IV

Boraas lächelte. Die goldenen Ringe an seinen Fingern blitzten, als er die Hände bewegte. Auf die Armlehnen des Thrones gestützt, beugte er sich weit vor.

»Ja«, sagte er. »Ich bin Boraas. Und ich heiße dich auf Burg Morgon willkommen, Kim. Ich habe lange auf dich warten müssen.«

»Auf mich?« fragte Kim überrascht.

»Auf dich. Oder auf jemanden wie dich«, sagte Boraas. »Es bleibt sich gleich.«

»Aber...«

Boraas machte eine herrische Geste. »Geduld, Kim. Du wirst alles erfahren, wenn die Zeit reif ist.«

Kim fuhr wütend auf. »Ich will nichts erfahren, ich...«

»Schweig!« donnerte Boraas. »Ich habe dich nicht herkommen lassen, um mit dir zu diskutieren.«

»Du hast mich kommen lassen... ?«

»Natürlich. Du wärst nicht hier, wenn nicht auf meinen Wunsch. Niemand betritt mein Reich gegen meinen Willen. Ich habe mir erlaubt, die lächerliche Flugmaschine, in der du hierhergereist bist, ein wenig umzudirigieren.«

»Du?« rief Kim verblüfft. »Du warst das?« Er dachte an die unsichtbare Kraft, die die Viper vom Kurs abgebracht und ihn beinah das Leben gekostet hatte. »Dann... dann habe ich dir den Absturz zu verdanken«, sagte er wütend.

Boraas lächelte dünn, machte »tz, tz, tz!« und lehnte sich zurück. »Du betrachtest die Dinge vom falschen Standpunkt aus, Kim«, sagte er. »Du hast mir nicht den Absturz, wohl aber dein Leben zu verdanken. Wäre Baron Kart nicht rechtzeitig mit seinen Männern zur Stelle gewesen, wärst zu gestorben.«

»Baron Kart?«

»Sehr richtig. Ich empfange meine Gäste stets mit der gebührenden Ehre. Aber ich sehe, daß du es nicht zu schätzen weißt. Baron Kart ist mein engster Vertrauter. Betrachte es als Auszeichnung, daß ich ihn und seine Garde sandte, um dich zu holen.«

Kim warf dem schwarzen Ritter einen kurzen Blick zu und wandte sich dann wieder an Boraas.

»Was willst du von mir?« fragte er.

»Eine kluge Frage, Kim. Leider ist sie leichter gestellt als beantwortet.«

Kim musterte den alten Zauberer argwöhnisch. Er mußte an das denken, was Themistokles über Boraas gesagt hatte. Und sein eigenes Erlebnis bestärkte ihn noch in dem Vorsatz, äußerste Vorsicht walten zu lassen. Er würde jedes Wort, das der Zauberer sprach, gründlich überdenken, ehe er antwortete.

»Ich nehme an, mein Bruder hat dir von mir erzählt«, sagte Boraas.

»Dein... Bruder?« fragte Kim überrascht.

Boraas nickte. »Sicher. Themistokles und ich sind Brüder. Sehr verschiedene Brüder, wie ich zugeben muß. Unsere Wege haben sich... getrennt. Vor langer, langer Zeit.«

Natürlich! dachte Kim. Daher die Ähnlichkeit zwischen Boraas und Themistokles. Er hätte von selbst darauf kommen müssen.

»Ja, er hat von dir erzählt«, bestätigte er. »Er hat mir auch gesagt, daß du meine Schwester gefangenhältst.«

Boraas machte eine wegwerfende Handbewegung. »Themistokles versäumt keine Gelegenheit, mir Übles nachzusagen.«

»Dann stimmt es also nicht?«

Boraas zuckte die Achseln. »Deine Schwester ist hier«, antwortete er. »Das stimmt. Und es stimmt auch, daß sie Burg Morgon nicht verlassen darf, ehe nicht gewisse... Dinge geschehen sind.«

»Rebekka ist hier?« rief Kim. »Ich will sie sehen.«

»Eins nach dem anderen, Junge«, sagte Boraas. »Du wirst deine Schwester sehen, sobald die Zeit dafür gekommen ist. Zuerst möchte ich wissen, weshalb Themistokles dich rief.«

»Das weißt du ebensogut wie ich.«

Boraas schüttelte betrübt den Kopf. »Ich weiß es nicht, und auch du weißt es nicht. Du glaubst es nur zu wissen. Aber was immer er dir geboten hat - ich biete dir mehr. Arbeite mit mir zusammen, und du wirst alles haben, was du dir wünschst. Macht, Reichtum, ewiges Leben - alles.«

Kim blickte den Zauberer mit wachsender Verblüffung an. Da stand er hilflos, ein Gefangener dieser Burg und ihrer schwarzen Ritter, und Boraas bot ihm Zusammenarbeit an!

»Du...« stammelte er, »du willst...!«

»Dich!« donnerte Boraas. »Dein Wort und deine Treue, nicht mehr und nicht weniger. Der Streit zwischen mir und meinem Bruder währt nun schon seit unzähligen Jahren. Ich bin es leid, mich immer wieder gegen seine Intrigen schützen zu müssen, meine Burg und mein Land nie in Sicherheit zu wissen. Kämpfe mit mir zusammen, und wir werden siegen. Themistokles hat unserer vereinten Macht nichts entgegenzusetzen.«

»Macht?« fragte Kim ungläubig.

Ein dünnes Lächeln umspielte Boraas' Lippen. »Ich weiß, was du jetzt denkst. Aber du irrst. In dir schlummert Macht, eine Kraft, die vielleicht noch größer ist, als Themistokles sich träumen ließ. Aber du allein kannst sie nicht erwecken. Ich kann es. Komm zu mir, und wir werden diesen Schandfleck von der Landkarte des Universums fegen. Gemeinsam sind wir mächtig, Kim. Allmächtig!«

Kim schauderte. In einer blitzartigen Vision sah er noch einmal das graue, kranke Land, durch das sie gekommen waren, an sich vorüberziehen. Das Reich der Schatten. Und er sah, wie sich dieses Reich ausbreitete, über das Schattengebirge hinwegflutete wie eine alles erstickende Welle, die Land um Land, Welt um Welt verschlang, und schließlich den ganzen Kosmos umfaßte, ein Universum der Schrecken und des Leids.

»Niemals!« sagte er.

Boraas zeigte sich nicht im mindesten überrascht. Lächelnd betrachtete er einen der juwelengeschmückten Ringe an seinen Fingern.

»Ich habe diese Antwort erwartet«, sagte er gleichmütig. »Fürs erste jedenfalls. Aber wir haben Zeit.«

»Zeit?«

»Ich bin überaus geduldig, Kim«, sagte Boraas sanft. »Du wirst Gelegenheit bekommen, deine Entscheidung zu überdenken.«

»Niemals!« wiederholte Kim mit Nachdruck. »Du kannst mich für zehn Jahre in deine Verliese werfen, und ich werde dennoch nicht auf deiner Seite kämpfen.«

»Das mag sein. Vielleicht jedoch nach zwanzig Jahren. Oder nach hundert. Wir haben alle Zeit der Welt, Kim.« Er grinste zufrieden. »Aber ich brauche deine Zustimmung gar nicht, weißt du«, fuhr er in leichtem Plauderton fort. »Du bist bereits auf halbem Weg zu mir. Du weißt es nur noch nicht. Aber auch wenn du es wüßtest, wärest du machtlos. Im Gegenteil - das Wissen würde die Entwicklung nur beschleunigen. Du beginnst schon, mich zu hassen. Oh, noch spürst du es nicht, aber nach den ersten Tagen im Kerker wirst du es fühlen. Du wirst fühlen, wie der Haß in dir wächst, wie er sich ausbreitet, schleichend, unaufhaltsam. Du wirst dich dagegen wehren, aber es wird dir nichts nützen. Du wirst in einem dunklen, schweigenden Kerker sitzen, allein mit dir und deinem Haß, und nach einiger Zeit wirst du an nichts mehr denken als an das, was ich dir und deiner Schwester angetan habe. Und dann wirst du beginnen, Pläne zu schmieden. Pläne für einen Ausbruch, für eine Flucht. Du weißt, daß eine Flucht nicht gelingen kann. Und dann, irgendwann, wirst du anfangen, Mordpläne gegen mich zu ersinnen. Du wirst an nichts anderes mehr denken als an deinen Haß und deine Rache. Und dann, Kim, wenn du ausgezehrt bist von Haß, dann wirst du bereit sein.« Er beugte sich vor, faltete die Hände und stützte das Kinn darauf. »Ja!« sagte er. »Themistokles hatte recht, mit jedem Wort, das er dir über mich erzählt hat. Mein Reich ist das Reich der Schatten, des Bösen. Und der Haß ist böse. Er ist eine unserer stärksten Triebkräfte. Der Haß wird auch von dir Besitz ergreifen, auch und gerade gegen deinen Willen. Und dann, Kim, dann gehörst du mir!«

»Hör auf!« schrie Kim. Er hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu und krümmte sich wie unter Schmerzen zusammen. »Hör auf!« schrie er noch einmal. »Hör auf! Hör auf! Hör auf!«

Boraas lachte schallend.

»Du spürst es schon, nicht wahr? Aber noch bist du nicht bereit. - Bringt ihn weg!«

Kim reagierte blitzschnell. Eine schwarze, behandschuhte Hand griff nach ihm, aber er schlug den Arm beiseite. Der Laserstrahler sprang wie von selbst in seine Hand.

»Keinen Schritt weiter!« rief er.

Boraas lachte gellend auf. »Packt ihn!« befahl er.

Ein Ritter machte einen Schritt, und Kim drückte ab.

Nichts geschah.

Kim blickte ungläubig auf den Strahler, drückte noch einmal ab und noch einmal. Aber der tödliche Lichtblitz blieb aus. »Narr!« höhnte Boraas. »Glaubst du wirklich, ich würde noch da sitzen, wenn eure Waffen hier funktionierten? Was glaubst du, warum dein Fahrzeug ausfiel? Kein Erzeugnis eurer Technik kann hier funktionieren, keines!« Er lachte und wurde übergangslos ernst. »Aber wenn du gerne mit Blitzen spielst - das kannst du haben!«

Seine Hand zuckte wie eine zustoßende Natter vor. Ein blauer, knisternder Funke lief über seine Finger, raste auf Kim zu und schmetterte ihm die Waffe aus der Hand.

Kim schrie auf. Er taumelte zurück und umklammerte seinen Arm. Ein wahnsinniger Schmerz tobte bis in die Schulter hinauf. Dann wich alles Gefühl aus seinen Muskeln. Der Arm sank wie gelähmt herab.

Ein schwarzer Ritter packte Kim, drehte ihn grob herum und stieß ihn vor sich her durch den Saal. Boraas' höhnisches Gelächter verfolgte ihn bis auf den Gang hinaus.

»Wir sehen uns wieder, Kim!« rief er. »Bald! Vielleicht eher, als dir lieb ist. Denk daran. Und daran, was ich dir prophezeit habe!«

Dann schlug der schwere Vorhang hinter Kim und seinem Bewacher zusammen und schnitt Boraas' Gelächter ab.

Der Ritter führte ihn durch ein Labyrinth von Stiegen und Gängen tiefer und tiefer in die Burg. Kim dachte nicht an Flucht. Er wußte, daß er seinem Bewacher nicht entkommen konnte. Und wenn doch, würde er sich bloß in den verworrenen Gängen und Hallen der Burg verirren. Nein - er mußte auf eine bessere Gelegenheit warten.

Schließlich gelangten sie in einen fensterlosen, niedrigen Gang. Ein unheimlicher, grünlicher Schimmer breitete sich darin aus. Auf dem Boden faulten Abfälle und schlammiges Wasser. Der Gestank war unerträglich.

Der Ritter öffnete eine schwere Holztür. Ein halbes Dutzend Stufen führten in einen fensterlosen Kerker hinab. Von der Decke tropfte Wasser. Als Kim zögernd über die Schwelle trat, huschte eine Ratte über seinen Fuß und verschwand quiekend in der Dunkelheit.

Dann schlug die Tür hinter ihm zu. Kim stand da, ballte die Fäuste und wartete, bis seine Knie aufhörten zu zittern.

Er war gefangen - rettungslos. Er dachte daran, was Themistokles über den Herrn der Schatten und seine unterirdischen Verliese gesagt hatte.

Noch nie war es einem lebenden Menschen gelungen, aus Boraas' Kerker zu entkommen.

Er wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war. Dreimal hatte er sich zum Schlafen auf den feuchten Steinboden gelegt, und sieben- oder achtmal waren ihm durch eine schmale Klappe in der oberen Hälfte der Tür eine Schale mit Wasser und kleine Stücke eines bitterschmeckenden Brotes gereicht worden, das er mit Widerwillen herunterschlang. Er verbrachte Stunde um Stunde damit, in der absoluten Finsternis seines Gefängnisses zu hocken und Fluchtpläne zu schmieden, einer so perfekt - und so aussichtslos - wie der andere.

Schließlich, als Kim sich zum vierten Mal niedergelegt hatte und mit schmerzenden Gliedern und fiebriger Stirn eingeschlafen war, wurde die Tür seines Kerkers erstmals geöffnet.

Kim fuhr schlaftrunken hoch, als ihn das rostige Quietschen weckte. Schwaches rötliches Licht fiel in einem dreieckigen Streifen vom Gang herein und beleuchtete die große Gestalt des schwarzen Ritters, der in den Kerker getreten war.

»Komm mit. Unser Herr will dich sprechen!«

Kim nickte gehorsam und stand mit zitternden Knien auf. Er spürte plötzlich, wie schwach er war. Das Licht tat seinen an die lange Dunkelheit gewöhnten Augen weh, und als der Ritter ihm die Hand auf die Schulter legte und ihn mit sanftem Druck die Treppe hinaufschob, hätte er vor Schmerzen am liebsten aufgeschrien. Er stolperte und wäre gestürzt, wenn sein Bewacher nicht blitzschnell zugegriffen hätte.

Kim schüttelte die Hand trotzig ab und ging aus eigener Kraft weiter. Elend und krank, wie er sich fühlte, erschien ihm der Weg jetzt viel weiter als beim ersten Mal. Er hätte sich gern ein wenig ausgeruht. Aber sein Bewacher trieb ihn unbarmherzig weiter.

Sie durchquerten den Thronsaal und stiegen über eine schmale, steinerne Wendeltreppe weiter nach oben. Am Ende der Treppe lag eine niedrige Kammer, von der eine Tür auf die runde, von einer meterhohen Steinbrüstung eingefaßte Plattform eines Turmes hinausführte.

Dort stand Boraas und erwartete ihn. Der Zauberer trug einen wallenden schwarzen, silberbestickten Mantel. In den Händen hielt er einen dünnen silbernen Stab, einem Zepter nicht unähnlich, der von einer stilisierten Schlange mit weit aufgerissenem Maul umwunden war.

Kim hob die Hand vor die Augen, als er in den hellen Sonnenschein hinaustrat.

»Nun?« begann Boraas ohne Einleitung. »Hast du es dir überlegt?« Er entließ den Ritter mit einer Handbewegung und stellte sich Kim gegenüber, mit dem Rücken an die Brüstung gelehnt.

Eine Weile musterte er Kim schweigend. »Du willst nicht antworten«, stellte er sachlich fest. »Das habe ich befürchtet. Vielleicht sollte ich dich noch eine Zeitlang einsperren.« Er drehte nachdenklich den Stab in den Händen und wartete offensichtlich auf eine Antwort.

Kim schwieg beharrlich. Boraas hatte ihn sicher nicht aus dem Kerker heraufholen lassen, um sich mit ihm zu unterhalten. Er wollte etwas von ihm, irgend etwas, was anscheinend doch nicht soviel Zeit hatte, wie er Kim hatte weismachen wollen.

»Ich hoffe, du warst mit der Unterbringung zufrieden«, sagte Boraas spöttisch. »Burg Morgon ist nicht darauf eingerichtet, so hohe Gäste wie dich zu beherbergen. Aber wir geben uns Mühe.«

»Es ging«, antwortete Kim sarkastisch. »Ich habe schon besser geschlafen, aber ich will mich nicht beschweren.«

Boraas lachte.

»Du gefällst mir, Kim«, sagte er. »Ich weiß nicht, ob aus dir die Tapferkeit eines Mannes oder die Verstocktheit eines Kindes spricht, aber du gefällst mir. Komm her.«

Kim folgte widerwillig seiner Aufforderung. Boraas drehte sich um, lehnte sich über die steinerne Brüstung und deutete mit dem Stab nach Westen.

»Mein Reich«, sagte er stolz. »Alles, so weit du sehen kannst, gehört mir. Es gibt kein lebendes Wesen zwischen diesen Bergen, das sich meinen Befehlen widersetzen würde.«

Sie standen auf dem höchsten Turm der Burg. Der Blick schweifte ungehindert über das weite, graue Land, über Wälder, Ebenen und Sümpfe bis an den Fuß des Schattengebirges. Kim versuchte die Entfernung bis dahin zu schätzen, aber die ungeheure Höhe der schneebedeckten Gipfel machte es unmöglich. Er sah nur, daß es weit war, drei, vier Tagereisen, vielleicht noch weiter.

Boraas folgte seinem Blick und grinste hämisch. »Du denkst an Flucht, nicht wahr?« sagte er. »Nun, du wirst dich damit abfinden müssen, daß es unmöglich ist, Morgon gegen meinen Willen zu verlassen. Das haben vor dir schon andere versucht.«

Kim ging nicht darauf ein.

»Was willst du?« fragte er.

»Du weißt es. Ich habe dir vor vier Tagen ein Angebot gemacht. Ich wiederhole es jetzt.«

»Meine Antwort lautet nein!«

Boraas schwieg eine Weile. Ein Windstoß bauschte seinen Umhang, und Kim konnte für einen Moment die glänzendschwarze Rüstung sehen, die der Magier darunter trug.

»Nun gut«, sagte Boraas schließlich. »Vielleicht habe ich dich unterschätzt. Spielen wir mit offenen Karten. Ich habe nicht soviel Zeit, wie ich dich glauben machen wollte.«

»Ich weiß«, murmelte Kim. »Sonst hättest du mich nicht holen lassen.«

Boraas' Augen funkelten wütend. »Du bist klug, Kim«, sagte er. »Fast schon zu klug. Aber ich werde, wie gesagt, mit offenen Karten spielen. Ich habe noch einen Trumpf im Ärmel.«

»So?« fragte Kim.

»Deine Schwester.«

Kim zuckte zusammen. Aber kein Laut kam über seine Lippen. Er ballte nur in stummer Wut die Fäuste.

Boraas grinste höhnisch. »Du hast den Wunsch geäußert, sie zu sehen. Nun gut, ich will ihn dir erfüllen. Vielleicht bist du hinterher ein wenig einsichtiger.« Er stieß sich mit einem Ruck von der Mauer ab, ging zur Tür und winkte Kim, ihm zu folgen.

Der Weg führte steil treppab, durch endlose Gänge, vorbei an unzähligen Türen und Abzweigungen. Kim versuchte sich den Weg zu merken, sah aber bald ein, daß es aussichtslos war. Morgon schien ein einziges, gigantisches Labyrinth zu sein. Es war ihm ein Rätsel, wie sich der Zauberer und seine schwarzen Ritter hier zurechtfinden konnten.

Sie blieben vor einer hohen, verschlossenen Metalltür stehen. Kim konnte nirgends ein Schlüsselloch oder eine Klinke erkennen. Boraas berührte die Tür flüchtig mit seinem Stab. Ein heller Glockenton erklang, und die Metallplatte fuhr zischend in die Wand zurück.

Kim schloß geblendet die Augen. Gleißendes Licht flutete ihm entgegen. Es dauerte eine Weile, bis er sich an die unnatürliche Helligkeit gewöhnt hatte. Das Gesicht mit einer Hand abgeschirmt, trat er durch die Tür.

Der Raum unterschied sich von allem, was er in Morgon bis jetzt gesehen hatte. Die Wände waren aus Metall, und die Decke schien ein einziger, gewölbter Spiegel zu sein.

Kim schrie auf.

Die spiegelnde Rückwand des Raumes teilte sich und gab den Blick auf einen quadratischen schwarzen Steinsockel frei. Auf seiner polierten Oberfläche stand ein großer gläserner Sarg. Und in ihm lag eine kleine, blasse Gestalt.

»Rebekka!«

Boraas machte kein Hehl daraus, daß er die Situation genoß.

»Ja, Kim. Deine Schwester. Du wolltest sie doch sehen, oder?«

Kim trat einen Schritt auf sie zu und prallte gegen eine unsichtbare Wand.

»Was hast du mit ihr gemacht?« fragte er mit zitternder Stimme.

»Nichts«, antwortete Boraas. »Und um deiner nächsten Frage zuvorzukommen - ich werde ihr auch nichts tun. Sie schläft, das ist alles.« Er verzog die Lippen zu einem boshaften Lächeln. »Es ist jedoch kein sehr ruhiger Schlaf«, fuhr er erklärend fort. »Sie schläft, aber sie ist trotzdem wach.« Er tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Schläfe. »Ihr Körper schläft, doch ihr Geist ist wach. Und sie wird so lange weiterschlafen, wie ich es will. Keine Macht der Welt kann sie erwecken, Kim. Nur ich. Und die Entscheidung liegt ganz allein bei dir.«

Kim schloß die Augen. Er versuchte sich vorzustellen, wie das sein mußte - dazuliegen, alles um sich herum zu hören und zu fühlen, aber sich nicht rühren zu können, gefangen in einem unsichtbaren Kerker. Die vier Tage in Boraas' finsterem Verlies hatten ihn fast an den Rand des Wahnsinns getrieben. Doch das, was seine Schwester durchmachen mußte, war tausendmal schlimmer.

»Du... du Ungeheuer«, rief er. »Du Monster. Du...« Er ballte die Fäuste und trat drohend auf Boraas zu.

Boraas lachte. »Du nennst mich ein Ungeheuer?« sagte er belustigt. »Das Schicksal deiner Schwester liegt in deiner Hand, Kim. Ein Wort von dir genügt, und ich werde sie aufwecken. Jetzt sofort, wenn du willst.«

Mit einem Mal ahnte Kim, was Boraas gemeint hatte, als er sagte, er würde anfangen, ihn zu hassen. Plötzlich hatte er keinen anderen Wunsch, als sich auf diesen bösen alten Mann zu stürzen und ihn zu erwürgen.

Boraas kicherte.

»Weiter so, Kim. Weiter! Du bist auf dem richtigen Weg! Du beginnst bereits, mich zu hassen.«

»Das... das stimmt nicht«, keuchte Kim.

»Doch, es stimmt, ich weiß es. Ich lese in dir wie in einem offenen Buch. Es gibt nichts, was du vor mir verheimlichen könntest. Sieh ein, daß du verloren hast.«

Kim stöhnte. »Ich...«

»Du hast keine Wahl«, fuhr Boraas unbeirrt fort. »Du kannst deine Schwester von ihrer Qual erlösen und dich freiwillig auf meine Seite stellen. Oder du kannst ihr Leiden verlängern, Tage, Wochen, vielleicht Monate, bis dein Haß dich überwältigt hat. Du hast keine Wahl!« Die letzte Spur von freundlichem Spott war aus seiner Stimme gewichen.

»Entscheide dich!« sagte Boraas.

Kim war wie gelähmt. Mit einem Gefühl vollkommener Hilflosigkeit starrte er den gläsernen Sarg an.

»Rebekka...« flüsterte er. Seine Augen füllten sich mit Tränen.

»Nun gut«, sagte Boraas. »Ich sehe ein, daß dies alles etwas zuviel für dich war. Ich gebe dir noch eine Stunde, dich zu entscheiden. Aber keine Sekunde mehr.« Er hob seinen Stab, und die schimmernde Metallwand schob sich wieder zwischen sie und den Sarg.

»Komm jetzt!«

Kim wankte hinter dem Magier aus dem Raum. Eine schwarze Gestalt, durch den Schleier von Tränen nur undeutlich zu erkennen, tauchte vor ihm auf.

»Bring ihn in den Thronsaal«, befahl Boraas. »Und gib gut auf ihn acht.«

Der schwarze Ritter legte Kim eine schwere, gepanzerte Hand auf die Schulter.

Boraas drehte sich um und entfernte sich mit schnellen Schritten, während Kim und seine Bewacher den Weg zurückgingen, den sie gekommen waren.

Kims Gedanken klärten sich allmählich. Er zitterte am ganzen Leib, und seine Kehle war trocken und wie zugeschnürt. Er wußte, daß Boraas recht hatte, mit jedem Wort. Er hatte keine Wahl.

Sie erreichten einen Treppenabsatz. Kim stolperte, fing sich im letzten Augenblick an der Wand und wäre um ein Haar gestürzt. Die gepanzerte Hand glitt von seiner Schulter. Kim blieb einen Moment stehen, drehte sich halb um und starrte in das ausdruckslose Metallgesicht.

»Weiter!« befahl der Riese. Seine Hand hob sich drohend. Kim blickte wieder geradeaus. Er setzte den Fuß auf die nächste Treppenstufe - und stieß dem Ritter mit aller Macht den Ellbogen gegen die Brust.

Ein scharfer Schmerz zuckte durch seinen Arm. Der Ritter schrie auf, ruderte mit den Armen und kippte hintenüber. Er schlug mit einem Krachen auf den steinernen Treppenstufen auf, rutschte noch ein paar Meter und blieb dann liegen.

Kim starrte den reglosen Körper erschrocken an. Er hatte nicht nachgedacht, sondern rein instinktiv gehandelt.

Hastig blickte er sich nach allen Seiten um und eilte dann die Stufen zu dem Gestürzten hinunter. Der Ritter bewegte eine Hand und stöhnte leise. Kim bückte sich, zog das armlange Schwert aus der Scheide und wandte sich zur Flucht. Er machte sich nichts vor - seine Flucht würde rasch entdeckt werden, und wenn ihn die schwarzen Ritter stellten, würde ihm auch die Waffe nichts nützen. Aber wenigstens, dachte er grimmig, würde er nicht kampflos sterben. Boraas sollte an den Tag, an dem er ihn gefangengenommen hatte, noch lange zurückdenken.

Er stürmte die schmale Treppe hinauf, bog wahllos in einen Seitengang ein und lief weiter, ohne nur einmal zu verschnaufen. Vor ihm schimmerte graues Zwielicht. Er beschleunigte seine Schritte noch mehr, rannte durch einen niedrigen Torbogen und stand plötzlich auf einem schmalen, zugigen Wehrgang.

Es ließ sich schwer sagen, wer erstaunter war - Kim oder der schwarze Ritter, der plötzlich wie aus dem Boden gewachsen vor ihm auftauchte. Aber genauso wie zuvor auf der Treppe reagierte Kim rein instinktiv. Er sprang zur Seite, trat nach den Beinen des Ritters und riß gleichzeitig das Schwert hoch. Der Ritter taumelte, parierte den Schlag mit seiner eigenen Waffe und stieß ein wütendes Knurren aus. Funken stoben, als die beiden Klingen aufeinandertrafen. Kim wurde von der Wucht des Schlages zurückgeworfen, prallte gegen die Wand und zog schnell den Kopf ein. Die schwarze Klinge seines Gegners klirrte gegen den Stein, beschrieb einen raschen Bogen und stieß abermals zu. Kim wich dem Stich im letzten Moment aus, schlug nach der Hand des Angreifers und entging einem zweiten Hieb mit knapper Not.

Der schwarze Ritter trieb ihn mit wütenden Hieben vor sich her. Kim wehrte sich, so gut es ging, aber er spürte bald, daß er gegen seinen Widersacher keine Chance hatte. Schritt für Schritt wurde er zurückgedrängt. Seine Arme schmerzten von der Wucht der Schläge, die unbarmherzig auf ihn herunterprasselten. Im Rücken spürte er den kalten Stein der brusthohen Zinnen, die den Wehrgang gegen den Burghof hin abschirmten.

Kims Klinge bebte unter einem fürchterlichen Hieb. Er wankte zurück und verlor auf dem rutschigen Boden das Gleichgewicht. Der Ritter schrie triumphierend auf, schwang seine Waffe zu einem beidhändig geführten, tödlichen Hieb und sprang vor.

Kim krümmte sich blitzschnell zusammen, warf sich herum und stieß dem gepanzerten Riesen beide Füße in den Leib. Der Riese taumelte an ihm vorbei und stürzte, von seinem eigenen Schwung getragen, über die Brüstung. Ein gellender Schrei zerriß die Luft, gefolgt von einem dumpfen Aufprall.

Kim blieb keine Zeit, sich über seinen Sieg zu freuen. Plötzlich sah er sich von mehreren schwarzen Rittern umringt. Er sprang auf die Füße, tauchte unter einer niedersausenden Klinge hindurch und rannte, wie er noch nie in seinem Leben gerannt war. Er rannte, schlug einen Haken und warf sich durch eine Tür. Ein kurzer, gewundener Gang nahm ihn auf. Dann eine steile Treppe, die vor einer verschlossenen Tür endete. Kim erreichte mit einem federnden Satz die oberste Stufe und wirbelte um seine Achse. Sein Schwert krachte mit der Breitseite gegen den Helm eines Verfolgers. Der Ritter wurde von der Wucht des Schlages zurückgeworfen. Er stürzte rücklings die Treppe hinunter und riß die Nachstürmenden mit sich. Für einen kurzen Moment war die Treppe von einem Knäuel ineinander verkeilter Leiber und Rüstungen blockiert.

Kim machte sich erfolglos am Schloß zu schaffen und sprengte die Tür schließlich mit einem verzweifelten Schlag auf.

Die Verfolger brachen in wütendes Geheul aus, als sie sahen, daß ihr schon sicher geglaubtes Opfer abermals zu entkommen drohte. Eine Flutwelle aus schwarzem Metall schien sich die Treppe hinauf zu ergießen.

Kim rannte weiter. Seine Kräfte begannen nachzulassen, und das Schwert in seiner Hand schien mit jeder Sekunde schwerer zu werden. Er hetzte um Ecken, stürzte durch Türen und durchquerte große, leere Säle.

Und dann plötzlich war er allein. Der Gang hinter ihm war leer, und das einzige Geräusch war sein eigener keuchender Atem.

Kim blieb erschöpft stehen. Für einen Moment begann sich alles um ihn zu drehen. Er ließ sich gegen die Wand sinken und rang keuchend nach Atem. Sein Herz pumpte so schnell, daß es schmerzte, und in seinen Ohren rauschte das Blut. Gewaltsam öffnete er die Augen, blinzelte die Tränen fort, sah sich mißtrauisch um und lief weiter. Für den Augenblick hatte er die Verfolger abgeschüttelt. Aber das bedeutete noch lange nicht, daß er in Sicherheit war. Boraas würde die Burg bis in den letzten Winkel durchsuchen lassen, sobald er von seiner Flucht erfuhr.

Bei dem Gedanken an den Magier erfaßte ihn kalte, berechnende Wut. Ein Gefühl, das er nie zuvor gekannt hatte, begann in ihm emporzukriechen, seine Seele zu vergiften und wie ein schleichendes Raubtier die Krallen in seine Gedanken zu schlagen. Kim begriff, daß er zum ersten Mal, seit er denken konnte, jemanden aus tiefster Seele haßte. Boraas hatte viel über den Haß geredet, aber für Kim war das Wort bisher nicht viel mehr als eine leere Hülle gewesen. Und mit dem Haß kam auch das Wissen, daß Boraas' Prophezeiung richtig war. Dieser Haß würde ihn auffressen, ihn selbst zu einem Geschöpf der Nacht werden lassen, wenn er sich ihm hingab.

Er mußte hier heraus, koste es, was es wolle.

Wieder tauchte eine Tür vor ihm auf. Kim lauschte mit angehaltenem Atem und drückte dann vorsichtig die Klinke herunter. Die rostigen Scharniere quietschten, daß Kim meinte, das Geräusch müßte in der ganzen Burg zu hören sein. Hinter der Tür lag ein weiterer leerer Raum. Offensichtlich, so dachte Kim, bestand Morgon aus lauter Gängen, die von einem leeren Saal zum anderen führten. Er schlüpfte durch die Tür, schob sie hinter sich zu und sah sich ängstlich um. Der Raum war nicht völlig leer - an einer Wand hing ein riesiger, goldgefaßter Spiegel, und auf den schwarzen Fliesen davor war eine komplizierte, an einen fünfzackigen Stern erinnernde Figur aufgezeichnet. Durch ein Fenster an der Südseite flutete Sonnenlicht herein.

Kim verriegelte die Tür hinter sich, sah sich noch einmal nach allen Seiten um und lief dann geduckt auf das Fenster zu.

Sein Blick fiel in den Spiegel. Das Bild, das er ihm zeigte, war düster und unheimlich, wie alles auf Morgon. Das Glas des Spiegels war schwarz. Kims Gestalt zeichnete sich darin als undeutlicher, huschender Schatten ab, und sogar der glänzende Goldrahmen schien das hereinfallende Sonnenlicht aufzusaugen, statt es zu reflektieren.

Plötzlich ergriff ihn heftiges Schwindelgefühl. Er stolperte, fiel der Länge nach hin und blieb einen Augenblick benommen liegen. Übelkeit stieg in ihm hoch, und er hatte das Empfinden, als griffe eine unsichtbare, kalte Hand nach seinen Gedanken. Er stemmte sich stöhnend hoch, schüttelte den Kopf und tastete halb blind nach dem Schwert. Die Waffe schien Zentner zu wiegen. Er kam mühsam auf die Füße, wankte zum Fenster und ließ sich, von einem neuerlichen Schwächeanfall überwältigt, auf die Brüstung sinken. Er klammerte sich am Fenstersims fest, zog sich unter Aufbietung aller Kräfte hoch und blickte hinaus.

Die Mauer der Burg stürzte unter ihm mindestens zehn Meter senkrecht in die Tiefe. Dort unten lauerte ein Haifischgebiß aus Felsen und Graten. Aber direkt unter dem Fenster, am Fuße der schwarzen Mauer, war ein kleines, sichelförmiges Stück glatten sandigen Bodens.

Kim hatte keine Wahl. Wahrscheinlich würde er den Sturz aus dieser Höhe nicht überleben. Aber dieses Schicksal erschien ihm immer noch gnädiger als das, welches ihm Boraas zugedacht hatte.

Er warf sein Schwert in die Tiefe, stemmte sich hoch und ließ sich mit einem lautlosen Seufzer über die Brüstung fallen.

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