XVI

Und weiter ging es. Weiter nach Westen, hinein in Kälte und Ungewißheit. Hier, unter freiem Himmel, wanderte es sich leichter, und obwohl das Tal mit Steinen und Felsbrocken aller Größe übersät war, kamen sie gut voran. Schon bald war der Höhlenausgang hinter ihnen verschwunden, und mit ihm verblaßte auch die Erinnerung an die überstandenen Torturen, bis nichts mehr blieb als die körperliche Erschöpfung und ein dumpfer Druck wie nach einem überstandenen Alptraum. Das Tal verflachte, und der Fluß wurde wieder breiter und ruhiger, um schließlich jenseits des Tales zwischen zwei sanften Hügelkuppen zu verschwinden. Sie rasteten auf halbem Weg. Hunger und Durst stellten sich wieder ein, aber es gab auch hier nichts Eßbares. Zwischen den Felsen wuchsen Moos und dürres Gestrüpp, auch ein paar Beeren, aber keiner von ihnen wagte es, davon zu kosten. Nur der Anblick der Hügelkette auf der anderen Seite des Tales gab ihnen noch Kraft. Dahinter lag die Ungewißheit, aber auch die Hoffnung auf eine warme Stube, ein Bett und etwas zu essen.

Die Sonne näherte sich dem Horizont, als sie die Hügel erreichten. Kelhim, der vor Schmerzen kaum noch gehen konnte, ließ sich ächzend am Flußufer nieder und bettete den Kopf auf die Tatzen. Die anderen folgten seinem Beispiel, nur Gorg eilte mit schier unerschöpflicher Energie den Hügel hinauf und war bald auf der anderen Seite verschwunden.

Kim sank müde zurück und schloß die Augen. Es war kalt, und der Wind, der von Osten her durch das Tal strich, brachte den Geruch nach Winter und Schnee mit sich. Aber hier am Flußufer waren sie einigermaßen geschützt, und die Sonne hatte noch genügend Kraft, ihre klammen Glieder aufzuwärmen und ihnen wieder Leben einzuhauchen.

Kim blieb einige Minuten lang reglos im Moos liegen, ehe er gewaltsam die Augen wieder öffnete und aufstand, um nach Kelhim zu sehen.

Der Bär schien das Bewußtsein verloren zu haben. Er lag auf der Seite, alle viere von sich gestreckt und ohne sich zu rühren. Nur gelegentliches Stöhnen zeigte an, daß noch Leben in ihm war.

Unsinn, dachte Kim zornig. So schnell starb man nicht. Erst recht nicht so ein Gigant wie Kelhim. Es war wohl mehr die Erschöpfung, die Kelhim übermannt hatte. Kim kniete neben dem Bären nieder und bemerkte erst jetzt, daß Ado auf der anderen Seite hockte und sich mit geschickten Fingern an der verwundeten Schulter zu schaffen machte.

»Kannst du ihm helfen?« fragte Kim.

»Nicht so, wie ich möchte«, gestand Ado. »Vater hätte ihm helfen können, da bin ich ganz sicher. Aber ich kann nicht viel für ihn tun. Außer vielleicht seine Schmerzen lindern, und auch das nur für eine Weile. Die Wunde sieht übel aus. Wie alt ist sie?«

»Drei Tage«, antwortete Kim.

Ado nickte. Er tat noch etwas an Kelhims Schulter, was Kim nicht genau erkennen konnte, und stand dann auf. »Lassen wir ihn schlafen«, sagte er, »wenigstens so lange, bis Gorg zurückkommt.«

Sie entfernten sich ein paar Schritte, um Kelhim nicht zu stören. Ado wies mit einer Kopfbewegung auf Priwinn, der sich ebenfalls auf dem harten Boden zusammengerollt hatte und zu schlafen schien.

»Ist er wirklich ein Prinz?« fragte Ado.

»Ja«, sagte Kim traurig. »Ein Prinz ohne Königreich, genau wie du.« Er zögerte einen Moment, ehe er die Frage aussprach, die ihn schon die ganze Zeit über bewegte. »Das, was dein Vater gemacht hat«, sagte er stockend, »mit dem Wasser, meine ich... was war das? Zauberei?«

Ado lächelte. Trotz allem, was Kim erlebt und von Priwinn und den anderen gehört hatte, irritierte ihn der Gleichmut, mit dem die Bewohner Märchenmonds den Tod akzeptierten, noch immer. Aber vielleicht, dachte er, und der Gedanke machte ihn fast froh, war es nur das Nichtwissen, das dem Tod seinen Schrecken verlieh. In seiner Heimat hatten die meisten Menschen noch nicht gelernt, den Tod als das zu betrachten, was er war: als einen Teil des Lebens.

»Zauberei?« Ado betonte das Wort in seltsamer Weise, so daß Kim daraus nicht klug wurde. »Vielleicht würdest du es so nennen. Ja, ich glaube, es ist Zauberei. Auch wenn ich es anders nenne.«

»Wie?«

Ado lächelte wieder. Dann drehte er sich um und starrte eine Weile in den Fluß, als suche er dort Antwort auf Kims Frage. »Mein Vater war Seekönig, bevor Boraas kam«, erinnerte er. »Und nun bin ich es wohl«, fügte er leise hinzu, »auch wenn ich mich noch nicht an diesen Gedanken gewöhnt habe. Es... es gibt eine Verbindung zwischen dem Menschen und seiner Umwelt, der Natur, wenn du so willst. Ich weiß nicht viel von eurer Welt, aber ich glaube, ihr betrachtet die Natur als etwas, was gerade gut war, euch zu erschaffen, und nun gerade gut ist, um sie euch dienstbar zu machen. Um sie auszubeuten, zu verdrehen und zu verändern, wie es euch beliebt.«

Kim wollte widersprechen, überlegte es sich dann aber anders. Vielleicht hatte Ado es ein wenig kraß ausgedrückt, doch es ließ sich nicht leugnen, daß es die Wahrheit war.

»Aber diese Einstellung ist falsch«, fuhr Ado fort. »Wir sind ein Teil der Natur, vielleicht nicht einmal ein wichtiger. Und wir sind mit ihr verbunden, stärker, als die meisten von uns ahnen. Es gibt Menschen, die diese Verbundenheit mehr spüren als andere, und unter diesen gibt es einige - einige wenige nur, aber es gibt sie -, die diese Verbundenheit auf besondere Art zu nutzen verstehen.«

Kim dachte eine Weile über Ados Worte nach. »Das, was dein Vater tat«, fragte er zögernd, »könntest du es auch?«

Ado schüttelte den Kopf. »Nein, jedenfalls jetzt noch nicht. Vielleicht werde ich es später einmal können. Aber ich bin mir dessen nicht sicher. Ich weiß nicht einmal, ob ich es will.«

Kim wollte noch mehr Fragen stellen, aber in diesem Moment kam Gorg zurück und ließ sich prustend zwischen ihnen nieder.

»Nun?«

»Der Fluß setzt sich drüben fort«, erklärte der Riese überflüssigerweise. »Es gibt ein paar Bäume. Keinen richtigen Wald, aber Bäume und Gras. Vielleicht finden wir etwas zu essen. Aber es ist kalt dort. Ich fürchte, es gibt bald Schnee.« Gorg schüttelte sich, als spüre er die Kälte selbst hier noch. Er setzte seine Keule wie einen Stab auf dem Boden auf und stemmte sich daran in die Höhe. »Gehen wir weiter«, murmelte er. »Wir wollen lieber drüben übernachten.«

Kim deutete auf Kelhim. »Er schläft. Ich finde, wir sollten ihn ausruhen lassen.«

Gorg überlegte kurz. »Er ruht drüben besser«, knurrte er. »Und sicherer.«

»Sicherer?«

Gorg nickte bekräftigend. »Wir haben uns schon einmal sicher gefühlt, kleiner Held«, erinnerte er. »Zu sicher. Ich möchte diesen Fehler nicht noch einmal begehen.« Er berührte den Bären sacht an der Schulter und schüttelte ihn sanft, bis Kelhim mit einem Brummen das Auge aufschlug. Gorg erklärte ihm seinen Vorschlag, und Kelhim erhob sich, ohne zu murren. Auch Brobing und der Steppenprinz standen gähnend auf und stapften gehorsam hinter Gorg den Hügel hinauf. Kim bildete den Schluß. Obwohl ihm jeder Schritt Mühe bereitete, konnte er die Beweggründe des Riesen gut verstehen. Auch ihm war dieses Tal unheimlich, und die Aussicht, endlich wieder einmal Grün, Gras und Bäume zu sehen, ließ ihn seine Müdigkeit fast vergessen.

Auf dem Kamm des Hügels angelangt, blieb Gorg stehen und wartete, bis ihn die anderen eingeholt hatten. »Dort unten«, sagte er, »unter den Bäumen am Ufer, scheint mir ein guter Lagerplatz zu sein.«

Kim nickte, ohne richtig hinzusehen. Seine Energie reichte gerade noch aus, um sich auf den Füßen zu halten. Und auch das wahrscheinlich nicht mehr lange.

»Nur noch ein kleines Stück«, sagte Gorg aufmunternd. Kim seufzte. Er gab sich einen Ruck und wankte hinter dem Riesen her den Hang hinab und weiter bis zu dem Platz unter den Bäumen. Kelhim ließ sich nahe am Ufer ins Gras sinken und schlief sofort wieder ein. Auch Kim machte es sich im Schatten eines Baumes bequem. Er war müde, unglaublich müde, aber schlimmer noch als die Müdigkeit war der Hunger. Für einen Moment wurde ihm übel, und ein bitterer Geschmack setzte sich in seinem Mund fest.

»Wir sollten Wachen aufstellen«, schlug Brobing vor.

»Ja«, sagte Gorg, »und ein Floß bauen. Der Fluß strömt zwar nicht sehr schnell, aber ich bin es allmählich leid, zu Fuß zu gehen. Leihst du mir dein Schwert?«

Kim brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, daß die Frage an ihn gerichtet war. Er reichte Gorg die Waffe, setzte sich auf und sah zu, wie der Riese mit erstaunlicher Geschwindigkeit eine Anzahl junger Bäume fällte und die dünneren Äste und Zweige einfach abbrach.

Dann überwältigte ihn wieder die Müdigkeit und umnebelte seine Gedanken. Kim ließ sich zurücksinken und streckte sich lang im Gras aus. Gorg hatte recht gehabt - es war hier merklich kühler als auf der anderen Seite der Hügelkette, und die Luft roch nach Schnee. Kim gähnte. Er wälzte sich auf die andere Seite und bettete in Ermangelung eines Kissens den Kopf auf den Arm. Die Sonne ging unter und zeichnete die runden Konturen der Hügel mit einem Flammenkranz nach. Kurz bevor er endgültig in den Schlaf hinüberdämmerte, glaubte Kim eine Bewegung auf dem Hügelkamm wahrzunehmen, nicht mehr als ein flüchtiger Schatten, der sich für den Bruchteil einer Sekunde vor die Sonne schob und wieder verschwand.

Der Schatten eines hochgewachsenen, in schimmerndes Metall gekleideten Reiters. Aber ehe Kim den Gedanken weiterspinnen konnte, war er eingeschlafen.

Auch dieses Mal war ihm kein guter Schlaf gegönnt. Kim hatte zwar keine Alpträume - wenigstens konnte er sich nicht daran erinnern -, wachte jedoch mehrmals auf, weil er glaubte, ein verdächtiges Geräusch gehört zu haben. Aber immer war es nur das Hämmern des eigenen Herzens, das ihn geweckt hatte. Am Morgen erwachte Kim mit dem ersten Schimmer der Dämmerung, und obwohl er noch müde war, beschloß er aufzustehen. Die vage Erinnerung, daß irgend jemand von Wachen gesprochen hatte, stieg in ihm auf. Er drehte den Kopf und sah den Riesen, der zusammen mit Ado an einem kleinen Feuer hockte und die Hände wärmend über die Flammen hielt.

Leise, um die anderen nicht zu wecken, stand Kim auf und schlich zum Feuer hinüber. Gorg sah müde und übernächtigt aus. Tiefe Linien, die vorher nicht dagewesen waren, hatten sich in sein Gesicht gegraben, und die Haut wirkte im flackernden Licht des Feuers grau und kränklich.

Der Riese schaute auf, als Kim sich am Feuer niederließ.

»Du bist schon wach?«

Kim schüttelte den Kopf. Er streckte die Hände über den Flammen aus und rieb die Finger gegeneinander. Erst jetzt, da er die Wärme des Feuers spürte, merkte er, wie kalt es geworden war. Das Gras hatte sich mit Rauhreif überzogen. »Noch nicht«, murmelte Kim. »Ich tu nur so.« Er rutschte ein Stück näher ans Feuer heran, bis die Flammen fast an seiner Rüstung leckten, aber er fror noch immer. »Was ist mit euch?« fragte er. »Seid ihr Frühaufsteher, oder habt ihr noch gar nicht geschlafen?«

»Halb und halb«, antwortete Ado. »Gorg und ich haben uns auf Wache abgewechselt.«

»Warum habt ihr mich nicht geweckt?« fragte Kim. »Ich hätte auch eine Wache übernehmen können.«

Gorg grinste breit, und Kim beschloß, lieber das Thema zu wechseln. »Wie geht es jetzt weiter?«

Gorg deutete mit einer Kopfbewegung zum Fluß hinunter. Dicht am Ufer schaukelte ein unförmiges Floß. Es war alles andere als ein Kunstwerk, aber stabil und groß genug, um sie alle aufzunehmen, wenn sie eng genug zusammenrückten. Gorg mußte die halbe Nacht gearbeitet haben.

Kim nickte anerkennend. »Wenn du jetzt auch noch ein gebratenes Huhn aus dem Ärmel zauberst«, sagte er, »beginnst du mir richtig sympathisch zu werden.«

Gorg schüttelte betrübt den Kopf. »Leider, Kim. Ich habe mich im weiten Umkreis umgesehen, aber dieses Land ist wie ausgestorben. Nichts. Nicht einmal ein Vogel.«

Ausgestorben... Kim schauderte, und nicht nur vor Kälte. Gorg hatte ausgesprochen, was er seit dem Verlassen der Höhle unbewußt empfunden hatte. Dieses Land wirkte trotz der Bäume und des in Büscheln auf dem harten Boden wachsenden Grases tot. Vielleicht nicht wirklich tot, sondern nur anders als alles, was er bisher kennengelernt hatte; so als wären sie hier in einen Bereich vorgedrungen, der nicht für die Art von Leben, wie sie es kannten, bestimmt war.

»Wann brechen wir auf?« fragte er, nicht wirklich interessiert, sondern um seine Gedanken auf ein anderes Thema zu bringen.

»Sobald es richtig hell ist. Kelhim kann auf dem Floß weiterschlafen, und du auch, wenn du willst. Wir dürfen nicht noch mehr Zeit verlieren.«

Einen Moment lang dachte Kim an die düstere Vision, die er am vergangenen Abend kurz vor dem Einschlafen gehabt hatte. An den schwarzen Reiter oder, besser gesagt, an den Schatten eines schwarzen Reiters, der sich in seine Träume geschlichen hatte. Er überlegte, ob er Gorg davon erzählen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Es war ein Traum gewesen, nicht mehr. Es hatte keinen Sinn, die anderen damit zu beunruhigen.

Kims Blick tastete über die noch in Dunkelheit gehüllten Umrisse der Hügel und blieb einen Moment an den Bäumen am gegenüberliegenden Flußufer hängen. Gestern abend war er viel zu müde gewesen, um sie genauer zu betrachten, aber jetzt sah er, daß es recht seltsame Bäume waren; Bäume von einer Art, wie er sie noch nie zuvor zu Gesicht bekommen hatte. Die Stämme waren glatt und wirkten im Zwielicht der Dämmerung wie poliert, und die dünnen Äste und Zweige erinnerten an Draht, so eckig und starr waren ihre Konturen. Auch das Gras zu ihren Füßen war fremdartig. Sein Grün war mit einer Spur einer schwer zu benennenden Farbe gemischt, und die einzelnen Halme waren, obwohl dünn und biegsam, messerscharf wie winzige Dolche. Selbst die Steine am Flußufer wirkten kantig und spitz, als wäre hier alles auf Abwehr und Verteidigung eingestellt.

Verteidigung wogegen? fragte Kim sich unwillkürlich. Aber er spann den Gedanken nicht zu Ende, denn in diesem Moment erhob sich Gorg ächzend von seinem Platz und machte sich auf den Weg zur Hügelkuppe hinauf. Ado folgte ihm, und nach einer Weile stand auch Kim auf und lief, um die beiden einzuholen.

Ein fahler Streifen orangeroten Lichts zeigte sich am Horizont, als sie den Hügel erklommen hatten. Die Schatten unten im Tal begannen allmählich zu verblassen. Nur vor der kantigen Bergkette am Eingang des Tales blieb eine messerscharfe, wie mit einem großen Lineal gezogene Trennlinie zwischen Hell und Dunkel, als weigere sich die Nacht dort standhaft, sich zurückzuziehen. Seltsamerweise waren die Berge dort nicht einmal besonders hoch, und wenn Kim an die riesige Höhle zurückdachte, die sie durchwandert hatten, konnte das Ganze eigentlich nur eine gewaltige Blase unter einer hauchdünnen Gesteinsschicht sein. Und auch die Berge dahinter waren überraschend niedrig, zumindest im Vergleich mit den mächtigen Klüften und Felsabstürzen, die sie passiert hatten. Bedachte man die Höhenunterschiede, die der Verschwundene Fluß überwand, so mußte dieses Land hier merklich tiefer als Märchenmond liegen. Vielleicht war es selbst nichts anderes als ein einziges, ungeheuer großes Tal.

Kim wollte sich eben wieder umdrehen, um zum Lagerplatz zurückzukehren, als ihm eine Bewegung inmitten der schwarzen Schatten unten im Tal auffiel. Erschrocken griff er nach dem Arm des Riesen und deutete hinunter.

Gorg knurrte. Auf seinem Gesicht erschien ein gespannter Ausdruck. Auch er schien die Bewegung bemerkt zu haben.

Nein, dachte Kim, nicht das. Bitte nicht das!

Aber sein Flehen blieb unerhört. Nach einer Weile wiederholte sich die Bewegung, und sowie die Sonne höher stieg, ließen sich mehr und mehr Einzelheiten erkennen. Und je mehr sie erkennen konnten, desto tiefer wurde die Verzweiflung in Kims Herzen. Denn die Wahrheit ließ sich nun nicht länger verleugnen.

Zwischen den Felsen unten am Flußufer bewegten sich Reiter.

Schwarze Reiter.

Es waren nicht mehr so viele wie das letzte Mal, vielleicht zwanzig, dreißig Mann, aber selbst dieser Trupp reichte, um ihnen auf diesem ungeschützten Gelände den Garaus zu machen. Und an seiner Spitze, über die Entfernung doch deutlich zu erkennen, ritt eine riesenhafte, schwarzgepanzerte Gestalt.

»Baron Kart«, murmelte Kim.

Die Reiter waren sicher noch eine Stunde oder mehr entfernt, und auf dem felsigen Grund konnten sie ihr Tempo wohl kaum merklich steigern. Aber Kim war sich darüber im klaren, daß ihr Vorsprung rasch zusammenschrumpfen würde, sobald die Reiter das Tal durchquert und die Hügelkette überwunden hatten. Selbst mit dem Floß würden sie kaum die Geschwindigkeit galoppierender Pferde erreichen können.

»Umsonst«, murmelte er. »Es war alles umsonst. Rangarigs Tod, der Tümpelkönig...« Als allerletzte Rettung blieb zwar noch immer der wundertätige Umhang, Laurins Mantel. Doch irgend etwas sagte ihm, daß die Zeit dafür noch nicht gekommen war.

»Schweig!« befahl Gorg. Seine Stimme bebte, und sein Gesicht zeigte einen so wütenden Ausdruck, daß Kim unwillkürlich einen Schritt zurückwich. »Nichts war umsonst!« donnerte Gorg. »Wir haben noch Zeit. Lauf und wecke die anderen. Ihr müßt sofort losfahren.«

»Wir?« Kim verstand nicht gleich.

»Wieso wir? Du...«

»Ich bleibe«, sagte Gorg entschlossen. »Ich werde sie aufhalten, so gut es geht.«

»Du bist verrückt!« entfuhr es Kim. »Du weißt nicht, was du redest. Es wäre dein sicherer Tod, wenn du zurückbleibst.« Gorg lachte rauh. »Ach was, mein Kleiner. Es sind nicht viele, und...«

»Zu viele«, fiel ihm Kim ins Wort. »Auch für dich.«

»Willst du mich beleidigen?« grollte Gorg. »Es gehört mehr als eine Handvoll schwarzer Reiter dazu, mich in die Flucht zu schlagen.«

Kim schüttelte den Kopf. »Ich lasse nicht zu, daß du dich opferst«, sagte er bestimmt. »Wenn wir alle hierbleiben und ihnen einen Hinterhalt legen, haben wir eine gute Chance.«

Gorg antwortete nicht, sondern beendete die Diskussion auf seine Art. Wortlos packte er Kim, klemmte ihn wie einen Kartoffelsack unter den Arm und stürmte mit weit ausgreifenden Schritten den Hang hinunter, ohne sich um Kims Protestgeschrei zu kümmern.

Kims Gebrüll weckte die anderen.

»Was ist los?« fragte Priwinn verwirrt, während er sich den Schlaf aus den Augen wischte.

»Schwarze Reiter!« sagte Gorg. »Ungefähr zwanzig. Ihr müßt sofort losfahren. In einer Stunde sind sie hier!«

Priwinn starrte den Riesen einen Moment lang fassungslos an und sprang dann mit einem Satz auf die Füße. Er stellte sich auf die Seite von Kim. Auch er wollte nicht zulassen, daß Gorg allein zurückblieb.

»Schluß jetzt!« befahl Gorg. »Ich weiß schon, was ich tu.«

Aber Kim dachte gar nicht daran nachzugeben. »Das weißt du nicht!« sagte er. »Wir brauchen dich, Gorg. Keiner von uns weiß, welche Gefahren uns noch erwarten.«

»Wenn niemand zurückbleibt, um sie aufzuhalten, gar keine mehr«, gab Gorg trocken zurück. »Dann haben sie euch nämlich in längstens zwei Stunden eingeholt.«

»Laßt mich zurück«, sagte jetzt Kelhim, der dem Streit bisher schweigend gefolgt war. »Kim hat recht. Vielleicht wirst du noch gebraucht, später. Ich dagegen«, er deutete mit einer vielsagenden Geste auf seine nutzlose Tatze und die unförmig angeschwollene Schulter, »bin sowieso nur eine Belastung für euch. Es ist nicht schade um einen Krüppel wie mich.«

»Und was willst du mit deiner Verletzung gegen die Schwarzen unternehmen?« fragte Gorg.

Kelhim lachte rauh. »Mag sein, daß ich nicht mehr der alte bin«, sagte er. »Aber um Kart das Leben schwerzumachen, dazu reicht es noch allemal! Ich lasse nicht zu, daß du bleibst.«

»Mach dich nicht lächerlich«, sagte Gorg ruhig. »Ihr steigt jetzt auf das Floß und verschwindet. Wenn wir uns hier noch lange herumstreiten, erledigt sich die Sache von selbst. Dann haben sie uns nämlich alle.«

»Ich bleibe«, beharrte Kelhim.

Gorgs Augen zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen. »Ach?«

Kelhim richtete sich drohend auf die Hinterbeine auf. Zum ersten Mal seit langer Zeit kam Kim wieder zu Bewußtsein, wie groß und mächtig der Bär war, selbst im Vergleich zu Gorg. Der Riese überragte Kelhim zwar um mehr als zwei Kopflängen, aber der Bär war viel massiger und breiter. »Ich bleibe hier«, wiederholte Kelhim. »Und wenn du etwas dagegen einzuwenden hast, wirst du mit mir kämpfen müssen.«

Einen Moment lang schien es, als würde Gorg die Herausforderung annehmen. Aber dann entspannte sich sein Körper, und auf seinem Gesicht machte sich ein resignierter Ausdruck breit. »Wenn du meinst«, sagte er leise. »Du hast es so gewollt.«

Er trat beiseite, wartete, bis der Bär, noch immer hoch aufgerichtet und beide Tatzen drohend vorgestreckt, an ihm vorbei war, und schlug ihm dann mit aller Macht die Keule auf den Hinterkopf. Kelhim fiel stocksteif vornüber und blieb wie ein gefällter Baum liegen.

Priwinn schrie entsetzt auf. »Was hast du getan?«

»Das einzig Richtige«, antwortete Gorg, ohne den Steppenprinzen eines Blickes zu würdigen. »Dieser Narr hätte sich umgebracht, ohne zu überlegen.« Er warf seine Keule ins Gras, hob ächzend den schweren Körper des Bären hoch und trug ihn zum Floß hinüber. »Jetzt ihr«, sagte er ungeduldig, nachdem er Kelhim auf den feuchten Stämmen abgeladen hatte. »Beeilt euch.«

Kim, Brobing, Ado und Priwinn traten hintereinander auf das Floß. Gorg griff nach dem Haltetau und riß es kurzerhand entzwei. Das Floß schwankte, stemmte sich gegen die Strömung und trieb langsam vom Ufer weg auf die Flußmitte zu.

Kelhim erwachte erst gegen Mittag. Er fieberte und redete wirr. Die Wunde an seiner Schulter hatte sich weiter entzündet und begann einen üblen Geruch auszuströmen. Ado bemühte sich eine Weile darum, gab dann kopfschüttelnd auf und sah den Bären unglücklich an. »Tut mir leid, alter Bursche«, murmelte er. »Ich kann dir nicht mehr helfen.«

Er blickte sekundenlang in Kims Augen und starrte dann in das vorüberrauschende Wasser.

»Er wird sterben, wenn ihm keine Hilfe zuteil wird«, sagte er. Er sagte es ruhig, und in seiner Stimme war keine Trauer und keine Bitterkeit. Trotzdem hatte Kim das Gefühl, als ob jedes Wort wie ein glühendes Messer in seine Brust stäche. Sterben...

War ihre Reise denn nur eine Reise in den Tod? Wartete auf jeden einzelnen von ihnen schließlich nichts als ein sinnloses Ende? Vor seinem geistigen Auge zogen noch einmal die Stationen ihrer Reise vorbei: zuerst Rangarig, der große, gutmütige, unbesiegbare Drache, hingemetzelt in einem grausamen Kampf, gestorben für ein Ziel, das sie vermutlich nie erreichen würden, ja das es vielleicht nicht einmal gab. Dann der Tümpelkönig, dieser traurige alte Mann, der sich noch einmal gegen sein Schicksal aufgelehnt hatte, der sich nach Jahrzehnten der Unterdrückung endlich gegen seine Folterknechte stellte und dafür mit dem Leben bezahlte. Dann Gorg, der mächtige, liebenswerte Riese, der im Grunde nichts als ein zu groß geratener Junge war und den Kim, ohne sich bis zu diesem Augenblick dessen bewußt gewesen zu sein, von allen am liebsten mochte. Auch Gorg war tot, Kim wußte es; gestorben, nur um ihnen ein paar Stunden Vorsprung zu verschaffen. Und jetzt Kelhim. Lieber Himmel, waren sie denn alle nur mit ihm gekommen, um an seiner Seite zu sterben, vielleicht sogar an seiner Stelle?

Kims Trauer machte für einen Moment jäh aufflammender Wut Platz. Fast wünschte er sich, daß Baron Kart sie weiter verfolgen würde, daß er ihm noch einmal gegenüberstehen könnte, ein einziges Mal noch, um ihm alles heimzuzahlen, was er ihm angetan hatte.

Er strich dem Bären zärtlich über den Kopf und schmiegte sich frierend in sein Fell. Die Sonne hatte den Höhepunkt ihrer Bahn erreicht; trotzdem wurde es immer kälter. Zwischen den Bäumen am Flußufer lagen da und dort kleine Schneenester, und der Himmel hatte sich im Westen mit tiefhängenden grauen Wolken bedeckt. Der eisige Wind blies noch stärker, und zwischen den Baumstämmen, aus denen das Floß zusammengefügt war, bildete sich Rauhreif. Wahrscheinlich würde es heute noch schneien.

Kim rollte sich zu einem Ball zusammen, vergrub das Gesicht im weichen Fell des Bären und versuchte zu schlafen. Das Floß trieb gemächlich in der Flußmitte dahin, weit genug vom Ufer entfernt, um vor Pfeilen und Speeren in Sicherheit zu sein. Von ihren Verfolgern war noch keine Spur zu entdecken. Entweder war es Gorg gelungen, die schwarzen Reiter in die Flucht zu schlagen, oder sie hatten ihre Spur verloren. Doch diese Hoffnung war so gering, daß Kim sich zwar an sie klammern, im Grunde seines Herzens aber nicht daran glauben konnte. Die schwarzen Reiter würden entdecken, daß sie Bäume geschlagen hatten, und es war nicht schwer, daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen.

Es wurde immer noch kälter. Nach und nach verschwanden die Bäume vom Ufer. Schnee und große Flecken nackten schwarzen Gesteins säumten den Fluß auf beiden Seiten. Am späten Nachmittag tauchten die ersten Eisschollen auf dem Wasser auf, noch zerbrechlich und dünn wie Glas, aber drohende Vorboten dessen, was sie noch erwarten mochte. Frierend und halb betäubt vor Kälte rollten sie sich alle im Schutze Kelhims zum Schlafen zusammen. Die Sonne versank, und das Floß trieb weiter auf dem breiten, ruhig strömenden Fluß entlang. Kim schlief bald ein, wachte aber immer wieder auf, wenn Eisschollen und große, harte Brocken gegen das Floß stießen, und einmal schrammte etwas so machtvoll an der Unterseite der Stämme entlang, daß sie befürchteten, das Floß würde zerbrechen. Aber es hielt stand, und sie glitten weiter in Nacht und Ungewißheit hinein.

Kim erwachte, als das Floß mit lautem Knirschen auf Grund lief. Er fuhr hoch, griff haltsuchend um sich und bekam etwas Kaltes, Hartes zu fassen.

Rings um sie herum war Eis. Eis, das sich zu einer hohen, glitzernden Mauer quer über den Fluß auftürmte, in spitzen Riffen durch die Wasseroberfläche brach und das Ufer in eine bizarre Landschaft verwandelte.

»Endstation«, sagte Priwinn lakonisch. »Sieht so aus, als müßten wir von hier aus laufen.«

Kim konnte Priwinns scheinbaren Gleichmut nicht teilen. Er stand auf, murmelte etwas Unverständliches und erschrak, als seine steifgefrorenen Muskeln gegen die Bewegung protestierten. Seine Finger waren taub vor Kälte, und seine ganze Haut prickelte und brannte. Den anderen schien es nicht besser zu ergehen. Priwinn und Ado wirkten blaß und elend. Brobing stand zitternd und mit übereinandergeschlagenen Armen am Rande der Eisbarriere und versuchte, einen Blick darüber zu werfen.

»Kannst du etwas erkennen?« fragte Ado.

Brobing nickte. »Ja«, sagte er. »Eis. So weit das Auge reicht. Der Fluß tritt hier und da noch einmal zutage, aber er ist zum größten Teil mit Eis bedeckt. Mit dem Floß kommen wir jedenfalls nicht mehr weiter.« Er trat seufzend zurück und blickte zum Ufer hinüber. Der Fluß war hier so seicht, daß sie den Grund sehen konnten, aber das Floß hatte sich derart im Eis verkeilt, daß sie gar nicht erst zu versuchen brauchten, es zu befreien. Selbst wenn es ihnen gelänge, würde die Strömung sie sofort wieder in oder gar unter das Eis drücken.

Kim atmete tief ein und ließ sich über den Rand des Floßes gleiten. Er sank bis zu den Oberschenkeln ins eisige Wasser ein. Die Kälte traf ihn so schmerzhaft, daß er aufschrie. Für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen. Unter Aufbietung aller Willenskraft taumelte er weiter, hielt sich mit der Rechten an der Eisbarriere fest und wankte dem Ufer entgegen, jeder Schritt eine Qual. Schon nach wenigen Sekunden verlor er jedes Gefühl in den Beinen, und mehr als einmal war er nahe daran, einfach aufzugeben und sich vornüber ins Wasser fallen zu lassen. Aber er schaffte es, irgendwie, und nach einer Weile erreichten auch die anderen das Ufer und ließen sich erschöpft und halb bewußtlos vor Kälte auf das Eis niedersinken.

»Weiter«, drängte Kelhim, der das Floß als letzter verlassen hatte. »Ihr müßt unbedingt weiter. Wenn ihr einschlaft, erfriert ihr.«

Kim wälzte sich stöhnend auf die Seite. Er wollte schlafen, wollte sich der verlockenden, tauben Wärme hingeben, die sich in seinen Gliedern auszubreiten begann. Instinktiv wußte er, daß Kelhim recht hatte und daß die Wärme in seinem Inneren nichts anderes als der erste Vorbote des Todes war, aber das war ihm egal. Er wollte schlafen, nichts als ausruhen.

Kelhim zerrte Kim grob auf die Füße, drehte ihn um und gab ihm einen Stoß in den Rücken, der Kim vorwärts taumeln ließ.

»Weiter!« befahl der Bär. »Ihr müßt weitergehen! Ihr dürft nicht liegenbleiben. Ihr müßt weiter! Weiter!«

Kim brach nach wenigen Schritten wieder in die Knie, aber Kelhim trieb ihn und auch die anderen unbarmherzig weiter. Kims Kleider waren schwer von Wasser, und er hatte das Gefühl, als ob die Feuchtigkeit in seiner Rüstung allmählich erstarrte und seinen Körper mit einem tödlichen Eispanzer umgäbe.

Kims Herz hämmerte, als wollte es zerspringen. Vor seinen Augen zogen Nebelschleier auf und ab, und die Luft schien sich bei jedem Atemzug in seinem Hals in flüssiges Feuer zu verwandeln, das seine Lungen verbrannte. Aber er lief weiter, getrieben von einer Kraft, die er sich selbst nicht erklären konnte. Und die Bewegung tat, wenn auch langsam und unter fast unerträglichen Schmerzen, ihre Wirkung. Allmählich kehrte das Leben in seinen Körper zurück, zuerst als Kribbeln und Stechen in den Finger- und Zehenspitzen, dann als heißer, tobender Schmerz. Die Nebel vor seinen Augen lichteten sich, und er konnte von seiner Umgebung mehr als nur verschwommene Umrisse erkennen.

Die Landschaft war von eintönigem, konturlosem Weiß. Es gab nichts, keine Unebenheit, keinen Baum oder Strauch oder wenigstens einen Felsen, an dem der Blick sich hätte festhalten können. Der Horizont verschwamm im Nebel, und nur manchmal glaubte Kim in den treibenden, weißgrauen Schwaden die Umrisse eines riesigen, bizarren Gebäudes zu erkennen. Aber das Bild verschwand regelmäßig, bevor er sich wirklich darauf konzentrieren konnte.

Plötzlich blieb Brobing stehen und deutete mit schreckgeweiteten Augen in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Kim kniff die Augen zusammen, um über die gleißende Eisfläche zu schauen, und prallte entsetzt zurück.

Eine Anzahl winziger schwarzer Punkte zeichnete sich auf dem Eis ab.

»Das ist das Ende!« murmelte Brobing.

Kelhim fuhr wütend auf. »Nichts da! Weiter!« Er setzte sich in Bewegung, tappte ein paar Schritte über das Eis und blieb verdutzt stehen. Keiner machte Anstalten, ihm zu folgen. »Kommt schon!« drängte er. »Wir müssen fliehen!«

Ado schüttelte entschieden den Kopf. »Es ist zwecklos, Bär«, sagte er. »Wir vergeuden nur unsere Kräfte. Es gibt nichts, wohin wir fliehen könnten.«

Kelhim setzte zu einer energischen Antwort an, verzichtete dann aber darauf. Statt dessen blickte er nachdenklich über die endlose Eisfläche, die sie umgab. Der junge Tümpelkönig hatte recht. Die Eisige Einöde bot kein Versteck, nichts, wo sie sich hätten verbergen oder verschanzen können. »Stimmt«, brummte er. »Diesmal werden wir wohl kämpfen müssen.«

Kim nickte. Langsam, mit Bedacht zog er die schwarze Klinge aus der Scheide, packte den Schild fester und blickte den näher kommenden Reitern entgegen, bereit für den letzten, entscheidenden Kampf.

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