XIII

Schneller, als ein Pfeil fliegt, trug Rangarig sie nach Westen, tiefer in die Nacht hinein. Der Wind brauste ihnen ins Gesicht, und das Land fiel schnell unter ihnen hinab und wurde zu einer dunklen, konturlosen Masse. Kim drehte sich vorsichtig um und blickte zurück. Gorywynn war zu einem glitzernden Juwel zusammengeschrumpft, eine helle, in rosafarbenem und blauem Licht schimmernde Perle, deren Glanz noch lange, nachdem ihre Umrisse in Entfernung und Dunkelheit versunken waren, die Nacht im Osten erhellte.

»Sitzt ihr gut?« brummte Kelhim. Ohne Kims oder Priwinns Antwort abzuwarten, legte er von hinten seine mächtigen braunen Tatzen um ihre Körper und preßte die beiden Jungen an sich und aneinander, um sie sowohl vor dem eisigen Wind zu schützen als auch vor dem Herunterfallen zu bewahren.

Rangarigs Flügel teilten mit machtvollem Rauschen die Luft, als der Drache sich höher und höher emporschwang. Das Mondlicht brach sich in blitzenden silbernen und goldenen Reflexen auf seinen Flanken, und so mancher, der in dieser Nacht einen zufälligen Blick auf den Himmel warf, mochte sich fragen, was dieser goldene Schemen zu bedeuten hatte, der da dicht vor den Sternen vorbeizog. Kim begann zu frieren, trotz der Umarmung des Bären und Gorgs breitem Rücken, der wie ein Schild vor ihm aufragte und ihn und Priwinn gegen den direkten Anprall des Windes schützte. Aber er beherrschte sich tapfer und sagte nichts.

Stunde um Stunde flogen sie nach Westen, und Kim begann sich zu fragen, ob der Drache denn überhaupt keine Müdigkeit kannte. Trotz seiner gewaltigen Größe mußte er das Gewicht seiner vier Passagiere - von denen zwei soviel wogen wie ein Dutzend normaler Männer - als lästig empfinden. Aber Rangarig flog ohne Unterbrechung weiter, bis sich der erste Schimmer des neuen Tages am Horizont zeigte. Erst dann wurden seine Flügelschläge langsamer, und er ließ sich ruhig zur Erde hinabgleiten.

Kim beugte sich neugierig zur Seite und versuchte zu erkennen, was unter ihnen war. Sie schwebten über einer endlosen, grüngewellten Decke; Wipfel eines Waldes, der sich so weit erstreckte, wie der Blick reichte, nur hier und da von einer kleinen Lichtung oder dem glitzernden Band eines Flusses unterbrochen. Rangarig ging tiefer und glitt eine Weile dicht über dem Dach des Waldes dahin, ehe er mit einem letzten, mächtigen Flügelschlag hinabstieß und auf einer langgestreckten, von einer blumigen Wiese bedeckten Lichtung landete. Seine Flügel falteten sich knisternd zusammen. Er kroch noch ein Stück am Boden weiter, bis er im Schatten des Waldrandes angelangt war, und ließ sich erleichtert nieder.

»Genug für eine Nacht«, keuchte er. »Auch ein Drache braucht von Zeit zu Zeit Ruhe.« Er wartete, bis seine Gäste der Reihe nach von seinem Rücken gesprungen waren, rollte sich zusammen und bettete den Kopf auf die Vorderfüße. Sekunden später verkündete lautes, rasselndes Schnarchen, daß er eingeschlafen war.

Kim machte ein paar vorsichtige Schritte und rieb sich das schmerzende Kreuz. Der Ritt auf dem Drachen war alles andere als bequem gewesen. Trotz Kelhims behutsamer Umklammerung hatte er sich die ganze Zeit krampfhaft festgehalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Er war müde, und Hunger und Durst quälten ihn wie schon lange nicht mehr.

Gorg reckte sich, daß die Knochen krachten. »Ein Schläfchen würde mir jetzt auch guttun«, verkündete er gähnend. »Ich muß gestehen, ich bin schon bequemer gereist.«

Rangarigs rechtes Augenlid klappte nach oben. »Dann geh doch zu Fuß«, grollte er, schloß das Auge wieder und schnarchte weiter, als wäre nichts gewesen.

Kelhim lachte schadenfroh. »Statt rumzumeckern, solltest du dir lieber Sorgen um unser Frühstück machen«, brummte er. »Ich habe Hunger wie ein Bär.«

Gorg grunzte etwas Unverständliches, schwang sich seine Keule über die Schulter und blinzelte zur Sonne hinauf. »Noch früh«, sagte er. »Fast zu früh für die Jagd. Aber ich werde mein Glück versuchen. Kümmert ihr euch um das Feuer.« Ohne ein weiteres Wort verschwand er unter gewaltigem Krachen und Bersten im Unterholz.

Priwinn und Kim begannen in der näheren Umgebung Holz und trockenes Laubwerk zusammenzusuchen. Die Aufgabe war nicht leicht. Der Wald war saftig und grün, die Bäume standen in voller Blüte, und nur selten fanden die Jungen einen trockenen Ast, den sie ohne allzugroße Anstrengung abbrechen und mitnehmen konnten. Es dauerte fast eine Stunde, bis sie genug Holz für ein Feuer beisammen hatten. Aber jetzt ergab sich die Schwierigkeit, das feuchte und zum Teil noch grüne Holz zum Brennen zu bringen. Kim hatte eine sehr verschwommene Vorstellung vom Aneinanderreiben trockener Stäbe und ähnlich abenteuerlichen Methoden, Feuer zu machen, aber Priwinn lachte nur dazu. Mit einem Augenzwinkern ging er zu dem schlafenden Drachen hinüber, schlug ihm zweimal hintereinander mit der Faust auf die Nase und trat ihm dann fest in die Seite, um ihn wachzubekommen. Rangarig öffnete spaltbreit ein Auge und blinzelte verschlafen. »Waschischlosch?« murmelte er.

Priwinn deutete auf den Holzstapel in der Mitte der Lichtung. »Wir brauchen Feuer.«

Rangarig knurrte. »Schlag doch diesen beiden großen Tölpeln die Köpfe zusammen«, sagte er. »Vielleicht gibt's einen Funken.« Aber er hob trotzdem den Schädel, visierte den Brennholzstapel kurz an und gähnte dann herzhaft. Ein armdicker Feuerstrahl schoß aus seinem Rachen, sengte eine schwarze Spur ins Gras und setzte das Holz mit einem lauten Knall in Brand. Kim sprang mit einem Aufschrei zurück, als die Flammen emporschossen. Rangarig legte den Kopf wieder auf die Vorderfüße und schlief auf der Stelle weiter.

Priwinn kam grinsend ans Feuer geschlendert. »Siehst du«, sagte er. »Es geht auch ohne Feuersteine.«

Kim nickte erstaunt. Natürlich hatte er gehört, daß Drachen im allgemeinen und im besonderen imstande waren, Feuer zu speien. Aber er hatte das, wie so vieles, für eine Übertreibung gehalten.

»Jetzt fehlt nur noch Gorg mit dem Frühstück«, brummte Kelhim. Aber sie mußten noch fast zehn Minuten warten, bis der Riese wiederkam. Und als er schließlich aus dem Wald trat, trug er kein Wildbret, sondern nur seine mächtige Keule über der Schulter.

»Das Feuer aus!« befahl er. »Schnell.«

Kelhim legte mißmutig den Kopf auf die Seite. »Warum?« brummte er. »Ich habe Hunger.«

Gorg war mit ein paar langen Schritten bei ihnen und trat das Feuer aus. Funken stoben und brennende Äste flogen davon. »Schwarze!« sagte er. »Eine ganze Abteilung schwarzer Reiter ist auf dem Weg hierher!«

»Was heißt eine ganze Abteilung?« fragte Kelhim.

Gorg trampelte weiter im längst erloschenen Feuer herum. »Fünfzehn bis zwanzig«, berichtete er. »Und wenn wir nicht verdammt rasch machen, daß wir wegkommen, reiten sie uns glatt über den Haufen.«

»Aber wie können sie wissen, daß wir hier sind?« fragte Kim.

Gorg lachte. »Rangarig ist nicht leicht zu übersehen«, sagte er. »Außerdem gibt es kaum etwas, was Boraas verborgen bleibt. Seine Reiter werden ihm gemeldet haben, daß wir auf dem Weg nach Westen sind. Und es gehört nicht viel dazu, zwei und zwei zusammenzuzählen und herauszubekommen, was wir vorhaben.«

»Reg dich nicht auf«, beruhigte ihn Kelhim. »Du hast selbst gesagt, daß es höchstens zwanzig sind. Ich werde mich darum kümmern.«

»Nichts wirst du!« sagte Gorg barsch. »Ich fürchte mich genausowenig vor ihnen wie du, aber wir können uns nicht damit aufhalten, uns mit ihnen herumzuprügeln. Je eher wir die Klamm der Seelen erreichen, desto besser. Ich wecke jetzt diese verschlafene Eidechse, und dann fliegen wir weiter. - He, Rangarig!« brüllte er dem Drachen ins Ohr. »Aufwachen! Wir müssen weiter!«

Rangarig grunzte. Sein Schwanz zuckte, fällte einen mittelgroßen Baum und fegte wie zufällig Gorg von den Füßen. Dann lag der Drache wieder still und schnarchte ungerührt weiter. Gorg rappelte sich fluchend hoch und trat dem Drachen zweimal mit solcher Wucht vor die Schnauze, daß der Boden dröhnte.

Rangarig öffnete träge ein Auge. »Hat man denn nirgends seine Ruhe?« Er gähnte und riß dabei den Rachen sperrangelweit auf. Der Riese sprang kreischend zur Seite, als eine fast meterlange Feuerzunge in seine Richtung zuckte. »Verschlafene Eidechse, wie?« grollte der Drache. »Darüber reden wir noch, alter Freund. - Na los, worauf wartet ihr noch?« Er machte sich so niedrig wie möglich und entfaltete den rechten Flügel ein wenig, so daß die vier Freunde wie über eine Leiter auf seinen breiten Rücken klettern konnten. Sie flogen weiter, wenn auch nicht mehr so hoch und so schnell wie in der vorangegangenen Nacht. Trotzdem glitt das Land mit phantastischer Geschwindigkeit unter ihnen davon. Nach einer Weile trat der Wald zurück und machte einer grausigen Hügellandschaft Platz.

»Ist es noch weit?« schrie Kim über das Rauschen der Flügel hinweg.

Gorg antwortete, ohne sich umzudrehen: »Sehr weit, Kim. Zwei, vielleicht drei Tagereisen, wenn wir ohne Pause durchfliegen. Aber das können wir nicht. Rangarig braucht bald wieder eine Pause. Der Gute wird alt. Früher hat er länger durchgehalten, aber neuerdings muß er von Zeit zu Zeit ein Mittagsschläfchen halten.«

Rangarig schüttelte ärgerlich den Kopf. Die Bewegung warf Gorg um ein Haar aus dem Sitz.

Kim klammerte sich erschrocken an den hornigen Zacken auf Rangarigs Rücken fest. »Laßt den Blödsinn!« rief er ärgerlich.

Rangarig lachte grollend, flog dann aber merklich ruhiger weiter. Der Charakter der Landschaft änderte sich immer wieder. Nach einer Weile breitete sich eine steinige Ebene unter ihnen aus, auf der nur wenige Büsche und vereinzelte, kränklich aussehende Grasinseln wuchsen. Dann Berge, nicht sonderlich hoch, aber steil und unwegsam. Rangarig zog dicht über die Gipfel hinweg und steuerte schließlich eine kahle, windumtoste Hochebene an. Sie wurden kräftig durchgeschüttelt, als der Drache zu einem recht unsanften Landemanöver ansetzte.

Rangarig stieß einen Seufzer aus, der das Heulen des Windes übertönte. »Genug«, meinte er. »Vielleicht finde ich hier ein wenig Schlaf.« Er schüttelte sich, als Gorg, für seinen Geschmack zu langsam, von seinem Rücken herunterstieg. Der Riese landete fluchend auf dem harten Fels.

»Flegel!« schimpfte Gorg. »Nur weil du so groß bist, glaubst du dir alles erlauben zu können, wie?«

»Nicht alles«, fauchte Rangarig. »Aber eine Menge. Und jetzt will ich schlafen. Hier oben werden wir ja wohl ungestört sein.« Er rollte sich zusammen und bildete mit seinem Körper eine Höhle, in der sie Schutz vor dem eisigen Wind finden konnten.

Die mächtigen goldenen Flanken des Drachen hielten sie sicher und warm. Sie alle spürten die Anstrengungen der überstandenen Nacht. Kim kuschelte sich wohlig in Kelhims warmes Fell. Aber er fand keinen Schlaf. Zu viele Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Nach einer Weile stand er auf, vorsichtig, um die anderen nicht zu wecken, kroch aus dem Schutz des Drachenkörpers hervor und trat an die Felskante. Der Stein fiel mehr als hundert Meter senkrecht unter ihm ab, und die kahle, felsige Landschaft setzte sich nach Westen hin fort, so weit der Blick reichte. Mehr noch als der kalte Wind ließ dieser Anblick Kim frösteln. Es war eine Kälte, die aus seinem Inneren kam und gegen die keine noch so warme Decke und kein Feuer etwas nützten.

Kim drehte sich halb um, als er Schritte hörte. Es war Priwinn.

»Kannst du auch nicht schlafen?« fragte der Steppenprinz. »Nein«, sagte Kim und wandte sich wieder dem Bild der Landschaft zu. »Wie heißt diese Gegend?« fragte er leise.

Priwinn trat neben ihn. Er steckte fröstelnd die Hände unter die Achseln und scharrte mit dem Fuß über den harten Stein. »Sie hat keinen Namen«, sagte er. »Es ist ein Teil des Schattengebirges.«

»Hier?« sagte Kim erstaunt. »So weit im Herzen Märchenmonds?«

Priwinn nickte. »Eine Zunge«, erklärte er. »Ein Arm des Gebirges, der weit ins Land hineinreicht. Es entstand vor undenklichen Zeiten, lange bevor Caivallon oder Gorywynn errichtet wurden, als Völker und Menschen dieses Land bewohnten, von denen heute nur noch die Sage berichtet. Die Menschen waren damals anders als heute.«

»Anders?«

Priwinn lächelte. »Es ist eine Sage, Kim, ein Märchen, mehr nicht.«

»Erzähle«, bat Kim.

»Damals«, begann der Steppenprinz, »so berichtet die Sage, waren die Menschen anders. Sie waren mächtig, viel mächtiger als wir, und es gab kein lebendes Wesen unter der Sonne, keine Pflanze, kein Tier, das sich ihrem Willen widersetzen konnte. Ich glaube, sie waren ein bißchen so wie die Leute dort, wo du herkommst. Sie beherrschten das Land zu beiden Seiten des Schattengebirges. Sie lebten in großen, prächtigen Städten und hatten Maschinen, mit denen sie schneller als jeder Vogel durch die Luft fliegen konnten. Eines Tages aber griffen sie nach den Sternen, und als sie erkennen mußten, daß sie sie trotz all ihrer Macht und all ihrer Maschinen nicht erreichen konnten, wurden sie böse und verbittert. Neid und Mißgunst schlichen sich in ihre Herzen. Ihre Maschinen wurden immer vollkommener, aber im gleichen Maße, in dem ihr Reichtum wuchs, wuchs auch die Unzufriedenheit, und schon bald blickten die Bewohner der einen Stadt mißtrauisch auf die der anderen, ob diese auch ja nicht mehr besaßen als sie selbst, ob deren Maschinen nicht noch ein bißchen mehr ausrichten konnten als ihre eigenen. Es kam zu Streitigkeiten, zu Zwist, und das Reich zerfiel in viele kleine Reiche, die einander bald zu bekriegen begannen. Ihre Waffen waren fürchterlich, Kim. Sie schleuderten Feuer aufeinander, spalteten die Erde und setzten den Himmel in Brand. Aber trotz aller Kriege und all dieser Schrecken wuchs ihr Reichtum weiter, bauten sie immer neue Maschinen und mit ihnen immer fürchterlichere Waffen. Jedermann wußte damals, daß diese Entwicklung nicht gutgehen konnte, aber obwohl jeder es wußte, rührte keiner einen Finger, um etwas dagegen zu tun. Schließlich kam es zu einem letzten, schrecklichen Krieg. Der Himmel brannte, und die Erde erbrach geschmolzenes Gestein und giftige Gase. Selbst das Schattengebirge wankte unter den furchtbaren Schlägen, die der Mensch der Erde zufügte. Die Erde barst von einem Ende zum anderen, und ein Riß, tiefer als die tiefste Schlucht, trennte die beiden kämpfenden Parteien voneinander.«

»Die Klamm der Seelen«, vermutete Kim.

Priwinn nickte. »Ja. Die Klamm der Seelen. Und an ihrem Ende faltete sich die Erde unter den ungeheuren Gewalten, die der Mensch wohl entfesseln, aber nicht mehr beherrschen konnte, zu einer gewaltigen Barriere auf. Flüssiges Gestein, heiß wie die Sonne und dünn wie Wasser, rann von den geschmolzenen Gipfeln der Schattenberge herab und verband sich mit dieser neuen, von Menschen geschaffenen Barriere.« Er hielt einen Moment inne, und als er weitersprach, klang seine Stimme irgendwie traurig. »Nur wenige Menschen überlebten das Grauen. Sie flohen in Höhlen, tief unter der Erde, und sie und ihre Kinder hausten wie die Tiere. Durch viele Generationen lebten sie so, eingeschlossen, ohne Licht und Luft, bis die Menschen ihre Heimat und ihre Abstammung vergaßen. Jahrhunderte vergingen, und als die Kindeskinder der Kindeskinder jener, die den Untergang überlebt hatten, endlich den Weg zurück ans Tageslicht fanden, hatte sich die Erde erholt, und es gab wieder Leben. Seither mahnt uns dieses Gebirge mit jedem Tag, uns auf das zu besinnen, was wir sind, und nicht nach den Sternen zu greifen.«

»Das ist... keine schöne Geschichte«, murmelte Kim, nachdem Priwinn geendet hatte.

Priwinn lächelte. »Nein, Kim. Sie ist nicht schön, aber es ist nur eine Geschichte, vergiß das nicht. Ich glaube nicht, daß sie auf Wahrheit beruht.«

Kim antwortete nicht. Sein Blick streifte wieder über die zackigen Umrisse der Berge ringsum, und plötzlich sah er die Dinge mit anderen Augen. Der matte Glanz der Felswände erinnerte ihn an blindes, von Jahrtausenden abgeschliffenes Glas. Die seltsam regelmäßigen Streifen und Linien auf der Felsplatte zu seinen Füßen mochten die Spuren von Lavaströmen sein, die vor undenklichen Zeiten hier entlanggeflossen waren. Und mit einem Mal ahnte - nein, wußte er, daß Priwinns Geschichte kein Märchen, sondern Wahrheit war.

Er trat von der Felskante zurück, hockte sich auf den nackten Boden und schlug frierend die Arme um den Oberkörper. Sein Schild schützte ihn ein wenig gegen den böigen kalten Wind, aber die Kälte kroch unbarmherzig unter seine Kleidung und nistete sich in seinen Gliedern ein. Trotzdem zögerte er noch, in den Schutz des Drachen zurückzukehren.

»Dieses Gebirge führt uns direkt zur Klamm der Seelen?« fragte er Priwinn, der sich neben ihn gesetzt hatte.

»Ja. Aber wir werden ihm nicht folgen. Rangarig ist nur hierhergeflogen, weil wir hier sicher sind. Sogar die schwarzen Reiter meiden diese Gegend, und ich glaube, auch der Drache ist nur ungern hergekommen. Es heißt, daß der Geist der Vergangenheit hier umgeht.« Priwinn versuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nicht. Kim spürte die unsichtbare Bedrohung, die wie ein schleichendes Ungeheuer hinter den Felsen lauerte, genauso wie damals, als sie Kelhims Höhle durchquert hatten.

»Glaubst du, daß wir noch mehr schwarzen Reitern begegnen werden?«

Priwinn zuckte die Achseln. »Ich hoffe nicht, aber sie sind überall, im ganzen Land. Boraas ist mißtrauisch.«

»Du glaubst, er ahnt, was wir vorhaben?«

»Noch nicht. Aber wenn er es erfährt, wird er seine Pläne ändern und Gorywynn unverzüglich angreifen. Das ist es, was mir Sorgen bereitet.« Er zog die Knie an den Körper und versank in brütendes Schweigen.

»Komm«, sagte er schließlich. »Schlafen wir ein wenig. Wir werden unsere Kräfte noch brauchen.«

Sie standen auf und gingen zu Rangarig zurück. Kelhim und der Riese schliefen eng zusammengerollt neben den goldenen Flanken des Drachen. Kim legte sich nieder und versuchte sich auf dem steinigen Boden in eine einigermaßen bequeme Lage zu betten. Müdigkeit breitete sich über ihn. Kurz bevor er einschlief, öffnete er noch einmal die Augen und blickte nach Westen, wo, noch in dunstiger Ferne verborgen, die Klamm der Seelen auf sie wartete.

Und plötzlich, zum ersten Mal seit Tagen, hatte er wieder Angst.

Rangarig weckte sie bei Einbruch der Dämmerung. Sie brachen sofort auf. Als der Drache sich an die Plateaukante schob und mit weit ausgebreiteten Schwingen in die Tiefe fallen ließ, um die warmen Aufwinde entlang der Felskante auszunutzen, lag das steinerne Rund unberührt da, so, wie es wahrscheinlich schon seit Millionen Jahren dagelegen hatte. Nichts zeugte von ihrem kurzen Eindringen in dieses Reich des Schweigens und des Windes, und als Kim zurückblickte und den Tafelberg langsam in der Dämmerung hinter sich verschwinden sah, mußte er sich eingestehen, daß es gut war. Menschliches Leben - jedes Leben, gleich welcher Art - hatte hier nichts verloren. Dieses Gebirge war eine steinerne Mahnung, ein Monument, die Fehler der Vergangenheit nie mehr zu wiederholen.

Kim lehnte sich gegen Gorgs breiten Rücken und versuchte wieder einzuschlafen, aber Hunger und Kälte hielten ihn wach. Je weiter sie nach Westen kamen, desto kälter schien es zu werden. Kim fragte sich, ob es in dieser Welt statt eines Nord- und Südpols, wie in seiner Heimat, einen West- und Ostpol gab und ob die Klamm der Seelen sie vielleicht geradewegs in ein kälteklirrendes Reich ewigen Eises führte. Er erinnerte sich, daß Themistokles etwas von einer Eisigen Einöde erwähnt hatte. Wenn das stimmte, hatten sie wohl einen verhängnisvollen Fehler begangen. Keiner von ihnen - mit Ausnahme des Bären, den sein dichtes Fell gegen die Kälte schützte - hatte sich warm genug angezogen, um einen Marsch durch eine Landschaft aus Eis und Schnee durchzustehen.

Aber für solche Überlegungen war es jetzt zu spät. Sie hatten schon beinah die Hälfte des Weges zurückgelegt, und Kim würde unter gar keinen Umständen mehr umkehren.

Die Nacht verstrich, Rangarigs Bewegungen hatten viel von ihrer kraftvollen Ruhe eingebüßt, dennoch flog der Drache weiter, ohne sich zu beklagen. Sie hatten das Gebirge hinter sich gelassen und überquerten nun eine weite Savanne. Vereinzelte Häuser tauchten unter ihnen auf, und einmal glitt der Lichterglanz einer größeren Stadt weit im Süden an ihnen vorbei. Rangarig flog unbeirrt weiter nach Westen, und erst als es hell wurde, verlor er wieder an Höhe und hielt nach einem Landeplatz Ausschau. In weiten Spiralen kreiste er tiefer, wandte den mächtigen Schädel nach rechts und links und suchte nach einer Stelle, die ihnen sowohl als Versteck als auch als Rastlager dienen konnte.

Plötzlich zuckten Rangarigs Flügel, und sein Körper bäumte sich auf, daß sich seine Passagiere krampfhaft festhalten mußten, um nicht abgeworfen zu werden.

»Was ist los?« brüllte Gorg.

»Schwarze!« fauchte Rangarig. »Im Süden!«

Kim lehnte sich zur Seite und versuchte, an Gorg vorbei einen Blick auf die Landschaft unter ihnen zu werfen. Er sah nichts als einen dunklen, formlosen Fleck am Horizont. Aber Rangarig schien bessere Augen als er zu haben. Der Drache flog mit äußerster Kraft und so schnell wie noch nie weiter nach Süden. Nach wenigen Augenblicken konnten Kim und die anderen ein niedriges, strohgedecktes Haus erkennen, das allein und ungeschützt auf der weiten Ebene der Savanne stand. Eine Horde schwarzer Reiter umkreiste das Haus auf ihren großen schwarzen Pferden. Ihr Kriegsgeschrei war bis hierherauf zu hören. Während sich der Drache höher in die Luft schwang und mit weit ausgebreiteten Flügeln zum Angriff ansetzte, ging ein Hagel brennender schwarzer Pfeile auf das Haus nieder.

Rangarig trompetete einen Kampfschrei, legte die Flügel an den Körper und stieß wie ein riesenhafter goldener Speer auf die Angreifer nieder. Die schwarzen Reiter erstarrten mitten in der Bewegung. Für einen Moment bildete Kim sich ein, durch die ausdruckslosen schwarzen Metallmasken hindurch das Erschrecken auf ihren Gesichtern zu sehen. Rangarigs Schwingen zogen in täuschend langsamer Bewegung durch die Luft, und die geordnete Angriffsformation der Reiter verwandelte sich in ein Chaos durchgehender Pferde, Geschrei und berstenden Metalls. Fünf Reiter flogen im hohen Bogen aus den Sätteln, als Rangarigs Schwingen sie streiften.

Der Drache bäumte sich auf, stieß einen zweiten, noch wütenderen Schrei aus und war mit einem Satz unter den Reitern. Seine mächtigen Füße krachten gnadenlos auf Rüstungen und Schilde. Sein Schwanz peitschte ein halbes Dutzend Reiter zu Boden und pflügte einen breiten Graben in die Erde.

Der Kampf dauerte nur wenige Augenblicke. Gorg, Kelhim, Kim und Priwinn sprangen wie ein Mann von Rangarigs Rücken. Gorg, Kelhim und Priwinn griffen die überraschten Reiter von der Seite her an, während Kim sein Schwert aus der Scheide riß und zum Haus hinüberlief, um dort nach dem Rechten zu sehen.

Die Tür war eingeschlagen. Schwarzer Qualm zog aus einem zerbrochenen Fenster, und aus dem Inneren des Gebäudes drang Kampflärm und das ängstliche Weinen eines Kindes. Kim hob die Tür mit einem wütenden Tritt vollends aus den Angeln und stürmte ins Haus. Er riß im letzten Augenblick seinen Schild hoch, als er die Bewegung aus den Augenwinkeln wahrnahm. Ein wuchtiger Schwertstreich traf das fingerdicke Holz und ließ ihn zurücktaumeln. Kim prallte gegen einen Schrank, verlor das Gleichgewicht und stürzte. Eine riesige Gestalt wuchs über ihm empor, schwang ihre Waffe und erstarrte für einen Moment, als der Schwarze Kims schwarze Rüstung bemerkte.

Dieses winzige Zögern kostete den schwarzen Reiter das Leben. Kim sprang auf die Füße, fing den Hieb mit dem Schild auf und schlug gleichzeitig mit aller Kraft zurück. Die schwarze Klinge bohrte sich knirschend durch die Rüstung seines Gegners.

Kim blieb einen Herzschlag lang um Atem ringend stehen, ehe er über den am Boden Liegenden hinwegschritt und tiefer in das Haus eindrang.

Er folgte dem Lärm und stieß die Tür zum Wohnraum auf. Der Anblick, der sich ihm bot, ließ ihn zurückprallen. Kim stolperte fast über die reglos ausgestreckte Gestalt eines Mannes. Ein dunkler Blutfleck färbte den Stoff seines Hemdes, und seine Finger waren um den Griff eines zweischneidigen Dolches verkrampft, mit dem er seinen Mörder mit in den Tod gerissen hatte. Ein zweiter Bauer verteidigte sich, nur mit einer langen Holzstange bewaffnet, verzweifelt gegen einen riesenhaften schwarzen Reiter, der ihn Schritt für Schritt durch den Raum trieb. Der Mann duckte sich unter einem Schwertstreich weg, tänzelte zur Seite und versetzte dem Schwarzen einen kräftigen Hieb gegen den Helm. Die Rüstung dröhnte. Der Schwarze torkelte zurück, fing einen zweiten Hieb mit der flachen Klinge auf und schlug dem Mann mit der gepanzerten Faust vor die Brust. Der Mann stöhnte vor Schmerz. Für einen Moment vergaß er seine Deckung, und der Ritter setzte zu einem tödlichen Streich an.

Kim überwand endlich seine Erstarrung. Mit einem Satz warf er sich zwischen die beiden Kämpfenden, fing den Schwertstreich des schwarzen Reiters mit dem Schild auf und schlug zurück. Es war kein guter Schlag; schlecht gezielt und mit zuwenig Kraft geführt. Aber wieder war es die schwarze Rüstung, die seinen Gegner einen Moment lang zaudern ließ und sein Schicksal besiegelte. Kims Klinge schrammte am Brustpanzer des anderen entlang, glitt ab und bohrte sich in den Holzboden. Eine Sekunde lang standen sich die beiden reglos gegenüber, und Kim konnte den erstaunten, ungläubigen Ausdruck in den Augen des anderen erkennen. Dann traf ihn etwas im Rücken und ließ ihn zur Seite taumeln. Eine bärtige Gestalt sprang an ihm vorbei, schwang ihren Knüppel und ließ das zersplitterte Ende mit ungeheurer Kraft auf den Helm des Gepanzerten niederkrachen. Der Schwarze schrie auf und stürzte vornüber.

Kim drehte sich schwer atmend um. Der Bauer stand auf Armeslänge hinter ihm. Er keuchte, und über sein Gesicht lief Blut. Der Knüppel in seinen Händen blieb drohend erhoben, und in seinen Augen flackerte es mißtrauisch.

Kim ließ Schild und Schwert sinken und griff mit langsamer Bewegung, um den Mann nicht zum Angriff zu verleiten, an seinen Helm. Er setzte ihn ab und versuchte aufmunternd zu lächeln.

»Es ist alles in Ordnung«, sagte er.

Der Bauer entspannte sich, aber das mißtrauische Glitzern in seinen Augen blieb. »Ihr... Ihr seid kein schwarzer Reiter?« fragte er.

»Bestimmt nicht. Ich sehe nur so aus. Manchmal«, fügte Kim mit einem Seitenblick auf den reglos daliegenden schwarzen Reiter hinzu, »ist es sogar von Vorteil.«

Der Bauer nickte verwirrt. »Ich... ich weiß nicht, wer du bist«, sagte er, »aber ich danke dir. Ohne deine Hilfe wäre ich jetzt tot. Meinen Bruder haben sie schon erschlagen.« Er warf einen Blick über die Schulter zum Fenster und wandte sich dann wieder an Kim. »Aber die Gefahr ist noch nicht überstanden. Draußen sind noch mehr.«

Kim schüttelte den Kopf. »Mach dir keine Sorgen. Meine Freunde kümmern sich um sie. Sind noch mehr Leute im Haus?«

»Meine Frau, mein Sohn und... die Frau meines Bruders. Und zwei Knechte. Aber ich habe sie nach oben geschickt, um die Frauen zu beschützen...«

Erst jetzt fiel Kim auf, daß vom oberen Stockwerk noch immer Babygeschrei zu hören war. Dazwischen glaubte er das Schluchzen einer Frau zu hören.

»Hol sie herunter«, sagte er. »Die Gefahr ist vorüber. Jedenfalls im Moment.«

Der Mann wandte sich zur Tür und verschwand über die Treppe nach oben, während Kim, sich wachsam nach allen Seiten umblickend, nach draußen ging.

Der Kampf war vorüber. Eine Anzahl herrenloser Pferde lief kopfscheu umher, und Rangarig schnüffelte mißtrauisch zwischen den gefallenen schwarzen Reitern herum, ob sich nicht etwa einer nur tot stellte, um später zu entwischen und Verstärkung zu holen.

Kim berichtete seinen Gefährten, was sich im Haus zugetragen hatte. Wieder einmal standen sie vor einem Schreckensbeispiel sinnlosen Blutvergießens.

»Aber so weit im Westen«, murmelte Priwinn.

Gorg knirschte mit den Zähnen. »Die Schwarzen beherrschen das Land bereits«, sagte er grimmig. »Es gehört zu Boraas' Taktik, erst das Hinterland zu zerstören. Wenn der Angriff auf Gorywynn beginnt, wird nichts mehr dasein, wohin seine Bewohner fliehen könnten. Boraas hat aus dem, was in Caivallon geschehen ist, gelernt, Prinz Priwinn. Aber nun laßt uns ins Haus gehen und nach den Bauersleuten sehen. Vielleicht können wir helfen.«

Hintereinander folgten sie Kim ins Haus. Zuerst Priwinn, dann Kelhim, der sich auf alle viere niedergelassen hatte und mit seinen breiten Schultern kaum durch die Tür paßte, und zuletzt Gorg, der trotz seiner gebückten Haltung ständig mit dem Kopf gegen die Decke stieß und halblaut vor sich hin fluchte.

Die Familie hatte sich im Wohnraum versammelt. Kim sah das Erschrecken auf ihren Gesichtern, als sie den Bären und den Riesen erblickten. »Keine Sorge«, sagte Kim rasch. »Das sind meine Freunde. Sie tun euch nichts.«

»Das... äh...« stotterte der Bauer, »das glaube ich euch gerne. Es ist nur...«

»Ein bißchen ungewöhnlich, nicht wahr«, brummte Kelhim. »Aber wenn Ihr uns für komisch haltet, dann solltet Ihr erst mal aus dem Fenster sehen, guter Mann.«

Der Bauer starrte den Bären verständnislos an. Schließlich drehte er sich um und trat zögernd ans Fenster. »Ein Drache!« stieß er hervor. »Ein goldener Drache!« Er fuhr herum und starrte die vier Freunde ehrfürchtig an. »Aber es... es gibt doch nur einen goldenen Drachen«, murmelte er.

Gorg nickte und stieß sich dabei den Schädel an der Decke, daß das morsche Holz krachte. »Ganz recht«, antwortete er. »Das ist er. Rangarig.«

Der Bauer erbleichte. »Aber dann... dann müßt Ihr Gorg sein!«

Gorg verzog beleidigt die Lippen. »Kennt Ihr noch einen anderen Riesen?«

»Riese?« brummte Kelhim. »Wo ist hier ein Riese?«

Gorg warf ihm einen wütenden Blick zu, stieß sich abermals den Kopf und kam endlich auf die Idee, sich zu setzen.

Kim grinste, als er die Verwirrung des Bauern sah. Aber er hatte Mitleid mit den verängstigten Frauen. »Macht euch nichts draus, gute Leute. Die beiden streiten sich immer. Aber ihr solltet sie einmal sehen, wenn sie kämpfen.«

»Die schwarzen Reiter...« murmelte der Bauer. »Ihr seid wirklich im letzten Moment gekommen. Eine Minute später, und eure Hilfe hätte niemandem mehr genützt.«

»Auch noch meckern«, schimpfte Gorg. »Da haut man ihn raus, und er beschwert sich, daß man nicht eher gekommen ist.«

Der Bauer war nun völlig verwirrt. Sein Blick irrte unsicher zwischen Gorg und Kelhim hin und her.

Schließlich mischte sich Priwinn ein. »Du solltest dich schämen, Gorg«, sagte er. »Die armen Leute so zu verunsichern.«

Gorg senkte in gespielter Zerknirschung den Kopf, und auch auf den Gesichtern des Bauern und seiner Familie erschien ein erstes, zaghaftes Lächeln. Schließlich löste sich die Spannung in einem befreiten Lachen.

Gemeinsam begannen sie, die Leichname der schwarzen Reiter hinauszutragen und die Spuren des Kampfes zu beseitigen, so gut es ging. Priwinn, Gorg und Kim packten kräftig mit an, und schon nach knapp einer Stunde erinnerten nur noch eine zerbrochene Fensterscheibe und eine rußgeschwärzte Stelle auf dem Fußboden an den Kampf, der hier vor kurzem stattgefunden hatte.

Kim fiel auf, wie verhältnismäßig gelassen die Bauernfamilie den Tod eines der Ihren hinnahm. Er wartete, bis er mit Priwinn allein war, und brachte dann die Rede darauf.

Priwinn nickte, als hätte er die Frage erwartet.

»Ich weiß nicht viel über deine Welt und die Menschen, die dort leben, Kim«, sagte er nachdenklich. »Aber mir scheint, daß ihr ein sehr seltsames Volk seid.«

»Weil wir um unsere Toten trauern?«

Priwinn lächelte nachsichtig. »Nein, Kim, das tun wir auch. Nur anders. Jeder von uns weiß doch, daß das Leben nicht ewig währt. Für manche, wie Themistokles oder Rangarig, dauert es lange, andere sterben schon früh, vielleicht als Kind oder schon als Säugling. Es steht nicht in unserer Macht, etwas daran zu ändern. Und wir wollen es auch gar nicht. Der Körper, Kim, diese verwundbare Hülle, um die ihr euch so große Sorgen macht, ist nichts als ein Instrument, eine Art Werkzeug, dessen sich der Geist bedient, um damit seinen Willen auszuführen. Wir lieben unsere Geschwister und unsere Eltern so wie ihr die euren, aber wir lieben in erster Linie das, was sie sind. Ihre Körper mögen vergehen, doch das heißt nicht, daß sie tot sind. Tot, Kim, wirklich tot ist ein Mensch erst in dem Moment, wo man ihn vergißt.«

»Das verstehe ich nicht«, murmelte Kim.

»Aber es ist so einfach«, erklärte Priwinn geduldig. »Vielleicht ist dies der grundlegende Unterschied zwischen euch und uns. Wir haben erkannt, daß kein Mensch aus sich allein heraus lebt.«

»Ich lebe ganz gut aus mir heraus«, sagte Kim.

»Das glaubst du«, widersprach Priwinn. »Aber es stimmt nicht. Du lebst, aber das ist auch alles. Auch ein Stein lebt, wenn du Leben mit Existieren gleichsetzt. Aber leben, wirklich leben kannst du nur durch die anderen. Du lebst, weil das, was du sagst und tust, das Leben, Fühlen und Denken anderer beeinflußt, und umgekehrt. Und du stirbst auch erst, wenn sich niemand mehr deiner Worte und Taten und somit deiner selbst erinnert. Erst wenn du aus den Gedanken aller Menschen verschwunden bist, bist du wirklich tot. Der brave Mann, den die schwarzen Reiter erschlugen, lebt in der Erinnerung seiner Familie weiter. Und auch in deiner, wenn auch nur für kurze Zeit.«

Kim dachte lange über Priwinns Worte nach. Und schließlich begann er ihren Sinn zu begreifen. Er war drüben im Schattenreich gewesen, und er hatte dieses tote, abgestorbene Land ohne Menschen gesehen. Das Reich der Schatten war wirklich tot. Es hatte die Erinnerung an seine Vergangenheit verloren. - Doch nein, das stimmte ja gar nicht! Der Tümpelkönig und sein Sohn Ado fielen ihm ein. Waren sie nicht der beste Beweis für das, was ihm Priwinn zu erklären versuchte?

Kim trat ans Fenster und blickte hinaus. Das Land lag in trügerisch friedlicher Stille vor ihm. Die Sonne stand hoch am Himmel, es ging auf Mittag zu. Rangarig hatte sich im Windschutz des Hauses zusammengerollt und schnarchte so laut, daß die Fensterscheiben klirrten. Und doch war dieser Friede nur eine brüchige Fassade, hinter der jederzeit aufs neue Tod und Verderben hervorbrechen konnten.

Er drehte sich um und sah der Bauersfrau zu, die hereingekommen war, um das Mittagessen aufzutragen. Sein Magen, seit zwei Tagen mit nicht viel mehr als eisiger Luft und dem Gedanken an Essen gefüllt, meldete sich knurrend, und der Anblick des riesigen Fleischstückes in der Pfanne ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Trotzdem galt es zuvor noch, eine wichtige Sache zu klären.

»Ihr werdet von hier fortmüssen«, sagte Kim. »Noch mehr schwarze Reiter werden nachkommen, und sie werden euch für den Tod ihrer Kameraden verantwortlich machen.«

»Das mag sein, junger Herr. Aber ich wüßte nicht, wohin wir gehen könnten. Auch die Nachbarhöfe sind nicht mehr sicher.«

»Ihr könntet versuchen, euch nach Gorywynn durchzuschlagen«, schlug Kim vor.

»Zehn Tagreisen?« sagte Priwinn an Stelle der Bauersfrau. »Du vergißt, daß nicht jeder auf dem Rücken eines Drachen reiten kann, Kim.« Er schüttelte den Kopf. »Nein. Der einzig sichere Ort wären die Berge. Ihr könntet sie in einem Tag erreichen. Hier seid ihr jedenfalls nicht mehr sicher. Zwar ist keiner der Reiter entkommen, aber auch die Stille hat Augen und Ohren. Ihr müßt weg.«

Lautes Gepolter ließ sie herumfahren. Es war Gorg, der gebückt durch die Diele kam, um sich dann ächzend am Tisch niederzulassen.

»Rangarig, Kelhim und ich haben beraten«, sagte der Riese, nachdem er die Kleinigkeit von zehn Äpfeln und einem ganzen Laib Brot, den die Bäuerin leichtsinnigerweise auf den Tisch gelegt hatte, verspeist hatte und sich genießerisch mit der Hand über den Mund gefahren war. »Die Schwarzen werden wiederkommen, und wenn Brobing und seine Familie dann noch hier sind, sieht es schlecht für sie aus.«

»Könnte Rangarig sie nicht nach Gorywynn zurückbringen?«

Gorg wiegte den Schädel. »Der Gedanke ist nicht schlecht. Aber es sind vier Tage - zwei hin und zwei zurück. Diesen Zeitverlust können wir uns nicht leisten.«

»Und was schlägst du vor?«

Gorg rutschte am Boden hin und her und versuchte vergeblich, seine Beine in eine bequeme Lage zu bringen. »Wir nehmen sie mit«, sagte er schließlich.

Kim erschrak. »Zur Klamm der Seelen?« fragte er ungläubig. »Die Frauen und das Kind auch?«

Gorg winkte beschwichtigend mit der Hand. »Natürlich nicht mit hinein«, sagte er. »Aber die Umgebung dort ist sicher. Auch die schwarzen Reiter werden sich kaum in ihre Nähe wagen. Und wenn doch, so bieten die angrenzenden Berge genügend Verstecke. Außerdem«, fügte er nachdenklich hinzu, »wäre es nicht unbedingt von Nachteil, einen Freund in der Nähe zu wissen.«

Kim konnte sich mit dem Gedanken nicht anfreunden. Er hatte die Klamm der Seelen zwar noch nicht persönlich kennengelernt. Aber was ihm Themistokles und die anderen erzählt hatten, legte die Vermutung nahe, daß es sich um eine mehr als unwirtliche Gegend handelte. Und ganz gewiß nicht den richtigen Ort für zwei Frauen und einen hilflosen Säugling.

»Die Idee gefällt mir nicht«, sagte er.

»Mir auch nicht«, gestand Gorg. »Aber ich habe keine bessere. Wir können nicht vier Tage opfern.«

»Es sind genug herrenlose Pferde draußen«, wandte Kim ein. »Wir könnten ein paar davon einfangen und auf ihnen zur Klamm weiterreiten!«

»Du würdest sechs Tage brauchen, wenn nicht länger. Ganz davon abgesehen, daß du eine Kleinigkeit zu vergessen scheinst.«

»Und zwar?«

»Den Tatzelwurm. Ohne Rangarig kommen wir nicht an ihm vorbei.«

Kim schwieg betroffen.

Sie hatten wirklich keine andere Wahl. Schickten sie Rangarig zurück nach Gorywynn, verspielten sie vielleicht die letzte Chance, die dieses Land noch hatte. Und ließen sie Brobing und seine Familie hier, verurteilten sie sie zum sicheren Tod. Die Situation war ebenso grausam wie ausweglos.

Er überlegte eine Weile, ging dann zum Tisch und ließ sich schwer auf die Bank fallen.

»Gut«, sagte er. »Wann brechen wir auf?«

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