V

Der Aufprall betäubte ihn. Er hatte noch versucht, sich abzurollen, um den Sturz etwas zu mildern, aber seine Reaktion kam zu spät. Er schlug mit fürchterlicher Gewalt auf dem Boden auf, prallte gegen die Burgmauer und verlor das Bewußtsein.

Die Sonne stand hoch im Zenit, als er erwachte. Sein rechter Arm schmerzte unerträglich und schien gebrochen. Sein Kopf dröhnte. Er hatte sich auf die Zunge gebissen. Sein Mund war voll Blut, und seine Stirn fühlte sich heiß an.

Kim öffnete die Augen, blinzelte in die grelle Sonne und wandte stöhnend das Gesicht ab. Er lag lang ausgestreckt am Fuße der Mauer. Der schwarze Stein strebte über ihm senkrecht empor, und das Fenster, aus dem er hinabgesprungen war, erschien ihm unendlich weit entfernt.

Sekundenlang lag er einfach still da und wunderte sich, daß er noch lebte. Dann wälzte er sich herum, betastete den schmerzenden Arm und fuhr mit den Fingerspitzen über den Rand der tiefen Rißwunde, die sich vom Ellbogengelenk bis zur Handwurzel hinabzog. Es tat weh, aber der Knochen schien nicht gebrochen zu sein. Kim biß die Zähne zusammen, ballte versuchsweise die Faust und setzte sich dann vorsichtig an der Mauer auf. Obwohl die Sonne vom Himmel brannte und die Wand schon den ganzen Tag über beschienen hatte, fühlte sich der Stein in Kims Rücken kalt an.

Ein leises Geräusch erweckte seine Aufmerksamkeit. Kim schloß die Augen, konzentrierte sich und lauschte. Stimmen. Irgendwo über ihm waren Stimmen. Aufgeregte Stimmen, die wild durcheinanderriefen. Ein Kommando wurde gebrüllt, dann hörte er etwas, was ihn an das Trappeln vieler schwerer Stiefel erinnerte.

Sie suchen mich, dachte er grimmig. Die Burg befand sich in hellem Aufruhr. Trotz allem konnte Kim sich ein schadenfrohes Grinsen nicht verkneifen. Boraas würde toben. Wahrscheinlich scheuchte er seine schwarzen Sklaven jetzt wie eine Herde Hühner vor sich her durch die Gänge und Stollen der Burg.

Kim preßte den verletzten Arm eng an den Körper und rappelte sich hoch. Er mußte so schnell wie möglich von hier verschwinden. Früher oder später würde Boraas einsehen, daß Kim das Unmögliche geschafft hatte und aus den Mauern von Morgon entwischt war. Und dann würde er seine Krieger herausschicken, und diese würden jeden Stein in der Umgebung umdrehen, um ihn zu finden.

Kim bückte sich nach seinem Schwert und ließ die Waffe enttäuscht fallen. Die Klinge war zerbrochen. Aber mit seinem verletzten Arm hätte sie ihm momentan sowieso nichts genutzt. Aufmerksam schaute er nach einem Fluchtweg aus, um ins Tal hinunterzugelangen. Der Fels fiel auf dieser Seite steil ab und war von Rissen, Spalten und scharfzackigen Graten durchzogen, aber keiner davon schien als Versteck geeignet zu sein. Außerdem war es viel zu riskant, mit einem unbrauchbaren Arm und einer Meute Verfolger im Nacken den steilen Hang hinunterzuklettern. Nein - es gab nur einen Weg ins Tal: den gleichen, den er gekommen war. Der Gedanke gefiel ihm nicht. Der gewundene Bergpfad bot so gut wie keine Deckung. Und Boraas würde gewiß nicht versäumen, ihm beizeiten diesen Fluchtweg abzuschneiden.

Die Zeit drängte. Kim ging zur Burgmauer zurück, warf einen letzten Blick zu dem schmalen Fenster hinauf und tastete sich dann mit der linken Hand an dem kalten Stein entlang.

Er hatte die falsche Richtung gewählt und mußte Morgon fast umrunden, ehe endlich das halbrunde Tor vor ihm auftauchte. Das rostige Fallgitter war heruntergelassen. Von Wachen oder eventuellen Verfolgern war nirgends eine Spur zu entdecken - was freilich nicht viel besagte. Hinter den schmalen Schießscharten zu beiden Seiten des Tores mochten unzählige Augenpaare die Umgebung beobachten. Der Weg führte fast einen halben Kilometer gerade den Berg hinunter, ehe er hinter der ersten Biegung verschwand. Kim zögerte einen Moment. Sein Blick tastete mißtrauisch an den Zinnen der Mauerkrone entlang. Kim wußte, daß dort oben Wachen auf und ab gingen. Er war einer von ihnen in die Hände gelaufen, und die Begegnung hätte um ein Haar das Ende seiner Flucht bedeutet. Im Augenblick war die Mauer leer, aber der Posten konnte jederzeit von seinem Rundgang zurückkommen, und wenn Kim dann gerade auf dem Weg dort unten war, war er verloren. Aber vielleicht, so überlegte er, hatte Boraas auch alle Posten abgezogen, um sie bei der Durchsuchung der Burg einzusetzen.

Langes Überlegen führte zu nichts. Mit jeder Sekunde, die ungenützt verstrich, wuchs die Wahrscheinlichkeit, daß Boraas endlich die richtigen Schlüsse zog und danach handelte. Entschlossen löste sich Kim von der Mauer und begann den Abstieg.

Die ersten fünfhundert Meter des Weges wurden zum längsten seines Lebens. Immer wieder sah er sich um und blickte mit klopfendem Herzen zum Tor zurück, jederzeit darauf gefaßt, eine Abteilung schwarzer Reiter daraus hervorbrechen zu sehen.

Doch diesmal schien das Schicksal auf seiner Seite zu stehen. Kim erreichte die Wegbiegung, drückte sich hinter einen der zyklopischen Felsen, die den steinigen Pfad flankierten, und verharrte regungslos, um mit angehaltenem Atem zu lauschen. Oben in der Burg blieb alles still. Die einzigen Geräusche waren sein eigener, hämmernder Pulsschlag und das ewige Heulen des Windes, der sich an Felsen und Spalten brach.

Kim trat aus seiner Deckung hervor, blickte scharf den Weg zurück und ging weiter.

Der Abend dämmerte, als er den Fuß des Berges erreichte. Aus den Sümpfen kroch schwarzgrauer Nebel herauf, und der Wind war jetzt nicht mehr kühl, sondern schneidend kalt. Kim hatte kaum noch die Kraft, einen Fuß vor den anderen zu setzen.

Der Weg endete abrupt. Der Fels brach entlang einer scharfen Kante ab, und vor Kim lag flaches, von brodelnden Nebeln und feuchter Kälte erfülltes Sumpfgebiet. Wenige verkrüppelte Bäume wuchsen in unregelmäßigen Gruppen, dazwischen wucherte stacheliges Gebüsch und blasses, kränkliches Gras. Der Boden federte unter seinen Schritten, und jeder Tritt hinterließ eine gleichförmige flache Vertiefung, die sich rasch mit Wasser füllte. Eine bessere Spur konnten sich seine Verfolger nicht wünschen.

Kim überlegte einen Moment, zog dann seine Stiefel aus und ging barfuß weiter. Die Spur seiner bloßen Füße war viel weniger auffällig. Mit etwas Glück würden die Verfolger sie in der hereinbrechenden Dunkelheit übersehen.

Das Gelände wurde immer unwegsamer. Die Bäume rückten enger zusammen, und das dornige Gestrüpp war stellenweise so dicht, daß Kim sich nur mit Gewalt hindurchzwängen konnte. Das Krachen und Splittern der brechenden Zweige mußte kilometerweit zu hören sein. Kims Haut war binnen kurzem blutig und zerschunden. Seine Uniform hing in Fetzen.

Schließlich wurde das Dornengestrüpp undurchdringlich. Kim blieb stehen und sah sich unschlüssig um. Zur Linken schimmerte die Oberfläche eines kleinen Sees, im Halbkreis eingerahmt von der schwarzen Mauer des Waldes. Ein schmaler Pfad schien sich an seinem Ufer entlangzuschlängeln. Auf der anderen Seite der stillen Wasserfläche glaubte Kim eine Öffnung zwischen den Bäumen zu erkennen. Er änderte seine Richtung, kämpfte sich fluchend durch Gestrüpp und zähe, ineinander verflochtene Luftwurzeln und stand endlich am Wasser. Schwacher Modergeruch stieg ihm in die Nase.

Sein Blick wanderte nach Westen. Im bleichen Mondlicht war das Schattengebirge deutlich zu erkennen - eine gigantische schwarze Mauer, die die Welt wie ein unübersteigbares Kliff umschloß und bis zu den Sternen emporreichte. Der Himmel war wolkenlos, trotzdem konnte Kim die Gipfel nicht ausnehmen. Die Berge waren einfach zu hoch.

Der Gedanke, diese Berge übersteigen zu wollen, kam ihm mit einem Mal lächerlich vor.

Und doch mußte es einen Weg geben. Rebekka hatte ihn gefunden, und auch er würde ihn finden.

Kim umrundete den See und tauchte wieder in den Wald ein. Kein Lichtstrahl drang von oben durch die verfilzten Baumkronen. Nur vom See her sickerte ein Schimmer des reflektierten Mondlichts durch die Stämme, das ihn seine Umgebung mehr erahnen als wirklich erkennen ließ. Die Hände wie ein Blinder vorgestreckt, tastete er sich weiter. Er stieß gegen einen Baum, riß sich die Wange auf und fühlte etwas Weiches, Warmes und Schleimiges unter den Fingern. Etwas Dunkles, Haariges und unbeschreiblich Häßliches huschte mit leisem Quieken davon. Kim schauderte. Er war plötzlich ganz froh, seine Umgebung nicht in allen Einzelheiten erkennen zu können.

Der Pfad schlängelte sich zwischen den Bäumen hindurch und endete schließlich, wie ein Bach, der sich in einen größeren Fluß ergießt, auf einem breiten, von Gras und Moos überwucherten Waldweg. Kim zögerte einen Moment. Auf dem Weg würde er wesentlich schneller vorwärts kommen, aber er war dort vollkommen ungeschützt.

Kurz entschlossen trat Kim auf den Weg heraus, wandte sich nach Westen und marschierte los. Sein verletzter Arm schmerzte, aber das Gehen auf dem glatten, von zwei Reihen schnurgerader Wagenspuren durchzogenen Moos bereitete ihm keine Schwierigkeiten mehr.

Er war etwa zehn Minuten gelaufen, als er ein Geräusch hörte. Er blieb stehen, drehte sich um und strengte die Augen an.

Der schwarze Schatten hob sich kaum gegen den nachtdunklen Hintergrund des Waldes ab, und hätte nicht ein verirrter Lichtstrahl auf dem Metall des Panzers geglitzert, hätte Kim die Gefahr wahrscheinlich zu spät erkannt. Er warf sich zur Seite, brach rücksichtslos durch das dornige Gestrüpp und wälzte sich hinter einen Baum.

Der schwarze Reiter donnerte an ihm vorüber. Die fliegenden Pferdehufe schienen den Boden dicht neben ihm aufzureißen, und für einen schrecklichen Moment hatte Kim das Gefühl, direkt in die schwarzen Augen hinter der Gesichtsmaske zu blicken. Aber der Reiter jagte weiter, ohne sein Pferd im mindesten zu zügeln.

Kim atmete erleichtert auf. Das war knapp gewesen! Eine Sekunde zu spät reagiert, und der Riese hätte ihn geradewegs über den Haufen geritten.

Aber die Gefahr war keineswegs gebannt. Der Boden unter ihm schien plötzlich zu vibrieren. Dumpfes Trommeln kündigte das Nahen einer ganzen Reiterei an.

Kim hob vorsichtig den Kopf.

Fünf, sieben - ein Dutzend oder mehr schwarze, stahlgepanzerte Reiter galoppierten auf dem Weg daher. Offensichtlich war jener erste Reiter ein Kundschafter gewesen, dem jetzt der Haupttrupp folgte. Kim stellte fest, daß sich diese Abteilung längst nicht so rasch bewegte wie der Vorreiter. Auch sie galoppierten in strengem Tempo, aber sie zügelten immer wieder ihre Pferde, starrten aufmerksam rechts und links des Weges in den Wald und stocherten mit den sichelförmigen Spitzen ihrer Speere ins Gebüsch.

Sie suchen mich! dachte Kim. Boraas hatte endlich die richtigen Schlüsse gezogen und wahrscheinlich seine ganze Armee losgeschickt, um die Wälder und Sümpfe rings um Morgon durchsuchen zu lassen.

Er richtete sich vorsichtig auf Hände und Knie auf und kroch rückwärts in den Wald hinein.

Eine Hand berührte seinen Fuß, zuckte erschrocken zurück und klammerte sich dann fest um sein Gelenk.

Kim erstarrte.

»Keinen Laut!« zischte eine Stimme hinter ihm. »Die schwarzen Teufel haben Ohren wie die Luchse. Wenn du nur einen Mucks machst, haben sie uns!«

Die Hand löste sich von seinem Fußgelenk, und jemand zog ihn unsanft auf die Füße. Kim hatte einen flüchtigen Eindruck von einer schmalen Gestalt, strähnigem Haar und dunklen, aufmerksamen Augen, in denen es halb spöttisch, halb angstvoll aufblitzte.

»Komm jetzt! Schnell!«

Sein Retter ergriff seine Hand und begann geduckt zwischen den Bäumen hindurchzurennen; Kim mußte sich seinem Tempo anpassen, ob er wollte oder nicht. Sie drangen immer tiefer in den Wald ein, und Kim begann sich zu fragen, wie sein Führer überhaupt noch etwas sehen konnte. Es war so finster, daß er die Gestalt vor sich nur als lichten Schatten wahrnahm, der ihn mit traumwandlerischer Sicherheit hinter sich herzog.

Schließlich schimmerte es vor ihnen hell durch die Bäume. Nach wenigen Schritten standen sie am Ufer eines kleinen, nierenförmigen Sees. Ein Schwarm Libellen tanzte im Mondlicht über der Wasseroberfläche und stob auseinander, als Kim und sein Führer aus dem Wald brachen.

Kim ließ dessen Hand los und rang keuchend nach Atem. Der kurze Lauf hatte ihn vollkommen erschöpft. Er wollte ein Wort des Dankes sagen, verschluckte sich und hustete schmerzhaft.

»Bist nicht gut in Form, wie?«

»Doch«, stieß Kim zwischen Keuchen und Husten hervor. »Es ist nur...« Er grinste. »Stimmt«, sagte er. »Ich bin nicht gut in Form. Aber das ist eine lange Geschichte.«

Jetzt endlich hatte er Gelegenheit, seinen geheimnisvollen Retter genauer zu betrachten. Der Bursche war kaum größer als er selbst. Langes Haar hing in nassen Strähnen bis über seine Schultern herab, und seine Haut schien im silbernen Licht des Mondes unnatürlich blaß und farblos. Ein zerschlissenes, sackähnliches Gewand umhüllte seine schmale Gestalt und ließ nur Arme und Füße frei. Der Ausdruck auf seinem Gesicht war ernst, doch nicht unfreundlich.

»Was starrst du mich so an?« fragte er. »Hast du noch nie einen anderen Jungen gesehen?«

»Doch«, antwortete Kim stockend. »Aber noch nie so einen wie dich, wenn ich ehrlich sein soll.«

»Danke gleichfalls. Du hast eine reizende Art, dich dafür zu bedanken, daß ich dir das Leben gerettet habe.«

»Aber nein... ich meine ja«, antwortete Kim. »Es ist nur... es war alles ein bißchen viel, und...«

»Erzähl es mir später«, unterbrach ihn der andere. »Wir müssen weiter.« Er deutete hastig auf den Wald hinter Kims Rücken. »Die schwarzen Teufel sind nicht dumm. Wenn sie herausfinden, daß ich dich gerettet habe...« Er fuhr sich mit einer bezeichnenden Geste über den Hals. Kim hatte für einen Moment den Eindruck, zwischen seinen Fingern dünne, durchscheinende Schwimmhäute zu erkennen.

»Trotzdem«, sagte Kim mit Nachdruck. »Ich danke dir. Ohne dich säße ich jetzt wahrscheinlich schon wieder in Boraas' Kerker. Mein Name ist übrigens Kim.«

»Ich heiße Adomat«, sagte sein Lebensretter. »Aber meine Freunde nennen mich kurz Ado. Hört sich auch nicht so geschwollen an. Und jetzt komm. Wir müssen wirklich weiter.« Er drehte sich um und verschwand mit schnellen Schritten im Dickicht, so daß Kim ihm nur mit Mühe folgen konnte.

Sie liefen eine Viertelstunde lang kreuz und quer durch den Wald. Kim verlor schon nach wenigen Schritten die Orientierung, aber immerhin merkte er, daß sie sich in westlicher Richtung bewegten. Sie durchwateten einen schlammigen Bach, gingen ein Stück am Ufer entlang und erreichten schließlich wieder einen See. Ado bedeutete Kim stumm, stehenzubleiben, machte sich eine Zeitlang an einem Busch zu schaffen und wies dann mit einer einladenden Geste auf einen runden, finsteren Schacht, der darunter zum Vorschein gekommen war.

»Wir sind da.«

Kim spähte in die Tiefe. Eine Reihe breiter, ausgetretener Lehmstufen führten ins Dunkel hinab.

»Dort hinunter?« fragte er zweifelnd.

Ado nickte. »Was Besseres kann ich dir leider nicht bieten. Aber wenn dir Burg Morgon lieber ist...« Er zuckte die Achseln, musterte Kim mit einem spöttischen Blick - und war weg.

Kim beeilte sich, ihm zu folgen. Die Treppe führte ein paar Meter gerade hinab, machte dann einen scharfen Knick nach rechts und endete in einer unterirdischen Höhle. Ado hantierte eine Weile im Dunkeln herum und entzündete schließlich eine Fackel.

Kim blinzelte in das plötzliche, grelle Licht.

»Setz dich«, sagte Ado. »Du mußt müde sein. Ich will sehen, ob ich etwas zu essen für dich finde.« Er deutete auf einen niedrigen Tisch, um den sich eine Anzahl schmaler Schemel gruppierte, und verschwand dann in einem angrenzenden Raum. Kim hörte ihn mit Töpfen und Geschirr klappern. Er setzte sich, stützte die Ellbogen auf der Tischplatte auf und sah sich neugierig um. Viel gab es nicht zu entdecken. Die Höhle war vielleicht zehn, zwölf Meter groß. Wände, Decke und Fußboden bestanden aus Lehm, der von dunklen Wurzelsträngen durchzogen war. Außer dem Tisch, an dem er saß, gab es noch eine schwere eisenbeschlagene Truhe und drei niedrige, nicht sehr bequem aussehende Betten.

Ados Rückkehr unterbrach seine Betrachtungen. Kim griff dankbar nach der Schale mit kalter Suppe und dem feuchten Brot und schlang beides gierig in sich hinein. Ado betrachtete ihn belustigt, schwieg jedoch höflich, bis Kim fertig war und den letzten Brotkrümel vom Tisch auflas.

»Du mußt ganz schön hungrig gewesen sein«, sagte er.

»Das kann man wohl sagen«, grinste Kim. Er lehnte sich zurück, soweit das auf dem unbequemen Hocker möglich war, und fragte: »Warum hast du mir geholfen?«

Ado zögerte einen Moment. Er trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte, und Kim sah nun, daß er sich nicht getäuscht hatte. Zwischen Ados Fingern spannten sich tatsächlich hauchfeine, durchscheinende Schwimmhäute.

Jetzt, wo er Ado genauer betrachtete, fielen ihm noch mehr Besonderheiten auf. Ados Haut war hell, fast weiß, und je nachdem, wie das Licht darauf fiel, schimmerten helle Schuppen auf ihr. Seine Augenlider waren durchsichtig wie die von Fischen, und sein Haar war kein Haar, sondern etwas, was man vielleicht als feinen Tang bezeichnen konnte. Er hatte keine Fingernägel, und an seinem Hals befanden sich zwei Reihen dünner, parallel verlaufender Narben, als wären dort früher einmal Kiemen gewesen.

Plötzlich wurde ihm bewußt, daß er Ado anstarrte. Er senkte betreten den Blick.

Ado grinste. »Ich komme dir wohl komisch vor, wie?« Er lachte leise und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Dann warte erst mal, bis du meinen Vater siehst.«

»Deinen Vater?«

Ado nickte. »Glaubst du, daß ich allein hier wohne?« fragte er.

»Wo sind deine Eltern?«

»Ausgegangen«, erwiderte Ado ausweichend. »Vater ist nachts nie hier. Er kommt erst gegen Morgen, wenn die Sonne aufgeht. Ich übrigens normalerweise auch. Wir schlafen tagsüber, weißt du. Wenn das nicht so wäre, hätte ich dich kaum retten können.«

Kim nickte. »Ich kann dir gar nicht genug dafür danken. Aber du hast mir noch immer nicht gesagt, warum du es getan hast.«

»Ich mag die Schwarzen nicht«, antwortete Ado gleichmütig.

»Aber es war gefährlich.«

»Wieso war? Die Schwarzen werden den Wald umgraben, wenn sie dich nicht finden. Aber mach dir keine Sorgen. Hier bist du in Sicherheit. Sie kommen nie hierher. Jedenfalls«, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu, »bis jetzt nicht.« Er zuckte die Achseln, gähnte ungeniert und beugte sich etwas vor. Kim bemerkte, daß er ein bißchen nach abgestandenem Wasser roch.

»Ihr lebt immer hier?« fragte er. »Du und... dein Vater?« Ado nickte. »Ja. Früher war Mutter noch bei uns. Aber das ist lange her.«

»Ist sie... gestorben?« fragte Kim.

Ados Gesicht nahm einen harten Zug an, und ein eigenartiger Ausdruck trat in seine Augen. »Nein«, sagte er, schon wieder gefaßt. »Sie ist nicht gestorben. Die Schwarzen haben sie geholt. Aber das ist lange her. Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern. Ich war noch zu klein. Vater hat es mir erzählt.«

»Wer ist dein Vater?«

Ado lächelte. »Mein Vater eben, wer sonst? Wenn du wissen willst, was er ist, frag ihn selbst.«

Kim fühlte sich unbehaglich. Er merkte, daß er ein Thema angeschnitten hatte, über das Ado nicht gerne redete.

»Ich hoffe, du bekommst keinen Ärger, wenn dein Vater erfährt, was du getan hast«, sagte er besorgt.

Ado schüttelte energisch den Kopf. »Bestimmt nicht. Vater mag die Schwarzen genausowenig wie ich. Aber jetzt möchte ich etwas von dir wissen. Wer bist du, und wo kommst du her? Jemanden wie dich habe ich hier noch nie gesehen.«

Kim beantwortete gehorsam alle Fragen, die Ado ihm stellte. Es waren ihrer nicht wenige. Ados Neugier schien unersättlich. Er ließ ihn kaum einen Satz zu Ende sprechen, ohne ihn wiederholt zu unterbrechen, stellte Zwischenfragen und erkundigte sich nach jeder Kleinigkeit. Dabei brannte Kim selbst darauf, seinen Gastgeber auszufragen. Er hatte noch nie ein Wesen wie Ado gesehen, und nach allem, was ihm Boraas und Themistokles über das Reich der Schatten erzählt hatten, überraschte ihn Ados Existenz doppelt. Aber er geduldete sich. Immerhin hatte Ado ihm das Leben gerettet und dabei sein eigenes in Gefahr gebracht.

Schließlich, nach Stunden, wie es ihm vorkam, hatte er seine Geschichte bis zu dem Punkt erzählt, wo Ado aufgetaucht war. Erschöpft hielt er inne, fuhr sich mit der Hand über die Augen und gähnte.

»Du bist müde«, sagte Ado schuldbewußt. »Ich hätte dich nicht so lange mit Fragen quälen dürfen. Die Flucht aus Morgon muß dich sehr mitgenommen haben.«

Kim nickte. Er konnte sich vor Müdigkeit kaum noch aufrecht halten. Es war jedoch eine angenehme Müdigkeit. Sehnsüchtig schielte er nach dem Bett hinüber.

»Wenn du willst, kannst du dich hinlegen und schlafen«, sagte Ado. »Ich werde aufpassen, bis...« Er blickte zum Eingang und lauschte. »Vater kommt«, sagte er dann.

Kim folgte verwundert seinem Blick. Er konnte beim besten Willen nichts hören. Doch Ado hatte sich nicht getäuscht. Ein Schatten erschien im Eingang, dann schob sich eine große, breitschultrige Gestalt in die Höhle. Ado sprang auf und eilte seinem Vater entgegen. Kim erhob sich ebenfalls und deutete eine zaghafte Verbeugung an.

Ado hatte nicht übertrieben. Sein Vater war wirklich sehr, sehr seltsam. Er war alt, sehr alt, und er ging gebeugt, als trüge er eine unsichtbare, schwere Last auf den Schultern. Doch man sah ihm an, daß er früher einmal eine imponierende Erscheinung gewesen sein mußte. Sein Gesicht war schmal und von scharfen Falten durchzogen, und auf dem Kopf trug er eine verbeulte, fleckige Krone, wie ein Versatzstück aus dem Kindertheater. Aber sie wirkte bei ihm nicht lächerlich, sondern irgendwie traurig, fand Kim.

Ados Vater warf seinem Sohn einen fragenden Blick zu und trat Kim einen Schritt entgegen.

»Besuch«, stellte er fest. Und dann, mit einem Stirnrunzeln: »Du bist der, den sie suchen.«

Kim begann sich unwohl zu fühlen. Nach dem Gespräch mit Ado hatte er eine andere Begrüßung erwartet.

»Ja«, sagte er unsicher. »Ich fürchte, ja. Ich bin... mein Name ist Kim. Kim Larssen.«

»Kim Larssen«, wiederholte Ados Vater nachdenklich. »Ich bin der...« Er zögerte kurz und setzte dann bitter hinzu: »Der Tümpelkönig. Und ich vermute, daß Ado dich hierhergebracht hat.«

Kim nickte. Tümpelkönig... Ein seltsamer Name. Und doch auch wieder passend, auf eine seltsame, schwer zu beschreibende Art.

Ado konnte seine Zunge nicht länger im Zaum halten und sprudelte heraus, was geschehen war. Sein Vater hörte ihm schweigend zu, nickte dann ein paarmal mit dem Kopf und ging mit schlurfenden Schritten zum Tisch. Kim bemerkte, daß seine Füße kleine, feuchte Spuren auf dem Lehmboden hinterließen.

»Deshalb also die Aufregung«, murmelte er. »Ich bin früher nach Hause gekommen, weil ich mir nicht erklären konnte, was passiert ist. Die Schwarzen durchsuchen den ganzen Wald.« Er blickte seinen Sohn durchdringend an. »Es war nicht sehr klug von dir, ihn hierherzubringen, Ado«, sagte er. »Wenn er die Wahrheit spricht und wirklich aus Morgon entkommen ist...«

»Es ist die Wahrheit!« begehrte Kim auf.

»Dann wird Boraas nicht eher ruhen«, fuhr der Tümpelkönig fort, »als bis er ihn wieder eingefangen hat. Noch niemandem ist es gelungen, Boraas derart an der Nase herumzuführen.« Er fuhr sich mit den Fingern durch seinen langen, nassen Bart und seufzte. »Du wirst nicht hierbleiben können, Junge«, sagte er.

»Aber Vater!« rief Ado erschrocken. »Du willst ihn doch nicht wegjagen!«

»Natürlich nicht. Aber die Schwarzen werden hierherkommen. Wenn nicht heute, dann morgen.«

»Wir könnten ihn verstecken«, versuchte es Ado noch einmal.

»Sicher. Fürs erste. Aber Boraas würde nicht aufgeben. Früher oder später würde er ihn entdecken.« Er schüttelte den Kopf. »Nein. Er kann hier nicht bleiben.«

Kim nickte müde. »Ich möchte Ihnen keine Schwierigkeiten bereiten«, sagte er niedergeschlagen.

»Es geht nicht um mich, Kim«, antwortete der Tümpelkönig. »Du bist es, der in Gefahr ist. Aber«, aus seiner Stimme sprach Mitgefühl, »aber ich sehe ein, daß du am Ende deiner Kräfte bist. Einen Tag magst du hierbleiben und dich ausruhen. Morgen abend werde ich dich zum Rand des Waldes begleiten.«

Kim seufzte dankbar. Nach allem, was er durchgemacht hatte, war eine Nacht Schlaf in einem richtigen Bett eine paradiesische Aussicht. Am liebsten hätte er sich sofort hineingelegt, aber der Tümpelkönig war noch nicht fertig.

»Zuerst will ich mir deinen Arm ansehen.«

Kim streifte gehorsam den Ärmel hoch. Er biß die Zähne zusammen, als der Tümpelkönig die Wunde untersuchte und schließlich behutsam mit den Fingern darüber strich. Es tat weh, aber nur für einen Augenblick. Dann geschah das gleiche, was Kim schon einmal bei Baron Kart erlebt hatte. Ein kühles, taubes Gefühl breitete sich in seinem Arm aus, und der Schmerz war wie weggeblasen. Ado holte eine Holzschale mit Verbandszeug herbei, und sein Vater versorgte Kims Arm mit einer ans Wunderbare grenzenden Geschicklichkeit, die einen Arzt hätte vor Neid erblassen lassen. Offensichtlich verfügten die Bewohner dieses Landes über ungewöhnliche Fähigkeiten, die in Kims Heimat nahezu unbekannt waren.

Kim fragte den Tümpelkönig danach. Doch dieser schüttelte betrübt den Kopf. »Für dich mag das alles neu und verwunderlich sein«, sagte er. »Aber es ist nichts dagegen, wie es war, bevor Boraas kam.«

Kim konnte mit dieser Antwort nicht viel anfangen, doch er war zu müde, um weitere Fragen zu stellen. Er kletterte ins Bett und war eingeschlafen, noch ehe er sich richtig ausgestreckt hatte.

Als Ado ihn weckte, fiel goldenes Sonnenlicht durch den Höhleneingang, und in der Luft lag der Geruch nach gebratenem Fisch.

Kim rieb sich die Augen und schnupperte.

»Du hast richtig geraten«, grinste Ado. »Das Essen ist fertig. Außerdem ist es höchste Zeit zum Aufstehen.«

»Wirklich?« fragte Kim, während er unwillig nach seinen Sachen angelte. Jemand hatte sie säuberlich zusammengefaltet und über einen Schemel neben dem Bett gelegt. Sogar der Riß im rechten Jackenärmel war geflickt. »Wie spät ist es denn?«

»Sehr spät«, antwortete Ado, »oder sehr früh - kommt drauf an, von welchem Standpunkt man es betrachtet. Du hast fast den ganzen Tag verschlafen. Die Sonne geht schon bald wieder unter.«

Kim war mit einem Satz aus dem Bett. Er fühlte sich ausgeruht und bereit für neue Taten.

»Dann... muß ich jetzt wohl verschwinden«, sagte er.

Ado schüttelte den Kopf. »I wo. Zuerst einmal wird gegessen. Und dann zeige ich dir unser Reich. Wir haben sehr selten jemanden zu Besuch, weißt du. Um ehrlich zu sein«, fügte er betrübt hinzu, »so gut wie nie.«

»Euer Reich? Hast du Reich gesagt?«

»Ja. Mein Vater hat keinen Witz gemacht. Er ist wirklich König.«

Kim grinste. »Dann bist du wohl ein richtiger Prinz, wie?« Er merkte sofort, daß er etwas Dummes gesagt hatte. In Ados Augen blitzte es zornig, und seine Stimme klang um eine Spur schärfer, als er antwortete. »Das bin ich allerdings, Kim. Vielleicht sehe ich nicht so aus, und vielleicht sieht Vater auch nicht so aus, wie man sich bei euch einen König vorstellt. Aber er ist ja auch nur ein Tümpelkönig.«

»Entschuldige«, sagte Kim, »ich...«

»Schon gut.« Ado schniefte und wischte sich mit dem Handrücken über die Nase. Er sah Kim aus seinen großen, fischähnlichen Augen an und zog eine Grimasse. »Du konntest es nicht wissen. Komm jetzt. Das Essen wird kalt.«

Sie gingen zum Tisch. Ado hatte Teller und hölzernes Besteck hergerichtet. Es gab reichlich gebratenen Fisch, dazu einen unappetitlich aussehenden, aber köstlich schmeckenden Brei und ein heißes Getränk, das wie Tee aussah, wie Kaffee roch und nach Kakao schmeckte. Kim aß mit großem Appetit, und Ado konnte über die Mengen, die er verdrückte, nur staunen. Aber schließlich hatte Kim mehr als eine halbe Woche von Wasser und Brot gelebt, und die Mahlzeit vom vergangenen Abend hatte gerade gereicht, den ärgsten Hunger zu stillen.

»Vorhin war ein Schwarzer hier«, sagte Ado nach einer Weile.

Kim war so erschrocken, daß ihm buchstäblich der Bissen im Hals steckenblieb.

»Hier?« fragte er, als wollte er es nicht glauben.

Ado nickte. »Ja. Er hat nach dir gefragt. Nicht direkt, aber er hat gefragt, ob wir jemanden gesehen haben, und er kann nur dich gemeint haben. Das ganze Land scheint in Aufruhr zu sein - deinetwegen.« Er brach ein Stück Brot ab, biß hinein und kicherte. »Vater sagt, er habe selten einen Schwarzen so aufgeregt gesehen. Boraas muß ja völlig außer sich sein. Jedenfalls wissen wir jetzt, daß du die Wahrheit gesagt hast.«

Kim nickte. »Ihr habt mir nicht geglaubt.«

»Nein«, sagte Ado ruhig. »Weißt du denn nicht, daß noch nie irgend jemand aus Morgon entkommen ist?«

»Doch.« Kim nickte wieder. Gestern war er viel zu erschöpft gewesen, um über alles nachzudenken. Aber jetzt erschien ihm seine Flucht selbst unglaublich. »Vielleicht hat er mich unterschätzt«, fügte er ohne rechte Überzeugung hinzu.

Ado antwortete nicht darauf.

Sie aßen schweigend zu Ende. Dann räumte Ado das Geschirr fort, vergewisserte sich, daß das Feuer heruntergebrannt war, und ging zum Ausgang. Kim folgte ihm.

Ado hatte nicht übertrieben. Der Tag neigte sich bereits dem Abend zu, aber die Sonne stand noch eine gute Handbreit über den Baumwipfeln; es würde noch eine Stunde oder länger dauern, ehe sie unterging. Der Wald wirkte jetzt, bei Tageslicht, nicht mehr so unheimlich wie in der vergangenen Nacht. Die stille Oberfläche des Sees schimmerte in der Nachmittagssonne wie geschmolzenes Gold, und zwischen den graugrünen Bäumen lugten sogar vereinzelte, blasse Blumen hervor.

Kim ging die paar Schritte bis zum See und hockte sich am Ufer nieder. Ado streifte sein Gewand ab und sprang in einem eleganten Bogen ins Wasser. Luftblasen sprudelten empor, und für einen Moment war sein Körper wie der Leib eines riesigen silbernen Fisches im klaren Wasser zu sehen. Dann war er verschwunden.

Er blieb sehr lange unter Wasser und tauchte schließlich weit drüben auf der anderen Seite des Sees wieder auf. Kim hätte nie im Leben so weit tauchen können, ohne dazwischen Luft zu holen.

Kim wurde nicht müde, Ado zu beobachten. Er schoß dahin wie ein Pfeil, tauchte unter, schnellte sich im hohen Bogen empor und schlug Purzelbäume in der Luft, daß es Kim fast den Atem verschlug. Er begriff plötzlich, daß dies Ados wahres Element war.

Schließlich schwamm Ado mit einigen kräftigen Zügen zum Ufer, stieg heraus und schlüpfte in sein Kleid. Das Haar hing ihm naß bis auf den Rücken hinunter.

»Das hat gutgetan«, sagte er. Sein Atem ging so ruhig, als käme er von einem gemütlichen Spaziergang zurück. »Ich bade selten des Tages, weißt du. Und was ist mit dir?«

Kim streckte vorsichtig den großen Zeh ins Wasser und schüttelte sich. Es war eisig. »Nein danke«, sagte er.

»Schwimmen die Leute dort, wo du herkommst, nicht?« fragte Ado.

»Doch. Aber nicht bei dieser Kälte. Und längst nicht so gut wie du. Außerdem gibt es bei uns nicht viele so schöne Plätze wie diesen.«

Ado hockte sich neben Kim, zupfte einen Grashalm ab und strich sich damit über die Nase.

»Schön?« sagte er. »Hier ist es nicht schön.«

Kim sah ihn verwirrt an. »Mir gefällt es hier«, sagte er. »Ich...«

»Es ist nicht schön«, beharrte Ado. »Es ist schon angekränkelt. Du kannst es noch nicht sehen, aber ich kenne die Anzeichen genau. Das Wasser verfault langsam, aber sicher, und der Wald stirbt jeden Tag ein Stückchen mehr. Der Regen verbrennt den Boden, und was er übrigläßt, wird vom Nebel erstickt.« Er spuckte aus, buddelte mit den Fingern im Ufersand und warf eine Handvoll ins Wasser. »Früher einmal war es hier schön«, fuhr er nach einer Weile leise fort. »Ehe Boraas kam.«

Kim wurde hellhörig. »Ehe Boraas kam?« fragte er. »Soll das vielleicht heißen, daß Boraas nicht immer hier geherrscht hat?«

Ado schüttelte den Kopf. »Nein. Boraas hat dir sein Reich gezeigt, nicht?«

Kim nickte. Er hatte vom höchsten Turm Morgons einen Blick auf dieses graue, geduckte Land geworfen, und die Erinnerung daran saß ihm noch immer wie ein kalter Schreck in den Knochen.

»Dieses Land war nicht immer so«, fuhr Ado fort. »Früher war hier alles anders. Das Wasser war sauber und klar, und in den Wäldern lebten Tiere und Elfen. Man konnte nachts Spazierengehen, ohne Angst haben zu müssen. Und es gab keine Schwarzen. Auch die Burg Morgon gab es nicht. Und mein Vater...« Er brach ab und ballte die Fäuste.

»Dein Vater war nicht immer Tümpelkönig, nicht wahr?«

»Nein. Er war ein schöner, strahlender Seekönig, und Mutter war eine wunderschöne Seekönigin. Sie und all ihre Brüder und Schwestern lebten glücklich und in Frieden. Sie alle waren Könige, und doch waren sie es nicht.«

»Das verstehe ich nicht.«

Ado lächelte. »Ich bin der letzte aus dem Geschlecht der Seekönige«, erklärte er. »Nach mir wird es keine mehr geben. Aber früher gab es viele. Jeder von ihnen war ein König, doch es gab niemanden, der beherrscht wurde, weil alle anderen auch Könige waren.« Seine Stimme wurde bitter. »Aber dann kam Boraas, und alles wurde anders. Die Wälder verdarben, die Seen trockneten aus und wurden zu schlammigen Tümpeln, und wer nicht vor Boraas und seinen schwarzen Reitern geflohen war, verschwand früher oder später in seinen Kerkern.« Er schluckte, und in dem Netz von Wassertröpfchen auf seinem Gesicht fingen sich Tränen. »Aber es wird wieder so werden, wie es einmal war«, schloß er leise.

»Hat... hat dein Vater das gesagt?«

Ado nickte.

»Wir werden kämpfen«, murmelte er. »Eines Tages werden wir aufstehen und uns von Boraas befreien.«

»Wir?« fragte Kim. »Wer ist ›wir‹?«

Ado schwieg. Sein Blick irrte über den See, den Wald und den Himmel. »Es muß noch andere geben«, sagte er. »Boraas kann sie nicht alle getötet haben. So, wie Vater und ich überlebten, müssen auch andere überlebt haben. Wenn ich erwachsen bin, werde ich losziehen und sie suchen. Ich werde sie finden. Die Vertriebenen. Die Überlebenden. Ich werde sie finden, und ich werde ein Heer aufstellen, dem Boraas nichts entgegenzusetzen hat. Und wenn ich sie nicht finde, werde ich allein kämpfen.«

Es gab viel, was Kim hätte antworten können, aber er wußte auch, daß es zu voreilig gewesen wäre. Er hatte Ado plötzlich von einer Seite kennengelernt, die er bei diesem lustigen, aufgeweckten Jungen nicht erwartet hätte.

Und wie war das mit ihm selbst? Hatte er, Kim, ein Kind noch wie Ado, nicht einen ähnlichen Entschluß gefaßt? War er nicht sogar schon ein Stück weiter auf dem Weg? Seinem Weg. Aber vielleicht glaubte er das auch nur zu sein.

Gleichzeitig sagte er sich, daß Ado auf dem falschen Weg war. Ado suchte Gewalt mit Gewalt zu beantworten, und das war gewiß keine Lösung.

Aber laut sagte Kim nichts von all dem.

»Ich sitze oft hier und träume von früher«, fuhr Ado nach einer Weile fort. Er zog die Beine an den Körper, umschlang sie mit den Armen und stützte das Kinn auf die Knie. »Vater hat mir so viel davon erzählt, daß es für mich ist, als hätte ich es selbst erlebt. Ich brauche nur die Augen zu schließen, um den See zu sehen, wie er einmal war. Und ich schwöre, daß er irgendwann wieder so sein wird.«

Kim berührte es seltsam, daß jemand so gefangen sein konnte von etwas, was er nie kennengelernt hatte, was immer nur ein Traum gewesen war und es vermutlich auch bleiben würde. Im Grunde wußte Ado wohl, wie aussichtslos die Sache war, wie sinnlos sein Vorhaben, sich gegen die allgegenwärtigen Schwarzen zu stellen. Aber waren es nicht zu allen Zeiten die Träume gewesen, die Menschen dazu brachten, das Unmögliche zu tun?

»Ich habe dich gestern abend beobachtet«, sagte Ado, »als mein Vater heimgekommen ist. Du hattest Mühe, dir das Lachen zu verbeißen.«

Kim wich beschämt seinem Blick aus. »Ich... äh...« stammelte er.

Ado grinste ein bißchen. »Weißt du, daß er sich den Namen Tümpelkönig selbst gegeben hat?«

Kim glaubte es zu wissen. Und er glaubte auch zu wissen, warum. Es war seine Art des Widerstandes gegen Boraas und dessen schwarze Reiter. Die einzige Möglichkeit, die ihm geblieben war. Wer sich freiwillig, vor sich selbst und vor anderen, der Lächerlichkeit preisgibt, genießt Narrenfreiheit - und ist dadurch stark.

»Wo wirst du jetzt hingehen?« fragte Ado unvermittelt.

»Hm?«

»Hier kannst du nicht bleiben«, erinnerte ihn Ado. »Ich wünschte, du könntest es. Aber Vater hat recht - die Schwarzen würden dich früher oder später finden.«

»Ich weiß«, seufzte Kim. »Aber ich könnte sowieso nicht bleiben. Ich muß weiter.« Er deutete mit einer Kopfbewegung nach Westen.

»Über die Schattenberge?«

Kim nickte.

»Aber das ist unmöglich.«

»Nein. Ich habe sie schon einmal überwunden, und meine Schwester auch.«

»Das war etwas anderes«, widersprach Ado. »Du konntest sie überwinden, weil du deine Flugmaschine hattest, und deine Schwester fand den Weg, weil Boraas es so wollte.«

»Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß es einen Weg gibt. Ich muß - und ich werde ihn finden.«

»Und wenn du ihn gefunden hast, was dann?«

»Das weiß ich noch nicht. Ich werde Themistokles suchen. Gemeinsam werden wir einen Weg finden, Boraas zu besiegen.«

Nach langem Schweigen sagte Ado: »Nimmst du mich mit?«

Auf diese Frage war Kim nicht vorbereitet. Jetzt war er es, der schwieg.

»Nimmst du mich mit?« wiederholte Ado. »Ich kenne dieses Land besser als du. Vielleicht finden wir zu zweit einen Weg.«

Kim überlegte noch. »Es wäre zu gefährlich«, antwortete er schließlich. »Dein Vater würde es niemals zulassen.«

Ado sagte mit einer wegwerfenden Handbewegung: »Nicht gefährlicher, als hierzubleiben. Boraas wird in seinem Zorn alles zerstören, wenn er begreift, daß du ihm endgültig entkommen bist. Ich könnte mit Vater reden. Vielleicht schließt er sich uns sogar an. Zu dritt hätten wir eine Chance.«

»Boraas wird uns jagen wie die Hasen«, entgegnete Kim. »Ihr wärt nirgendwo sicher. Ich habe euch schon genug in Gefahr gebracht. Und ich könnte es mir nie verzeihen, wenn euch etwas zustieße.«

»Es ist mir egal, wenn ich sterbe«, sagte Ado, und man hörte ihm an, daß es ihm vollkommen ernst war. »Wenn ich wenigstens ein paar von diesen schwarzen Teufeln mitnehmen kann, dann hat es sich gelohnt.«

Kim antwortete nicht. Ado würde ihn nicht begleiten. Der Tümpelkönig würde es niemals zulassen, und sosehr sich Kim davor fürchtete, dieses Alptraumgebirge im Westen allein zu überqueren, Ados Sicherheit war ihm wichtiger. Er mochte diesen Jungen, der so anders war als er selbst und doch die gleichen Träume träumte. Wenn sie beide, er und Ado, sich an einem anderen Ort und unter anderen Umständen kennengelernt hätten, wären sie bestimmt Freunde geworden.

»Es geht nicht«, sagte er endlich.

Ado schnaubte. »Sei doch ehrlich - du willst mich nicht mitnehmen, weil du mir nichts zutraust. Erzähl mir nicht, daß du um mich besorgt bist. Das wäre auch gar nicht nötig. Ich fürchte mich nicht vor Boraas und den Schwarzen.«

»Das glaube ich dir«, sagte Kim. »Und gerade deshalb ist es wichtig, daß du hierbleibst. Du hast mir erzählt, wie es früher hier war, und ich möchte genau wie du, daß es wieder so wird. Du bist der Letzte deines Stammes, nur du kannst dieses Land noch retten, deinen Traum und den deines Vaters wahr machen. Wenn du von hier weggehst, ist das genauso, als würdest du einen guten Freund im Stich lassen. Dieses Land braucht dich, Ado. Dich und deine Träume.«

Er schwieg. Ein dunkler Schatten hatte sich unbemerkt zwischen ihn und Ado geschoben. Leises Rascheln ließ Kim herumfahren. Der Tümpelkönig stand hinter ihnen. Er stand schon lange da und hatte ihr Gespräch mit angehört.

»Kim hat recht, Ado«, sagte er ernst. Er legte seinem Sohn beschwichtigend die Hand auf die Schulter. »Ich verstehe deine Gründe gut, aber es ist genauso, wie Kim gesagt hat. Du darfst ihn nicht begleiten.«

Ado schüttelte die Hand seines Vaters trotzig ab, sprang auf die Füße, und ohne Kim noch eines Blickes zu würdigen, tauchte er mit einem Hechtsprung ins Wasser.

Der Tümpelkönig schüttelte den Kopf.

»Du mußt ihm vergeben, Kim«, sagte er. »Er ist noch sehr jung. Er versteht es noch nicht anders. Später wird er dir dankbar sein, daß du dich geweigert hast, ihn mitzunehmen.« Er bedeutete Kim, ihm zu folgen. »Es ist besser, du gehst jetzt gleich«, murmelte er. »Bevor er wiederkommt.« Kim hätte sich gerne von Ado verabschiedet, aber er sah ein, daß sein Vater vermutlich recht hatte.

»Ich begleite dich aus dem Sumpf heraus«, sagte der Tümpelkönig. »Der Wald wimmelt von Schwarzen, aber ich kenne Wege, die selbst Boraas noch nicht entdeckt hat. Ich werde dich sicher bis an die Grenze meines Reiches geleiten. Danach mußt du aus eigener Kraft weitergehen.« Er seufzte und fügte mit bewegter Stimme hinzu, die seine Sorge und sein Mitgefühl erkennen ließ: »Der Weg, den du gehen willst, ist lang und voller Gefahren.«

»Ich weiß«, murmelte Kim.

Der Wald nahm sie auf. An der Seite des Tümpelkönigs fühlte sich Kim beschützt und geborgen. In diesem Moment beneidete er Ado, der jederzeit in diese Geborgenheit zurückkehren konnte.

»Das Land ist in Aufruhr«, fuhr der Tümpelkönig fort. »Baron Kart hat all seine Reiter losgeschickt, nach dir zu suchen. Vertraue niemandem. Halte dich abseits der Wege, und meide Städte und Dörfer. Das Böse schläft nicht, und Boraas' Spitzel sind überall.«

Länger als eine Stunde gingen Kim und der Tümpelkönig Seite an Seite in vertrautem Schweigen durch den Wald. Als sie schließlich den Rand des Sumpfgebietes erreichten, war die Nacht hereingebrochen.

»Hier trennen sich unsere Wege«, sagte der Tümpelkönig. »Ich wünsche dir viel Glück, Junge.«

»Ich komme wieder«, versprach Kim.

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