XII

Atemlose Stille breitete sich im Saal aus, als Kim mit langsamen, roboterhaften Schritten auf den Thron zuging. Die beiden steinernen Säulen rechts und links des Thronsessels begannen in einem kalten, weißen Feuer zu glühen, und der schwingende Ton wurde lauter und durchdringender, bis er jede einzelne Faser seines Körpers zum Schwingen gebracht hatte. Ein kribbelndes, unangenehmes Gefühl breitete sich, von den Zehen und Fingerspitzen ausgehend, in seinem Körper aus. Das Bild vor seinen Augen verschwamm, überzog sich mit grauen Nebelschwaden und schrumpfte zusammen, bis er beinah blind war und nur noch einen winzigen hellen Fleck vor sich erkannte, in dessen Zentrum der leere Thron stand. Kim ging darauf zu, ließ sich auf dem harten Holz nieder und lehnte sich zurück. Der Stuhl fühlte sich diesmal nicht kalt an, sondern warm und weich, und für einen Moment durchströmte Kim ein Gefühl der Macht, wie er es nie zuvor in seinem Leben gekannt hatte. Für einen kurzen Augenblick, das spürte er plötzlich, war dieser Thron mehr als ein leerer Sessel, er war wirklich der Thron von Märchenmond, von dem aus dieses ganze gewaltige Reich regiert wurde.

Das kalte Feuer der steinernen Säulen zu beiden Seiten begann stärker zu glühen. Und dann hörte Kim - und er war von allen Anwesenden wohl am meisten erstaunt - seine eigene Stimme Worte sprechen, die ihm ein höherer, stärkerer Wille als der seine eingab.


»Noch niemals zuvor, seit die Tore der Zeit«,


begann er mit fester, ruhiger Stimme,


»geöffnet, das Leben bereit,

war größer die Not und mehr der Gefahr

und Märchenmonds Menschen der Hilfe bar.

Boraas der Schwarze, Herr der Nacht,

setzt an nun zum Sturm, das Grauen erwacht.

Ob Kämpfer, ob Denker, ob Mensch oder Tier,

niemand bringt Rettung, nur einer ist hier.

Ein Knabe, noch jung, doch Stärke im Herzen,

kam über die Zeit, erreicht euch mit Schmerzen.

Weit war sein Weg und steinig der Pfad,

der her ihn geführt, zu bringen euch Rat.

Nur er und kein andrer, kein Wesen auf Erden

kann jetzt noch euch Menschen zur Rettung werden.

Nur er kennt den Schlüssel, den Weg nach oben,

zum Herrscher, dem König der Regenbogen.«


Kim sank erschöpft zurück. Sein Kopf fühlte sich leer an, und in seinem Denken war irgend etwas Fremdes, ein Gefühl, als hätte er etwas verloren, als wäre da für wenige, flüchtige Augenblicke die Berührung einer großen, sanften Hand gewesen, die nun verschwunden war und eine schmerzliche Leere hinterlassen hatte. Er öffnete die Augen, verkrampfte die Hände um die Armlehnen und sank mit einem schwachen Seufzer zurück. Nicht nur seine Gedanken, auch sein Körper war leer und wie ausgelaugt, als hätten die wenigen Worte, die er gesprochen hatte, seine ganze Kraft aufgezehrt. Er sah, wie das sanfte Glühen der Steinsäulen erlosch und Themistokles aus seiner Starre erwachte und mit besorgter Miene auf ihn zueilte.

Kim richtete sich mühsam auf und schob Themistokles' hilfreich ausgestreckte Hand beiseite. »Es geht schon«, sagte er mit schwacher Stimme. Er stand auf, machte einen Schritt, um Themistokles zu beweisen, daß er aus eigener Kraft gehen konnte, und wäre der Länge nach hingefallen, wenn Themistokles ihn nicht mit einer geistesgegenwärtigen Bewegung aufgefangen hätte. Der Raum begann sich um ihn zu drehen. Ihm schwindelte, und sein Herz hämmerte mit einem Mal so heftig und schnell, daß er die Schläge bis in die Fingerspitzen zu spüren glaubte. Er merkte kaum, wie Themistokles ihn hochhob und zum Tisch zurücktrug, um ihn behutsam auf einer der Stühle zu setzen.

Aber der Schwächeanfall ging so rasch vorüber, wie er gekommen war. Die Nebel vor Kims Augen lichteten sich, und als er aufblickte, sah er in die Gesichter der anderen, die sich über ihn beugten und besorgt auf ihn herunterschauten.

»Was... war das?« murmelte er verwirrt.

»Das Orakel«, sagte Themistokles. »Es sprach aus deinem Mund.« Er schüttelte ratlos den Kopf. Dann warf er Rangarig einen scharfen Blick zu. »Hast du damit zu tun?«

»Nein, Themistokles. Auch mir sind die Geheimnisse des Orakels verschlossen. Aber manchmal sehe ich den Weg, der zu gehen ist, klarer als ihr.«

Themistokles starrte nachdenklich vor sich hin. »Der König der Regenbogen...« murmelte er.

»Was bedeutet das alles?« fragte Kim. »Ich habe die Worte zwar gesprochen, aber ich verstehe sie nicht.«

»Niemand versteht sie, Kim«, erklärte Themistokles betrübt. »Aber wie es scheint, leben wir in einer Zeit der Wunder, der sagenhaften Erscheinungen. Der König der Regenbogen gehört auch dazu. Niemand weiß etwas über ihn. Es heißt, er residiert am Ende der Zeit, in einer herrlichen Burg aus Licht und Farben, noch ungleich prächtiger als Gorywynn, und er soll unvorstellbar mächtig und weise sein. Aber kein Bewohner Märchenmonds hat ihn jemals gesehen.«

»Aber der Weg zu ihm ist bekannt«, warf der Drache ein. »Er ist weit, und noch keinem ist es gelungen, ihn bis zum Ende zu gehen.«

Themistokles atmete hörbar ein. »Schweig, Rangarig. Du weißt nicht, was du sprichst.«

»Warum nicht?« fragte Kim. Plötzlich hatte er das sichere Gefühl, daß Themistokles ihm etwas verschwieg.

»Es ist unmöglich«, sagte der Zauberer. »Rangarig sollte es besser wissen. Nur ein kurzes Stück des Weges zur Regenbogenburg ist bekannt, und schon auf diesem Stück lauern mehr Gefahren, als ein einzelner Mensch zu meistern imstande ist.«

»Beschreibe sie mir«, verlangte Kim.

Themistokles runzelte unwillig die Stirn. »Du beginnst dich zu überschätzen, Kim«, sagte er.

»Ich halte mich nur an die Worte des Orakels.«

Themistokles schüttelte den Kopf. »Das Orakel hat lange Zeit geschwiegen«, sagte er, »so lange, daß sich niemand mehr daran erinnern kann, wann es das letzte Mal zu den Menschen von Märchenmond gesprochen hat, und ich muß gestehen, daß auch ich schon begonnen habe, den Glauben daran zu verlieren. Aber wir wissen, daß es oft in Rätseln und Gleichnissen gesprochen hat. Was es sagt, ist nicht immer seinem vordergründigen Sinn nach zu verstehen. Und es war mit keinem Wort die Rede davon, daß du die Reise dorthin antreten solltest, Kim. Du trägst den Schlüssel zur Rettung in dir, aber dieser Schlüssel kann ein Gedanke sein, ein Wort, das du im rechten Moment sprichst, irgend etwas... Dich übereilt gehen zu lassen hieße, dich in den sicheren Tod zu schicken. Der Weg zum Ende der Welt ist weit und voll bekannter und unbekannter Gefahren.«

»Der Weg, auf dem ich herkam, war auch nicht ganz harmlos«, erinnerte Kim.

»Trotzdem.« Themistokles schüttelte störrisch den Kopf. »Du müßtest durch die Klamm der Seelen und über den Verschwundenen Fluß, dort wo er am tiefsten und reißendsten ist. Und selbst wenn du diese Gefahren überwändest, hättest du es noch nicht geschafft. Der Weg führt weiter durch die Eisige Einöde, vorbei am Schloß Weltende - und dann wärst du noch nicht am Ziel. Niemand weiß, was dich dahinter erwartet, weil noch keiner, der so weit kam, jemals zurückgekehrt ist.«

»Aber es ist unsere einzige Chance.«

»Mag sein. Aber das Orakel in Ehren - ich lasse es nicht zu, daß du gehst. Das Risiko ist zu groß.« Themistokles straffte sich und sagte: »Niemals«, in einem Ton, der keinen Widerspruch mehr duldete.

Kim wandte sich hilfesuchend an Rangarig. Aber auch der goldene Drache senkte nur traurig das Haupt. »Themistokles hat recht«, grollte er. »Die Worte des Orakels sind manchmal schwer zu verstehen.«

»Ich verstehe sie inzwischen recht gut.«

Rangarig fauchte leise. »Viele Offenbarungen des Orakels wurden niemals verstanden. Die weisesten Männer sind daran gescheitert - weisere als du einer bist, kleiner Held«, sagte er spöttisch. »Der Weg zum Ende der Welt ist vielen großen Helden zum Verhängnis geworden. Die meisten kamen über die Klamm der Seelen nicht hinaus, und die wenigen, denen es gelang, sie zu überwinden und sich dem Verschwundenen Fluß anzuvertrauen, wurden nie mehr gesehen.«

»Die Klamm der Seelen«, fragte Kim, »was ist das?«

»Eine Schlucht, tiefer als irgendeine andere«, antwortete Themistokles. »Sie ist so tief, daß kein Sonnenstrahl ihren Grund erreicht. Keine Brücke führt hinüber. In dieser Schlucht haust ein schreckliches Ungeheuer...«

»Soooo schrecklich nun auch wieder nicht«, ließ sich Rangarig vernehmen.

Themistokles lächelte nachsichtig, wurde aber gleich wieder ernst. »Auf dem Grund dieser Schlucht«, fuhr er fort, »haust der Tatzelwurm. Noch kein Mensch hat ihn überwunden, und nur wenigen ist es gelungen, ihn zu überlisten.«

»Was ist ein... Tatzelwurm?«

»Ein mißratener Vetter von mir«, fauchte Rangarig.

»Ein Drache«, sagte Themistokles, ohne auf die Bemerkung des goldenen Drachen einzugehen. »Aber anders als Rangarig. Er ist riesig, das schrecklichste Ungeheuer, das jemals im Lande Märchenmond geboren wurde. Nicht einmal Boraas würde es wagen, sich mit ihm zu messen.«

»Boraas nicht«, murrte Rangarig, »aber...«

»Nein, Rangarig«, sagte Themistokles bestimmt. »Ich weiß, daß du dein Leben dafür einsetzen würdest, uns zu retten. Aber dein Opfer wäre sinnlos. Nicht einer unter uns zweifelt an deinem Mut und deiner Stärke, doch nicht einmal du könntest den Tatzelwurm besiegen. Glaube mir, alter Freund - wir werden einen anderen Weg finden.«

Rangarig schwieg beleidigt. Themistokles ging zu seinem Stuhl zurück und ließ sich seufzend darauf nieder.

»Ich kann dich nicht gehen lassen, Kim, so leid es mir tut. Das ist mein letztes Wort.«

Vier Tage vergingen, in denen Kim Themistokles immer wieder bestürmte, ohne an dessen unnachgiebigem Nein etwas ändern zu können. Er sah Themistokles selten. Der Zauberer eilte von einer wichtigen Beratung zur anderen, und Kim vertrieb sich die Zeit damit, die Märchenburg Gorywynn etwas gründlicher zu erforschen. Fast immer begleiteten ihn Gorg und Kelhim, und wenn er sich zu Anfang auch etwas gegängelt vorkam, so war er im Grunde doch froh, in dem riesigen, voll fremder Menschen und wunderbarer Dinge steckenden Kristallschloß nicht allein zu sein. Auch nach diesen vier Tagen hatte er Gorywynn nur zu einem kleinen Teil kennengelernt. Das Schloß war einfach zu groß, zu weitläufig. Vermutlich hätte er Jahre gebraucht, es ganz zu erforschen. Er verbrachte viel Zeit bei Rangarig, dem goldenen Drachen, halb in der Hoffnung, von ihm mehr über die Klamm der Seelen und ihren schrecklichen Bewohner zu erfahren. Aber Rangarig schwieg beharrlich. Schließlich verlor Kim die Geduld und warf dem Drachen vor, er sei wohl zu feige, um wirklich Farbe zu bekennen. Rangarig fauchte ein bißchen und erklärte dann, er würde Kim helfen, sobald er selbst bereit sei - und keinen Augenblick früher. Kim dachte lange über diese Bemerkung nach, ohne ihren Sinn wirklich zu verstehen.

Seine ruhelose Wanderung führte ihn am Nachmittag des vierten Tages bis auf die Spitze des höchsten Turmes. Es war eine lange und anstrengende Kletterei, und auch Kelhim, der ihn begleitete und auf seinen im Vergleich zu seinem Körper kurzen, plumpen Beinen die unzähligen Stufen hinauftappte, war am Ende erschöpft und außer Atem. Aber es hatte sich gelohnt. Der Ausblick, der sich ihnen bot, entschädigte sie reichlich für die mühsame Kletterei. Eine brusthohe Mauer aus hellblauem Kristallglas umgab die offene Plattform des Turmes. Von hier oben wirkten die mächtigen Wälle und Schutzanlagen Gorywynns wie Spielzeug. Der silberne See lag spiegelglatt unter ihnen, und selbst die reißenden Fluten des Verschwundenen Flusses schienen von hier aus friedlich und sanft.

Kim stützte sich mit den Ellbogen auf der Brüstung auf und beugte sich vor. Die geschliffene Flanke des Turmes stürzte unter ihm etwa zweihundert Meter in die Tiefe und verschmolz mit den silbernen Fluten des Sees. Ein Möwenschwarm kreiste über dem Wasser. Sein Geschrei war bis hierherauf zu hören, und ab und zu stieß einer der weißen Vögel pfeilschnell hinab, um sich einen Leckerbissen aus dem See zu fischen.

Kim blinzelte in die Sonne und drehte dann den Kopf, um zur Flußmündung hinüberzublicken.

»Wie kommt der Verschwundene Fluß eigentlich zu seinem Namen?« fragte er.

Kelhim legte neben ihm den Kopf auf die gläserne Brüstung und brummte leise. »Sieh dir einmal den See an. Fällt dir nichts auf?«

Kim schaute aufmerksam auf die still daliegende Fläche des Sees hinunter, konnte aber beim besten Willen nichts Auffälliges entdecken.

»Nein«, sagte er.

»Er hat keinen Abfluß.«

Kim sah den Bären verdutzt an. Kelhim hatte recht. Der See hatte tatsächlich keinen Abfluß. Aber irgendwo mußten die Wassermassen, die der Verschwundene Fluß mit seiner gewaltigen Strömung hereintrug, doch bleiben!

»Der Fluß«, erklärte Kelhim, nachdem er Kim eine Weile hatte herumrätseln lassen, »ergießt sich in den See und fließt von da an unterirdisch weiter. Niemand hat ihn je erforscht, aber der Strömung nach zu schließen, muß es ein gewaltiges unterirdisches Höhlensystem geben, durch das er weiter nach Westen fließt. Erst nach einigen tausend Meilen tritt er wieder zutage, und auch dann nur für ein kurzes Stück. Er fließt unter der Klamm der Seelen hindurch. An ihrem Ende, nahe der Höhle des Tatzelwurms, befindet sich ein kleiner See. Von dort verläuft das Flußbett wieder unterirdisch weiter.« Er blinzelte Kim mit seinem einzigen Auge zu. »Weißt du nun, was du wissen wolltest?«

Kim senkte verlegen den Blick. Er merkte wohl, daß ihn Kelhim durchschaut hatte.

»Ich weiß, woran du denkst«, fuhr der Bär sehr ernst fort. »Aber du solltest den Plan fallenlassen. Du kannst nicht auf eigene Faust losziehen. Selbst wenn ein Wunder geschähe und du Gorywynn verlassen könntest, ohne erwischt zu werden, würdest du dich hoffnungslos verirren, lange bevor du die Klamm der Seelen erreichst. Und du würdest niemanden finden, der dir den Weg weist. Die Menschen fürchten die Schlucht und meiden ihre Umgebung. Außerdem«, fügte er hinzu, »sind da noch die schwarzen Reiter. Du bist ihnen einmal entkommen. Ob es dir ein zweites Mal gelingt...«

Kim seufzte. Kelhim hatte recht, natürlich. So, wie jeder recht hatte - Themistokles, Rangarig, Harkvan, Priwinn... Aber alle Vernunft und alles Rechthaben würden ihnen letztlich nichts gegen Boraas nutzen.

Er lehnte sich schwer auf die Brüstung und starrte über den See. Plötzlich stutzte er. Er fuhr sich mit der Hand über die Augen, beugte sich weit vor und schaute konzentriert zur Flußmündung hinüber.

»Kelhim«, rief er aufgeregt. »Sieh! Was ist das?« Er deutete mit dem Arm auf eine Anzahl kleiner Punkte, die auf der schnellen Strömung herangeschossen kamen.

Kelhim schaute in die angegebene Richtung. »Ich mag mich täuschen«, brummte er, »aber es sieht so aus, als wären das Flöße. Viele Flöße.«

»Mir scheint, meine zwei Augen sehen besser als deines«, murmelte Kim, ohne den Blick von den auf den Wellen hüpfenden Flößen zu wenden. »Es sind Steppenreiter. Harkvan kommt!«

»Möglich«, brummte Kelhim. »Es sind viele. Und doch wenige. Zu wenige!« Unvermittelt riß er sich von dem Anblick los. »Komm! Wir wollen rechtzeitig im Hafen sein, wenn sie einlaufen! Das riecht nach einer Katastrophe.«

Sie stürmten die Treppe hinunter. Kim hatte Mühe, mit dem Tempo mitzuhalten, das der Bär plötzlich entwickelte. Aber sie hatten einen weiten Weg vor sich, mußten sie doch das Schloß fast in seiner gesamten Länge durchqueren. Unterwegs trafen sie auf Gorg, der ebenfalls von der Ankunft der Flöße Wind gekriegt hatte, und zu dritt rannten sie weiter. Eine große Menschenmenge hatte sich im Hafen versammelt. Als sie die geschwungene Freitreppe zum Kai hinunterstürmten, passierte das erste Floß gerade die schmale Einfahrtsrinne. Kelhim und Gorg brachen mit ihren breiten Schultern eine Gasse durch die Menge. Dann standen sie schwer atmend am Ufer und sahen der Ankunft der Flöße entgegen.

Kims Freude, die Steppenreiter wiederzusehen, schlug in Schreck und Niedergeschlagenheit um, als er die Flotte näher kommen sah. Das Floß, das als erstes in den Hafen einlief, war ein Bastfloß, ähnlich dem, auf dem sie selbst vor wenigen Tagen nach Gorywynn gekommen waren, nur größer, mit einer Bordwand und niedrigen Aufbauten aus Schilf und Holz versehen. Nach und nach zählte Kim insgesamt achtundzwanzig der großen, plumpen Gefährte, und auf ihnen mochten sich vielleicht zwei- bis dreitausend Menschen befinden; Männer, alte und junge, Frauen und Kinder. Aber das waren nicht mehr die stolzen, aufrechten Menschen, die er in Caivallon kennengelernt hatte. Kaum einer von ihnen war unverletzt. Viele trugen Verbände, und das Stöhnen der Verwundeten übertönte das Raunen der Menge.

»Ihr Götter!« rief Gorg.

Ein Fanfarenstoß ertönte. Die Flügel des großen Bronzetores am oberen Ende der Freitreppe schwangen auf, und Themistokles stürmte, von einer Schar aufgescheuchter Wachen begleitet, die Stufen herunter. Die Menschenmenge teilte sich vor ihm und bildete eine Gasse, durch die er ungehindert zum Kai gelangen konnte. Die Besorgnis auf seinen Zügen wich einem Ausdruck des Erschreckens, als er die Situation erfaßte.

Kim hielt ängstlich nach Harkvan Ausschau, konnte ihn aber auf keinem der Flöße entdecken. Rechts und links von ihm sprangen jetzt Männer ins Wasser, kraulten mit schnellen Zügen zu den Flößen hinaus und griffen nach den Seilen, die ihnen zugeworfen wurden.

Dann endlich legte das erste Floß an der niedrigen Kaimauer an. Hunderte Hände streckten sich den erschöpften Steppenreitern entgegen, um ihnen an Land zu helfen. Nicht alle konnten aus eigener Kraft gehen. Viele mußten gestützt oder getragen werden, und so mancher von denen, die das Ufer ohne fremde Hilfe erklommen, brach dort zusammen, als hätte er seine letzte Energie für diesen einen rettenden Schritt aufgespart.

Der Platz am Ufer wurde eng. Themistokles gab verschiedene Anweisungen, worauf die Menge auseinanderwich und die Flüchtlinge in einer langen, traurigen Reihe ins Innere Gorywynns geführt wurden, wo ihnen weitere Hilfe zuteil werden sollte.

»Da ist Priwinn!« rief Gorg.

Kim reckte sich auf die Zehenspitzen, um über die Köpfe der Menge hinwegsehen zu können. Der junge Steppenprinz war totenblaß. Ein blutiger, gezackter Kratzer lief über seine Wange bis zur Nasenwurzel hinauf, und um seine rechte Hand war ein schmuddeliger Verband gewickelt. Er wankte, und hätte ihn die Menge nicht einfach mit sich getragen, wäre er sicher gestürzt.

Themistokles entdeckte den Prinzen im gleichen Augenblick. Er schwang seinen Stab, scheuchte Männer und Frauen beiseite und eilte Priwinn entgegen. Kim, Kelhim und Gorg bahnten sich ebenfalls eine Schneise. Sie kamen gerade noch rechtzeitig, um Priwinn vor dem Zusammenbrechen zu bewahren. Gorg fing ihn mit einer seiner mächtigen Pranken auf.

Themistokles beugte sich besorgt zu dem Prinzen herunter.

»Prinz Priwinn!« sagte er mit mühsam beherrschter Stimme. »Ihr lebt! Den Göttern sei Dank! Wo ist Euer Vater? Und was ist geschehen?«

Priwinn schob Gorgs Hand beiseite. Er schwankte und ließ sich mit einem Seufzer der Erschöpfung zu Boden sinken.

»Verloren!« stieß er hervor. »Wir haben... verloren. Caivallon... ist gefallen.«

»Gefallen!« rief Themistokles erschüttert. »Aber wie...?«

»Die... schwarzen Reiter«, berichtete Priwinn. »Nach Eurer Abreise berieten wir weiter. Es hat lange gedauert, und die Nacht wich dem Tag, bevor wir uns zu einer Entscheidung durchgerungen hatten. Wir beschlossen, Caivallon zu halten. Auf Drängen meines Vaters hin räumte der Rat jedoch ein, tausend unserer besten Reiter nach Gorywynn zu senden. Niemand sollte uns nachsagen, Caivallon ließe seine Freunde in der Stunde der Not im Stich.«

»Unsinn«, sagte Themistokles. »Ich käme nie auf diesen Gedanken. Aber was geschah weiter? Diese tausend Reiter...«

»Kamen niemals an, ich weiß«, sagte Priwinn. »Sie stießen auf Boraas' Armee, nur eine Tagereise entfernt. Und schon am nächsten Morgen begann der Angriff auf Caivallon.« Er schüttelte sich, als ihn die Erinnerung überfiel. »Der Kampf war fürchterlich«, fuhr er mit monotoner Stimme fort. »Unsere Männer kämpften tapfer, und nicht viele der schwarzen Reiter kamen dazu, sich über ihren Sieg zu freuen. Aber es waren zu viele. Die Wälle fielen, und wir mußten fliehen.«

»Aber all die Bewohner Caivallons...«

Priwinn schüttelte den Kopf. »Die, die uns begleiten, sind die letzten«, sagte er. »Die anderen sind tot oder in alle Winde versprengt. Caivallon brannte, als wir flohen. Die Steppenfestung ist zerstört, Themistokles. Ihr hattet recht. Wir hätten auf Euch hören und nach Gorywynn fliehen sollen, bevor es zu spät war.«

Themistokles' Hände verkrampften sich so fest um seinen Stab, daß die Knöchel weiß hervortraten. »Noch nie zuvor, Prinz Priwinn«, sagte er, »habe ich mit solcher Inbrunst gehofft, nicht recht zu behalten.« Er schaute mit leerem Blick über die mit Flößen übersäte Oberfläche des Sees. »Und Euer Vater?«

»Gefallen«, sagte Priwinn. »So wie all die anderen. Der Rat der Weisen existiert nicht mehr. Ich bin der einzige Überlebende. Sie warfen sich dem schwarzen Heer entgegen, ein paar hundert Getreue, die geblieben waren, um uns die Flucht zu ermöglichen. Ich... ich wollte bleiben, um an der Seite meines Vaters zu kämpfen und zu sterben, aber er ließ es nicht zu.«

»Es war ein guter Entschluß«, murmelte Gorg. »Euer Volk braucht einen Führer.«

»Einen Führer?« Priwinn lachte hart, und in seinen Augen glitzerten Tränen. »Du verspottest mich, Riese. Es gibt nichts mehr, wohin ich sie führen kann.«

»O doch«, mischte sich Kim ein. »Euer Leben ist wichtiger als je zuvor, Prinz Priwinn. Der wirkliche Kampf gegen Boraas und sein Heer steht noch bevor. Ihr habt eine Schlacht verloren, aber der Krieg geht weiter.«

Priwinn musterte ihn eine Weile schweigend.

»Du hast sie nicht erlebt, Kim«, sagte er dann. »Du hast das Heer gesehen, aber du hast nicht erlebt, wie sie kämpfen. Das sind keine Menschen, das sind Teufel. Ich habe sie gesehen, und ich weiß, daß es niemanden gibt, der ihnen widerstehen kann. Auch Gorywynn wird fallen. Niemand kann dem Schwarzen Lord widerstehen.«

»Der Schwarze Lord?« fragte Themistokles erschrocken. »Ihr habt den Schwarzen Lord gesehen, Prinz?«

Priwinn nickte. »Er ritt an der Spitze des Heeres, und er war der Schrecklichste von allen. Es gibt keinen, der ihn besiegen könnte.«

Themistokles wich seinem Blick aus. »Ihr seid müde, Prinz«, murmelte er. »Laßt euch ein Zimmer zuweisen und Eure Wunden versorgen. Später werden wir beraten, was zu tun ist.« Er gab einer seiner Wachen einen Wink, und der Mann hob Priwinn wie ein Kind auf die Arme und trug ihn fort.

Die Lichter erloschen nicht in dieser Nacht. Dunkelheit senkte sich über die gläsernen Wälle der Festung, aber Gorywynn schlief nicht. Trotz seiner gewaltigen Größe schien das Schloß nach der Ankunft der Steppenreiter schier aus den Nähten zu platzen, und es gab wohl keinen, der an diesem Abend zur Ruhe kam. Verwundete wurden versorgt, Trauernde getröstet, so gut es ging, und wo man sich nicht um Verletzte kümmerte oder Hungernde labte, saß man zusammen und redete. Trotz allem, was geschehen war, begriff so mancher erst jetzt, beim Anblick dieses geschlagenen, entwurzelten Volkes, welches Schicksal ihnen allen in wenigen Tagen oder Wochen bevorstehen mochte. Caivallon war mehr als nur irgendein Schloß gewesen. Seit jeher galten die Steppenreiter als die furchtlosesten und stärksten Bewohner Märchenmonds. Caivallons Niederlage bedeutete nicht nur den Fall einer Festung, sondern das Ende eines Traumes. Caivallon war ein Symbol der Macht und der Sicherheit gewesen, ein Bollwerk, das Märchenmond seit Anbeginn der Zeit vor jeder Bedrohung geschützt hatte. Und nun war es gefallen. Der Feind hatte den ersten großen Schlag in diesem schrecklichen Krieg ausgeteilt, und die Wunde, die er hinterlassen hatte, schmerzte.

Auch Kim schlief nicht in dieser Nacht. Ein paarmal hatte er versucht, zu Themistokles vorzudringen, aber immer vergebens. Und so hatte er begonnen, ruhelos in den weiten Gängen Gorywynns umherzuwandern, trotz der ungezählten Menschen, die ihn umgaben, einsam, vielleicht von all den Tausenden, die Gorywynn bevölkerten, der Einsamste.

Erst als er plötzlich vor einer geschlossenen Tür stand und sein Blick auf die weißgoldene Uniform des Wächters davor fiel, merkte er, wohin ihn seine Schritte - bewußt oder unbewußt - geführt hatten.

»Wie geht es dem Prinzen?« fragte er hastig, um sein Erschrecken zu verbergen.

»Prinz Priwinn schläft, Herr. Der Heilkundige war bei ihm, und er hat sich ein wenig gestärkt. Themistokles hat Weisung gegeben, ihn nicht zu stören.«

»Ich störe ihn bestimmt nicht«, sagte Kim, während er bereits nach der Türklinke griff. »Ich möchte mich nur davon überzeugen, daß es ihm gutgeht.«

Der Posten zögerte noch.

Kim, der die schwarze Rüstung mit einer weißen, lose fallenden Tunika vertauscht hatte und sich jetzt kaum noch von irgendeinem anderen Bewohner Gorywynns unterschied, beschloß die Vertrauensstellung, die er genoß, zum ersten Mal schamlos zu nutzen.

»Das geht schon in Ordnung«, sagte er zu dem Posten. »Themistokles weiß, daß ich hier bin.«

Der Wächter nickte erleichtert, und Kim trat ein.

Der Raum war dunkel. Durch die Ritzen der Tür und das halbgeöffnete Fenster fiel ein wenig Licht herein, gerade genug, um die Dinge im Zimmer als schwarze, massige Schatten erkennen zu lassen. Kim blieb einen Moment an der Tür stehen, sah sich suchend um und ging dann zögernd auf das Bett zu, in dem der junge Prinz lag. Er wußte selbst nicht genau, warum er hierhergekommen war. Priwinn schlief, wie die regelmäßigen Atemzüge bewiesen, und eigentlich hatte Kim hier nichts verloren. Trotzdem trat er näher an das Bett heran und betrachtete den Schlafenden. Priwinns Gesicht wirkte im fahlen Licht des Mondes blaß und schmaler, als er es in Erinnerung hatte. Der Heilkundige hatte den Riß auf seiner Wange behandelt, nur eine dünne rote Linie war zurückgeblieben, und auch der Verband um seine rechte Hand war erneuert.

Priwinns Atem ging gleichmäßig, aber schnell, und die Augäpfel unter den geschlossenen Lidern bewegten sich unablässig. Wahrscheinlich träumte er, und wahrscheinlich waren es keine angenehmen Träume.

Kim wandte sich ab, ging zur Tür und drehte sich dann noch einmal um, ohne genau zu wissen, warum.

Priwinns Augen waren geöffnet. Er war wach.

Kim trat verlegen auf der Stelle und lächelte unsicher.

»Ich... es tut mir leid, wenn ich dich geweckt habe«, sagte er leise. »Ich wollte dich nicht stören. Entschuldige.«

Priwinn setzte sich halb auf, stützte sich auf die Ellbogen und schüttelte den Kopf. »Du hast mich nicht geweckt. Ich war wach, die ganze Zeit. Und ich habe gehofft, daß du kommst.«

»Wirklich?«

Priwinn nickte. »Ich habe oft an dich gedacht, Kim«, gestand er. »Ich habe viel nachgedacht auf dem Weg hierher. Über das, was du versucht hast, uns zu erklären...« Er stockte, und Kim hatte den Eindruck, als ob es in seinem Gesicht schmerzlich zuckte. Aber es war zu dunkel, um es mit Sicherheit sagen zu können.

»Es war eine gute Rede, die du vor dem Rat der Weisen gehalten hast«, fuhr Priwinn nach einer langen Pause fort. »Zu gut für uns. Wenigstens für mich. Ich habe sie damals nicht verstanden oder nicht verstehen wollen; und als ich sie verstanden habe, war es zu spät.« Kim wollte etwas sagen, aber Priwinn winkte ab. »Nein, widersprich mir nicht, Kim. Du weißt nicht, was geschehen ist, als ihr fort wart, du, Themistokles und die anderen.«

»Ich weiß es...«

»Du weißt es nicht!« unterbrach ihn Priwinn laut, so laut, daß Kim unwillkürlich einen besorgten Blick zur Tür warf.

Aber draußen auf dem Gang blieb alles ruhig.

»Du weißt es nicht«, wiederholte Priwinn. »Wir haben beraten, mein Vater, die anderen und ich. Der Rat der Weisen hat über euren Vorschlag abgestimmt. Deine Worte, Kim, haben großen Eindruck hinterlassen. Der Rat war sich uneinig, zum ersten Mal seit sehr langer Zeit. Wir haben die ganze Nacht beraten, ohne zu einem Ergebnis zu gelangen. Schließlich wurde abgestimmt, und die Mehrheit der Stimmen war dafür, Caivallon zu halten.« Er blickte starr vor sich hin und sagte mit leisem, bitterem Lachen: »Weißt du, wie groß diese Mehrheit war, Kim? Eine Stimme. Meine Stimme. Ich war es, der schließlich die Entscheidung herbeiführte, der bestimmte, daß Caivallon nicht evakuiert wurde. Ich war es, der die Verantwortung für das übernahm, was schließlich geschehen ist. Dieser sinnlose Kampf und all die Toten - es war meine Schuld. Hätte ich auf dich gehört statt auf meinen verdammten Stolz, könnten so viele meines Volkes noch am Leben sein.«

Kim streckte die Hand aus und berührte Priwinn zaghaft an der Schulter. »Dich trifft keine Schuld«, sagte er leise. »Du hast getan, was du glaubtest tun zu müssen. Du könntest dir nur etwas vorwerfen, wenn du gegen deine Überzeugung gehandelt hättest. Aber das hast du nicht. Keiner von uns ist stark genug, dem Schicksal vorzuschreiben, was es zu tun hat.«

»Sagst du das nur, um mich zu trösten?«

»Nein, Priwinn. Du hast der Stimme deines Gewissens gehorcht, und es ist niemals falsch, dies zu tun. Jeder sollte so handeln, wie er es für richtig hält, nicht so, wie es die anderen wollen.« Er brach ab und schwieg betreten. Seine eigenen Worte hallten hohl in seinem Kopf nach. Irgend etwas, was die ganze Zeit über in ihm gewesen war, ein Entschluß, den er schon vor langer Zeit gefaßt und den auszusprechen er nur noch nicht den Mut gefunden hatte, reifte in ihm und wurde zur Gewißheit. »Jeder sollte tun, was er tun zu müssen glaubt«, wiederholte er, mehr für sich als für Priwinn. »Und genau das werde ich tun. Ich habe schon viel zu lange gezögert.«

Priwinn sah ihn aufmerksam an. »Was meinst du damit?«

Kim zögerte. Irgend etwas sagte ihm, daß er Priwinn rückhaltlos vertrauen konnte. Er ging zur Tür, preßte das Ohr an das Holz und lauschte. Dann kam er zurück, setzte sich auf die Bettkante und begann leise zu erzählen, was nach seinem Eintreffen auf Gorywynn vorgefallen war.

Priwinn hörte aufmerksam zu, ohne ihn ein einziges Mal zu unterbrechen. »Ich glaube, ich weiß, was du tun willst«, sagte er, als Kim zu Ende erzählt hatte. »Und ich glaube, es ist richtig. Würdest du... würdest du mich mitnehmen?«

Kim sah ihn überrascht an. »Dich mitnehmen? Zum König der Regenbogen? Auf einen Weg, von dem ich nicht weiß, ob er überhaupt ein Ziel hat?«

Priwinn nickte.

»Aber ich habe keine Ahnung, ob ich lebend wiederkomme«, gab Kim zu bedenken. »Es ist gefährlich, vielleicht tödlich. Und vielleicht existiert dieser sagenhafte Regenbogenkönig gar nicht. Und wenn doch, wer weiß, ob er uns tatsächlich hilft.«

»Er existiert«, sagte Priwinn. »Und du wirst ihn finden, wenn du es nur willst. Ich werde hier nicht gebraucht. Gorywynn mag fallen oder nicht - ein Schwert mehr oder weniger macht keinen Unterschied. Vielleicht ist es wirklich gefährlich, aber wenn ich schon sterbe, dann wenigstens nicht unter den Klingen der schwarzen Reiter. Laß mich dich begleiten. Du kennst dieses Land nicht. Allein hast du keine Chance. Zu zweit könnten wir es schaffen.«

Kim überlegte lange, ein paar Minuten lang. Dann stand er entschlossen auf. »Wann gehen wir?«

Priwinn strahlte. »Du nimmst mich mit?«

»Ja. Ohne deine Führung würde ich mich wahrscheinlich schon nach den ersten hundert Metern verlaufen.«

»Wir treffen uns in einer halben Stunde am Nordtor«, schlug Priwinn vor. »Ich will mich nur rasch umziehen.«

»Und die Wache?«

Priwinn winkte ab. »Mach dir deshalb keine Sorgen. Ich werde pünktlich dasein.«

Mit klopfendem Herzen ging Kim in sein Zimmer zurück. Er fühlte sich frei und erleichtert, als wäre eine schwere Last von ihm genommen, obwohl er neuen, unbekannten Gefahren entgegenging. Er schloß die Tür hinter sich ab und legte seinen schwarzen Harnisch an. Die weiße Tunika knüllte er zusammen und warf sie achtlos in eine Ecke. Es war die Kleidung des Feindes, die er trug, aber sie hatte ihm bisher nur Glück gebracht; und wenn Kim unter all den Waffenröcken, die in Gorywynn zusammengetragen worden waren, auch gewiß einen besseren und schöneren gefunden hätte, zog er doch diesen schwarzen Panzer vor. Er überprüfte sorgfältig den Sitz des Brustpanzers und der Arm- und Beinschienen, öffnete dann die schwere Eichenholztruhe neben seinem Bett und nahm Laurins Umhang heraus. Er hatte ein etwas schlechtes Gewissen, als er den Mantel um die Schultern legte. Themistokles hatte ihm diesen Schatz anvertraut, und nun hinterging er den alten Zauberer auf gröbliche Weise.

Er nahm Priwinns Schild auf, befestigte ihn mit den Halteriemen an seinem linken Arm und verließ das Zimmer. Trotz der späten Stunde herrschte noch reges Treiben auf den Gängen, und der weite Innenhof der Festung war von unzähligen flackernden Feuern beinah taghell erleuchtet. So mancher verwunderte Blick wurde ihm zugeworfen, als er, in voller Rüstung und wie zu einem Waffengang gewappnet, zu den Stallungen hinüberging. Aber niemand sprach ihn an. Kim erreichte die Stallungen, und zum ersten Mal seit vier Tagen sah er seinen Rappen wieder. Das Pferd wieherte erfreut, als es ihn erkannte, und Kim verschwendete ein paar Minuten damit, seinen Hals zu streicheln und ihm liebevolle Worte ins Ohr zu flüstern.

Als er sich umdrehte und Junge am Zügel aus dem Stall führen wollte, wuchs ein riesiger schwarzer Schatten vor ihm empor. Kims Herz machte einen schmerzhaften Sprung.

»Gorg!«

»Und Kelhim«, brummte es von der anderen Seite des Stalles. Kim fuhr herum und erkannte den Bären, der auf allen vieren vor der Tür hockte und ihn kopfschüttelnd ansah. »Tztztz«, machte er. »Eigentlich hätten wir es uns denken können, daß dieser junge Hitzkopf die Ratschläge älterer Leute in den Wind schlägt und sich auf eigene Faust davonmacht, nicht wahr?«

Gorg nickte bekräftigend. »Ja. Aber ich hätte nicht gedacht, daß er die Frechheit hat, sich einfach davonzuschleichen.« Er warf dem Bären einen nachdenklichen Blick zu. »Was machen wir nun mit ihm?«

Kim hätte vor Wut und Enttäuschung am liebsten geheult. Sein Vorhaben war gescheitert, noch bevor er begonnen hatte, es in die Tat umzusetzen.

Kelhim erhob sich schwerfällig und gab die Tür frei. »Am besten, wir gehen erst mal hier raus«, brummte er. »Ich mag Ställe nicht. Sie stinken. Und ich mag auch Pferde nicht. Außer zum Frühstück.« Er stieß die Tür auf und trottete hinaus. Gorg legte Kim seine große Hand auf die Schulter und schob ihn vor sich her ins Freie. Sie überquerten den Hof, aber zu Kims Erstaunen wandten sie sich nicht dem Hauptgebäude zu, sondern steuerten eine schmale Seitenpforte an, die nach draußen führte. Sie stand offen, und von dort draußen drang ein heller goldener Schimmer herein. Rangarig!

Kims Verdacht, daß hier irgend etwas nicht stimmte, wurde zur Gewißheit, als er den Dritten im Bunde sah.

»Priwinn!«

Priwinn lächelte. »Ich habe doch versprochen zu kommen, oder?«

»Aber...« Kim schaute verdutzt zu Gorg hinauf.

Der Riese gab sich alle Mühe, ernst dreinzublicken, aber in seinen Augenwinkeln glitzerte der Schalk. »Du glaubst doch nicht, daß wir dich allein gehen lassen, wie?«

»Heißt das, daß ihr... mitkommt?« fragte Kim ungläubig. »Was denn sonst? Festhalten können wir dich ja schlecht, oder?«

Kim brauchte eine Weile, um seiner Überraschung Herr zu werden. »Aber ihr... ihr wart doch alle dagegen«, stotterte er verwirrt.

»Niemand war dagegen«, widersprach Kelhim. »Aber hätten wir dich gleich ziehen lassen, wärest du blind losgestürmt, nur von dem Gedanken beseelt, Gorywynn retten zu müssen. Wir mußten warten, bis du wirklich bereit warst.«

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