftig wie seit langem nicht mehr. Jemand war im Zimmer gewesen, während er schlief. Der Tisch war abgeräumt und das überreichliche Festmahl durch ein einfaches, aber gutes und reichliches Frühstück ersetzt worden, und neben seinem Bett stand eine Waschschüssel mit warmem Wasser.

Kim aß, wusch sich (in ebendieser Reihenfolge, weil es ihm plötzlich kindisches Vergnügen bereitete, mit solchen erzieherischen Grundsätzen zu brechen) und wartete dann ab, was weiter geschah.

Seine Geduld wurde auf keine lange Probe gestellt. Die Wand teilte sich lautlos, und sein Betreuer kam herein.

»Nun«, sagte der Eisriese freundlich, »ich hoffe, du warst mit der Unterbringung zufrieden?«

Kim nickte. »Sehr. Ich fühle mich wohl wie schon lange nicht mehr. Vielen Dank für alles.«

Der Eisriese nickte. »Du mußt sehr müde gewesen sein.«

»Ja. Aber jetzt fühle ich mich wieder großartig. Habe ich lange geschlafen?«

»Zwei Nächte und einen Tag«, antwortete der Eisriese.

»Zwei Nächte?« fragte Kim erschrocken.

»Du warst erschöpft, Kim. Wir haben dafür gesorgt, daß dein Körper die Ruhe nachholen konnte, die er so lange entbehren mußte.«

»Zwei Nächte!« wiederholte Kim. »Ich habe zwei Nächte und einen Tag verloren?«

»Nicht verloren, Kim. Sei unbesorgt. Nicht nur eure Welt, auch eure Zeit endet hier. Nicht eine Stunde wird vergangen sein, wenn du Weltende verläßt. Aber nun komm. Wir haben mit dir zu reden.«

Er trat auf den Gang hinaus und winkte Kim, ihm zu folgen.

»Was ist mit den anderen?« fragte Kim aufgeregt. »Mit Priwinn und Ado und Brobing? Und wie geht es Kelhim?«

»Sie ruhen noch«, antwortete der Eisriese, während sie ohne Hast den Gang hinunterschritten. »Die Wunde des Bären sah schlimm aus. Es wird eine Zeit dauern, ehe er wieder bei Kräften ist. Aber er wird es überleben, keine Sorge. Ihr habt viel riskiert«, fügte er nach einer Pause hinzu.

Sie schritten eine breite, lange Treppe hinunter, gingen durch einen weiteren hohen und schmalen Gang und standen schließlich vor einer geschlossenen Tür. In das schimmernde Eis ihrer Oberfläche war das Symbol der Unendlichkeit eingraviert, die liegende Acht, die Kim schon über dem Eingangstor aufgefallen war.

»Tritt ein!«

Kim gehorchte. Die Tür schwang lautlos auf, und Kim fand sich in einer hohen, kuppelartig gewölbten Halle wieder. Entlang den Wänden standen runde, blitzende Säulen aus blauweißem Eis. Eine seltsame, fast beklemmende Atmosphäre lag über dem Saal, und als Kim zögernd über den schimmernden Boden auf den Tisch in der Mitte zuging, glaubte er einen flüchtigen Hauch dessen zu verspüren, was das Symbol bedeutete. Einen Hauch der Unendlichkeit. Er schauderte.

»Tritt näher, Kim«, sagte der mittlere der drei Weltenwächter, die an dem halbrunden Tisch saßen und Kim aufmerksam entgegenblickten. »Du hast geruht, du hast gegessen, nun ist es an der Zeit zu reden.«

Kim schluckte. Ohne es begründen zu können, glaubte er einen unheilverkündenden Unterton aus der Stimme des Sprechers herauszuhören.

»Deine Freunde und du«, fuhr der Weltenwächter fort, »ihr habt ein großes Wagnis auf euch genommen, um hierherzugelangen. Schon viele vor euch haben versucht, das Ende der Welt zu finden, aber nur wenigen ist es gelungen.«

»Aber ich wollte nicht zum Ende der Welt«, sagte Kim unsicher. »Ich wollte zum...«

Der Weltenwächter unterbrach ihn mit einer raschen Handbewegung. »Wir wissen, welches dein Ziel war, Kim. Doch wisse du, daß deine Reise hier endet. Niemandem ist es bisher gelungen, den Weg zum König der Regenbogen zu gehen. Nicht hin und zurück.«

»Aber es gibt ihn?« fragte Kim.

Der Weltenwächter lächelte. »Ja, es gibt ihn«, sagte er. »Doch ist es keinem Menschen vergönnt, ihn zu sehen.«

»Aber ich muß zu ihm!« brauste Kim auf. »Nur er kann Märchenmond noch vor dem Untergang retten!«

»Er könnte es wohl, Kim. Aber auch wenn wir dir gestatten, deinen Weg weiterzuverfolgen, würdest du nie ans Ziel gelangen. Die Brücke über das Nichts wurde von Wesen geschaffen, die euch Menschen so überlegen sind wie ihr einer Ameise. Nicht einmal wir vermögen ihre Macht zu erahnen. Kein Mensch kann die Gefahren überwinden, die am Wegesrand lauern.«

»Das laßt nur meine Sorge sein«, entgegnete Kim. »Laßt es mich wenigstens versuchen. Rangarig und Gorg und all die anderen dürfen nicht umsonst gestorben sein. Wenn... wenn ich es nicht schaffe«, fügte er verzweifelt hinzu, »wird Märchenmond untergehen.«

»Hast du dich bis jetzt noch nicht gefragt, wozu wir eigentlich da sind?« fragte der Weltenwächter anstelle einer direkten Antwort. »Wir sind nicht nur da, um euch Menschen vor dem Sturz über den Weltenrand zu bewahren. Wir sind hier, um die Unendlichkeit zu schützen.«

»Vor uns?«

»Vor euch und jedem, der sie betreten will. Vor allem aber ist es unsere Aufgabe, leichtsinnige Narren wie dich vor Schaden zu bewahren. Es wäre dein Verderben, würden wir dich gehen lassen.«

»Aber ihr könnt doch nicht...« stotterte Kim. »Ich meine, ihr müßt doch... Märchenmond wird untergehen, wenn...«

»Wenn du ihm nicht hilfst, kleiner Held?« fragte der Weltenwächter mit gutmütigem Spott. »Glaubst du, mehr ausrichten zu können als Themistokles, mehr als all die mächtigen Zauberer Märchenmonds, mehr als die gewaltigen Heere, die Boraas gegen euch ins Feld wirft? Glaubst du das wirklich?«

Kim überlegte sich seine Antwort gründlich. Unbewußt spürte er, daß viel davon abhing und daß es mit einem halbherzigen Ja und Nein nicht getan war. Er fühlte, daß der Weltenwächter direkt in sein Herz hineinsah.

»Ja«, antwortete er. Und es war seine feste Überzeugung. Er wußte einfach, daß das Schicksal dieses riesigen, schönen Märchenlandes jetzt und für immer in seinen Händen lag, den Händen eines verwundbaren kleinen Jungen.

Der Weltenwächter nickte.

»Wenn es dein freier Wille ist, so kannst du gehen«, sagte er. »Aber wisse, wenn du Burg Weltende verläßt, verläßt du auch unseren Schutz. Vor dir haben schon andere den Sprung ins Nichts gewagt. Männer, Kim, große und mutige Helden. Doch keiner von ihnen ist zurückgekehrt.«

»Ich weiß«, murmelte Kim. »Aber ich muß es tun.« Plötzlich kam ihm ein Gedanke. »Warum helft ihr uns nicht?« fragte er.

»Warum sollten wir?«

»Vielleicht wird sich Boraas nicht damit zufriedengeben, Märchenmond zu erobern«, sagte Kim, nun kühner geworden. »Vielleicht reicht seine Macht doch weiter, als ihr denkt. Er hat schon einmal das Unmögliche möglich gemacht und mit der Hilfe seines schrecklichen Begleiters, des Schwarzen Lords, das Reich der Schatten verlassen und das Schattengebirge bezwungen. Warum sollte er nicht auch...«

»Wir werden uns zu schützen wissen, wenn es soweit ist«, fiel ihm der Weltenwächter ins Wort. »Es steht nicht in unserer Macht, fremde Geschicke zu lenken. Wir mischen uns nicht in eure Angelegenheiten ein. Selbst wenn wir es wollten, könnten wir es nicht. Auch wir sind nur winzige Teilchen im Gefüge von Raum und Zeit. Und über uns stehen Mächtigere. - Und nun«, sagte der Weltenwächter in verändertem Tonfall, »prüfe dein Gewissen ein letztes Mal. Wenn es dein fester Wille ist zu gehen, werden sich Weltendes Tore für dich öffnen. Für dich, Kim, für dich allein. Deine Begleiter müssen zurückbleiben. Denn die Brücke in die Unendlichkeit trägt immer nur einen Reisenden.«

Kim wollte antworten, aber der Weltenwächter hob die Hand. »Eines noch, kleiner Held. Du kamst hierher als Gejagter. Unsere Unparteilichkeit verbietet aber jegliche Einmischung. Deswegen wird auch dein Verfolger den Weg ins Nichts finden.«

Kim überlegte angestrengt. Was der Weltenwächter so kompliziert ausdrückte, bedeutete wohl nichts anderes, als daß Baron Kart ihm folgen würde.

»Er allein«, sagte der Weltenwächter, der tatsächlich seine Gedanken zu lesen schien, wie zur Bestätigung. »Seine Begleiter werden zurückbleiben, ebenso wie die deinen. Nun? Bist du noch immer bereit zu gehen?«

Kim nickte wortlos.

Eine Weile geschah gar nichts. Dann auf einmal begannen die Umrisse der Halle vor seinen Augen zu verschwimmen. Als Kim wieder klar sehen konnte, stand er auf einer weiten, hellgrauen Ebene. Ein vertrautes Gewicht zerrte an seinem linken Arm, und als er an sich herabsah, stellte er fest, daß er wieder seine schwarze Rüstung und den Schild trug.

Er schaute auf und erblickte eine glatte, unendlich hohe Mauer, die sich zu beiden Seiten in konturlosem Grau verlor. Von der Burg und der Schneelandschaft war nichts mehr zu sehen. Kim schauderte und drehte sich einmal um seine Achse. Die graue Ebene setzte sich nach beiden Seiten hin bis ins Unendliche fort, einem schmalen Sims gleich, der am Fuße der gewaltigen Weltenmauer ins Nichts hineinragte.

Lange Zeit stand Kim reglos da und starrte in die schwarze Unendlichkeit hinaus, die sich jenseits der Ebene ausbreitete. Das war nicht die samtige, sternenerfüllte Schwärze des Weltraums, die er erwartet hatte, nicht die Leere zwischen den Planeten. Es war, was der Weltenwächter gemeint hatte. Das Nichts.

Das absolute Nichts.

Kim stöhnte. Seine Glieder begannen zu zittern, und ein unbeschreibliches, tödliches Gefühl der Verlorenheit begann sich in seine Seele zu krallen. Dennoch war Kim unfähig, den Blick zu wenden.

Der menschliche Geist ist nicht dafür geschaffen, dem Nichts gegenüberzustehen. Wir mögen uns Leere vorstellen, vielleicht auch einen Zipfel der Unendlichkeit erfassen können. Aber das Nichts, etwas, worin nicht einmal Leere, nicht einmal Raum und Einsamkeit existieren, hat keinen Platz in unserer Vorstellungswelt. Die Idee des Nichts ist so abstrakt, daß sein Anblick, die wirkliche Anwesenheit des Nichts - an sich schon ein Widerspruch in sich selbst - zum Wahnsinn führen kann. Kim begriff plötzlich, von welchen Gefahren der Weltenwächter gesprochen hatte. Es gab keine Fallen, keine Ungeheuer, keine Feinde, die am Wegesrand lauerten. Das Nichts an sich war die Falle, ein tödliches Spinnennetz, in dem sich sein Geist verfing. Ein Labyrinth nie endender Stollen und in sich selbst gekrümmter Wege, in denen sich seine Gedanken rettungslos verirren würden.

Unter Aufbietung aller Willenskraft gelang es Kim, den Blick abzuwenden. Er schüttelte sich. Kalter, feinperliger Schweiß bedeckte seinen Körper.

Ein leises Geräusch ließ ihn aufblicken. Vor ihm, noch winzig klein und über die Entfernung mehr zu erahnen als wirklich zu erkennen, öffnete sich eine Pforte in der glatten Fläche der Weltenmauer, und eine riesenhafte, in schwarzen Stahl gepanzerte Gestalt trat heraus.

Einen Moment lang dachte Kim an Flucht. Aber nicht länger. Es gab nichts, wohin er hätte fliehen können. Er konnte laufen, rennen, doch wie weit er auch liefe, überall würde er nur diese glatte, graue Ebene am Rande des Nichts vorfinden. Die Zeit der Flucht und des Versteckens war endgültig vorbei.

Er zog sein Schwert aus der Scheide, packte seinen Schild fester und ging Baron Kart entgegen.

Ruhig, Schild und Schwert fest im Griff und das schwarze Visier vor dem Gesicht heruntergelassen, erwartete Kim den Angriff des Gegners. Kart war in wenigen Schritten Entfernung stehengeblieben. Der Morgenstern pendelte lose an seiner Seite, und die dunklen Augen hinter den schmalen Schlitzen seines Gesichtsschutzes schienen Kim abschätzig zu mustern.

»Es hat lange gedauert«, sagte er schließlich. Zum ersten Mal, seit Kim den schwarzen Baron kannte, klang seine Stimme nicht spöttisch oder herablassend, sondern drückte Respekt und Anerkennung aus. »Sehr lange. Noch nie hat es jemand geschafft, mich so lange an der Nase herumzuführen.«

»Und mir ist noch nie jemand so hartnäckig auf den Fersen geblieben«, gab Kim trotzig zurück. »Was willst du? Kämpfen oder reden?«

In Karts Augen blitzte es belustigt auf. »Gemach, kleiner Held, gemach. Wir haben Zeit. Viel Zeit. Nur einer von uns beiden wird diesen Kampf überleben, vergiß das nicht. Der Tod wird seinen Anteil früh genug bekommen.«

Kim musterte den Baron mißtrauisch. Waren Karts Worte nur ein weiterer Trick, ihn in Sicherheit zu wiegen, um dann, in einem Moment der Unachtsamkeit, überraschend zuzuschlagen?

Kart schüttelte den Kopf. »Du beschämst mich, Kim. Ich kämpfe hart, und wenn du auf Gnade hoffst, so wirst du enttäuscht werden. Aber ich bemühe mich stets, fair zu sein.«

Kim zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen. »Du... du liest meine Gedanken?« fragte er.

Kart nickte. »Vom ersten Moment an, Kim.«

»Aber... aber wie...?«

Kart lachte. Die Metallmaske vor seinem Gesicht verzerrte sein Lachen in ein hohles, blechernes Geräusch. »Du fragst dich, wie du entkommen konntest. Eine kluge Frage. Und jetzt, wo die Entscheidung bevorsteht, so oder so, kann ich sie dir beantworten. Das heißt, wenn du die Wahrheit hören willst.«

»Bitte«, sagte Kim mit mühsam beherrschter Stimme.

»Sie wird dir nicht gefallen, kleiner Held.«

»Rede!«

Kart zuckte die Achseln. »Es war geplant, Kim«, sagte er ruhig. »Von Anfang an. Nicht einer deiner Schritte war anders als geplant.«

»Aber...«

»Du allein hast es uns ermöglicht, Märchenmond anzugreifen«, fuhr Kart erbarmungslos fort. »Deine Flucht aus Morgon war nötig, ebenso wie deine Anwesenheit bei unserem Heer.«

»Dann... dann habt ihr gewußt, daß ich unter euch war?« Wieder lachte Kart. »Gewußt?« fragte er spöttisch. »So und nicht anders haben wir es geplant. Wir brauchten dich. Nur in deiner Begleitung war es unserem Heer möglich, das Schattengebirge zu überwinden. Dir allein war es gegeben, die Schranke nach Märchenmond zu öffnen.«

Kim stöhnte. Kalte Wut, gepaart mit hilfloser Verzweiflung, packte ihn. Wenn das stimmte, dann trug er, Kim Larssen, die Verantwortung für alles, was an Grausamem und Schrecklichem bereits geschehen war und vielleicht noch geschehen würde. Der Tod seiner Freunde, die Zerstörung Caivallons, jeder Tropfen vergossenen Blutes - alles seine Schuld. Das Böse hatte sich seiner als williges Werkzeug bedient und hielt ihm nun mit hämischer Genugtuung den Spiegel vors Gesicht. Du, du allein, Kim, bist schuld an den Leiden Märchenmonds.

Kim glaubte, in einen bodenlosen Abgrund zu versinken, als ihn die Erkenntnis traf. Wie sollte er, ein schwacher kleiner Junge, den Blick in diesen Spiegel ertragen können? Aber Kart redete ungerührt weiter.

»Wir waren es, die dich riefen, Kim. Wir! Nicht Themistokles. Wir fingen deine Schwester einzig zu dem Zweck, dich zu uns zu locken. Denn wir wußten, daß Themistokles sich in seiner Verzweiflung an dich wenden würde. Und wir wußten auch, daß du kommen würdest. Schon lange hatten wir den Untergang Märchenmonds beschlossen, aber das Schattengebirge verwehrte uns den Zugang. Nur ein Mensch aus eurer Welt konnte es überwinden, und als deine Schwester an jenem Tag einen verborgenen Paß fand und sich ins Reich der Schatten verirrte, erkannten wir unsere Chance. Du, nur du konntest unsere Truppen nach Märchenmond geleiten. Und nur du konntest unsere mächtigste Waffe zum Leben erwecken. Den Schwarzen Lord!«

»Hör auf!« rief Kim. »Hör endlich auf!«

Kart lachte kalt. »Warum? Kannst du die Wahrheit nicht ertragen, kleiner Held? Bist du nicht gekommen, um alles zu erfahren? Um beim König der Regenbogen Hilfe zu erbitten? Nun, der Weg dorthin ist weit und voller Gefahren, aber er führt auch über den Pfad der Wahrheit. Erkenne, was du getan hast, und gib auf.«

»Aufgeben?« schrie es aus Kim. »Nach allem, was du mir gesagt hast?«

»Ja. Es ist sinnlos weiterzukämpfen, Kim. Alles, was du getan hast, nutzte uns und schadete Märchenmond. Auch unsere Begegnung hier gehört mit zu unserem Plan. Gib auf, und ich werde dir das Leben schenken. Boraas' Angebot gilt noch immer. Komm zu uns, und du findest Macht und Reichtum statt Tod und Untergang. Überlege es dir gut, Kim. Es ist deine letzte Chance.«

Kim schüttelte entschieden den Kopf. Seine Verzweiflung hatte grimmiger Entschlossenheit Platz gemacht.

»Niemals!«

»Wie du willst. Es ist dein Leben, das du wegwirfst.«

»Bist du so sicher?« fragte Kim. »Ich habe gelernt, mich zu wehren, Kart.«

»Das weiß ich. Und glaube mir - nichts liegt mir ferner, als dich zu unterschätzen.«

»Dann kämpfe!« rief Kim.

Sein Schwert zuckte hoch, zielte nach Karts Brustpanzer und traf ins Leere, als der Baron mit einer blitzschnellen Bewegung auswich. Kim wirbelte herum und riß seinen Schild hoch. Karts Morgenstern begann zu kreisen, langsam, dann immer schneller, ein tödlicher Kreis aus schwarzem Stahl und Stacheln, und krachte schließlich mit betäubender Wucht auf den Schild herab. Kim wankte zurück und tauchte unter einem zweiten Schlag hindurch. Sein linker Arm war taub, und in der Schulter wühlte ein unbarmherziger Schmerz. Kim schlug zu, wich aus und trieb Kart mit einem blitzschnellen Hieb zurück.

Kart nickte anerkennend. »Du kämpfst gut«, lobte er. »Aber nicht gut genug!«

Wieder raste der Morgenstern herab, und wieder fing Priwinns Schild den Hieb im letzten Moment ab. Kim schrie vor Schmerz auf und schlug gleichzeitig zurück. Sein Schwert schrammte über Karts Brustpanzer und glitt ab, aber der Schlag ließ den Baron zurücktaumeln und verschaffte Kim für einen Augenblick Luft.

Er stöhnte. Seine ganze linke Seite brannte wie Feuer. Im Holz des Schildes zeigten sich lange, gezackte Risse. Noch ein paar solcher Schläge, und der Kampf war vorüber. Mit letzter Kraft hob Kim sein Schwert, täuschte einen waagrechten Stich vor und drehte die Klinge im letzten Moment aufwärts. Kart keuchte vor Überraschung. Er versuchte den Hieb mit dem Griff seiner eigenen Waffe aufzufangen. Kims Klinge glitt daran ab, schlug auf Karts behandschuhte Faust und prellte ihm die Waffe aus der Hand.

Kim sprang zurück und deutete schwer atmend auf den Morgenstern.

»Heb ihn auf«, preßte er mühsam hervor.

In Karts Augen blitzte es verwundert auf.

»Heb ihn auf«, wiederholte Kim. »Ich kämpfe nicht gegen einen Waffenlosen.«

Kart bückte sich nach seiner Waffe und sprang dann blitzschnell zurück. »Deine Ritterlichkeit wird dich das Leben kosten«, sagte er. »Noch einmal wirst du eine solche Chance nicht bekommen!« Er schwang die Stahlkugel hoch über den Kopf, duckte sich und griff mit wütendem Knurren an. Kim sprang zur Seite, wich der niedersausenden Stahlkugel aus und führte gleichzeitig einen Hieb gegen Karts Beine. Die Klinge prallte von den stählernen Beinschienen ab, aber der Schlag brachte Kart aus dem Gleichgewicht. Er stolperte, ruderte mit den Armen und fiel der Länge nach hin. Kim setzte mit einem triumphierenden Schrei nach und riß das Schwert hoch.

Aber er hatte nicht mit Karts Reaktionsgeschwindigkeit gerechnet. Schnell wie eine Schlange wälzte sich der Baron auf den Rücken, fing den Schlag mit seiner Waffe auf und trat mit aller Wucht nach Kims Brust. Sein stahlgepanzerter Fuß krachte gegen den Harnisch und schleuderte Kim meterweit zurück. Kim keuchte. Ein grausamer Schmerz schoß durch seinen Körper. Er bekam keine Luft mehr, und vor seinen Augen wallten blutrote Nebelschwaden. Verschwommen sah er, wie Kart auf die Füße sprang und auf ihn zukam. Instinktiv duckte sich Kim hinter seinen Schild und hob gleichzeitig das Schwert, als der Morgenstern herunterschwang. Die stählerne Kugel rutschte an der Klinge entlang. Ein grausamer Schlag riß Kims Arm hoch, schleuderte ihm die Waffe aus der Hand und ließ ihn in die Knie brechen.

Kart lachte schadenfroh.

»Nun, kleiner Held?« sagte er. Seine Stimme zitterte vor Anstrengung. »Tut es dir jetzt leid, daß du mir eine Chance gelassen hast?«

Kim schwieg verbissen. Das Schwert lag mehr als zwei Meter hinter ihm. Ebensogut hätte es auf dem Mond oder irgendwo in Gorywynn liegen können. Er war wehrlos.

»Nimm dein Schwert«, sagte Kart. »Du hast mir eine Chance gewährt. Nun gewähre ich sie dir.«

Kim zögerte.

»Du traust mir nicht?« fragte Kart lauernd. »Nimm das Schwert auf. Ich habe keine Bedenken, einen Waffenlosen zu töten.«

Kim stemmte sich hoch und ging rückwärts auf seine Waffe zu. Karts Augen verfolgten mißtrauisch jede seiner Bewegungen.

»Heb es auf!« donnerte Kart.

Kim holte tief Luft, bückte sich und griff nach der Klinge. Im gleichen Augenblick sprang Kart vor und ließ den Morgenstern mit vernichtender Kraft niedersausen. Kim warf sich zur Seite. Seine Finger verkrampften sich um den Schwertgriff. Der Morgenstern schlug auf seinen Schild auf und brach ihn krachend entzwei. Die Wucht des Schlages schmetterte Kim zu Boden. Blind vor Schmerz rollte er herum, riß instinktiv das Schwert hoch und wartete auf den letzten, tödlichen Hieb.

Aber dieser blieb aus. Ein harter Ruck ging durch die Waffe in Kims Händen, und Baron Kart taumelte mit einem röchelnden Laut zurück. Der Morgenstern polterte zu Boden. Kart stolperte ein paar Schritte rückwärts, brach in die Knie und sank langsam vornüber.

Kim starrte verblüfft auf die Spitze seines Schwertes. Die Klinge schimmerte von Blut. Kart mußte direkt in die Waffe hineingelaufen sein.

Langsam ließ Kim das Schwert sinken, er erhob sich und ging zu dem gestürzten Riesen hinüber. Der schwarze Baron lebte noch, doch der Boden unter ihm rötete sich mehr und mehr von seinem Blut. Als Kim neben ihm niederkniete und in seine Augen blickte, sah er, daß der Tod bereits die Hand nach ihm ausgestreckt hatte.

»Gut... gekämpft, kleiner Held«, stieß Kart mühsam hervor. »Zu gut... für mich... ich... hätte dir vielleicht doch keine Chance geben sollen.« Er lachte bitter. »Ist das nun Zufall oder der Wink einer höheren Gerechtigkeit?«

»Gerechtigkeit?«

»Ja, Gerechtigkeit. Vielleicht war es die Strafe für... für meine Heimtücke. Aber vielleicht ist es auch richtig so. Vielleicht mußtest du siegen, um endgültig zu verlieren.«

Kim dachte einen Moment über Karts Worte nach. Waren dessen Sinne schon so verwirrt, oder war dies noch eine letzte, hinterhältige Drohung?

»Hör mir zu, Kim«, flüsterte Kart mit ersterbender Stimme. »Du hast dich tapfer geschlagen, und auch wenn wir auf verschiedenen Seiten stehen, so achte ich Mut und Tapferkeit auch bei meinen Feinden. Darum will ich dir einen Rat geben. Und diesmal meine ich es ehrlich.« Er hielt inne. Als er fortfuhr, spürte Kim, wieviel Kraft es ihn kostete, die Worte hervorzustoßen. »Der Weg, der vor dir liegt, ist schwer. Selbst ich hätte nicht den Mut, ihn zu gehen. Aber du kannst es schaffen. Achte auf alles, was dir begegnet. Gerade was harmlos erscheint, mag eine tödliche Gefahr bergen.« Er wollte noch mehr sagen, aber die Stimme versagte ihm. Seine Atemzüge versiegten. Er war tot.

Kim kniete noch lange neben dem Toten. Vergeblich wartete er darauf, daß sich so etwas wie Triumph oder Zufriedenheit einstellte. Sosehr er seine Seele auch durchforschte, von solchen Gefühlen war nichts zu finden. Allenfalls Trauer. Trauer und fast etwas wie Abscheu vor sich selbst. Er hatte einen Menschen getötet. Die Tatsache, daß dieser Mensch sein Feind war und unsägliches Leid über diese Welt und ihre Bewohner gebracht hatte, änderte nichts daran. Nach seinem Gewissen war Kim ein Mörder.

Er stand auf, löste den zerbrochenen Schild von seinem Arm und bückte sich, um sein Schwert vom Boden aufzuheben. Seine Fingerspitzen verharrten sekundenlang auf dem schwarzen Griff, und für einen Augenblick sah er nichts außer der schwarzen, blutbesudelten Klinge.

Er zog die Hand wieder zurück.

Nein, dachte er.

Er hatte einmal getötet, einmal zuviel. Er würde es nie wieder tun.

Er drehte sich um, näherte sich der Kante und blieb einen halben Schritt vor dem Nichts stehen. Die Brücke war da, wie der Weltenwächter gesagt hatte: ein breiter, in kühnem Bogen geschwungener Steg in allen Farben des Regenbogens, dessen Ende sich in der Unendlichkeit verlor.

Langsam, mit festen Schritten trat Kim auf die Brücke und ins Nichts hinaus.

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