9

Erstaunlich, wie wütend sie auf Aristoteles sein konnte, dachte Mrs. Pollifax, als sie in der Dunkelheit dahinrumpelten. War es nicht der Gipfel der Ungerechtigkeit, daß sie, die seinetwegen nach Afrika gekommen war, jetzt in die Nacht hinaus entführt wurde, während er sicher, warm und unerkannt am Lagerfeuer zurückblieb und - das empörte sie am meisten - demnächst Abendessen bekam? Bestimmt hatte Carstairs ein solches Ende ihrer Mission niemals geahnt. Ihre Reaktion auf die Entführung war eigentlich ein frommer Stoßseufzer gewesen. Dem Himmel sei Dank, daß Chanda ihren Film hatte. Sollte ihr irgend etwas zustoßen, dann enthielt der Film brauchbare Information für Carstairs. Ihre zweite Reaktion war weniger edel. Sie wollte einfach nicht, daß ihr etwas zustieß. Sie war außerordentlich empört, daß die Safari unterbrochen worden war. Sie war hungrig. Als sie zu Amy Lovecraft hinüberschaute, bemerkte sie trotz der trüben Beleuchtung, daß deren Hände vorn gefesselt waren und nicht auf dem Rücken, und auch dagegen hatte Mrs. Pollifax sehr viel einzuwenden. Das Ausmaß ihres Zorns überraschte sie selbst. Da ihre Hände auf dem Rücken gebunden waren, konnte sie sich nicht anlehnen, um sich auch nur eine Sekunde zu entspannen. Außerdem kostete es sie große Anstrengung, sich auf dem Sitz zu halten, da er glatt war. Der Gedanke bedrückte sie, daß es gerade Amy Lovecraft war, mit der sie diese Situation erleben mußte. Die Frau war unberechenbar.

Nachdem sie sich ihren Groll und ihren Ärger eingestanden hatte, begann Mrs. Pollifax sich wohler zu fühlen. Gegen ihren Hunger und gegen ihre Entführung konnte sie nichts machen, aber wenigstens konnte sie versuchen, Mrs. Lovecraft zu mögen. Es mußte doch etwas Liebenswertes an ihr sein, und wenn sie miteinander in Gefangenschaft gerieten, dann wäre es sehr viel besser, wenn sie das jetzt gleich herausfände. »Man wird uns folgen, wissen Sie, es wird alles in Ordnung kommen«, sagte sie tröstend.

Amy Lovecraft wandte sich ihr zu. »Uns folgen?« Sie verzog spöttisch den Mund. »Ja, aber wann? Und was zum Teufel verstehen Sie unter in Ordnung kommen?«

Na ja, viel Liebenswertes hatte sie nicht, stellte Mrs. Pollifax fest und beschloß, einen weiteren Versuch zunächst aufzuschieben. Auch hatte sie herausgefunden, daß sie, wenn sie sich seitwärts in die Ecke drückte, ihr Gleichgewicht halten konnte, was ein Glück war, weil der Landrover plötzlich vom Wege abwich, hohes Gras durchfuhr und dann wieder auf den Weg zurückkam.

»Ich frage mich, was das alles soll«, sagte sie.

»Ich verstehe nur ein paar Worte Nyanja«, erklärte Mrs. Lovecraft, beugte sich vor und sprach mit dem Fahrer. Sie schien eine ganze Menge Worte zu kennen, und der Fahrer antwortete ziemlich ausführlich.

»Er verweigert die Auskunft«, sagte Mrs. Lovecraft und sank auf ihren Sitz zurück. »Und wir sollen auch nicht reden.«

»Vermutlich ein Versuch, jeden, der uns folgt irrezuführen«, meinte Mrs. Pollifax weise. »Und irgendwann wird er uns ja wohl sagen, hoffe ich, warum wir Geiseln sind.«

Amy Lovecraft zuckte die Achseln. »Meistens geht es um Geld, nicht wahr?« Ihre Stimme klang unbeteiligt.

Mrs. Pollifax rutschte auf ihrem Sitz nach vorn und versuchte, sich mit beiden Füßen gegen den Boden zu stemmen. Der Weg vor ihnen war unbelebt, jetzt zur Nachtzeit auch ohne Perlhühner. Sie konnte nichts erkennen, außer im trüben Schein des Armaturenbretts die Silhouetten der beiden Männer sowie das Licht der Scheinwerfer, die den steinigen Weg erfaßten. Sie und Amy Lovecraft hockten zusammengedrängt hinter den beiden, hinter ihnen saß der dritte Mann. Ab und zu konnte sie seinen Atem im Nacken spüren.

Daß sie in nördlicher Richtung fuhren, wußte sie, weil sie vom Safaridorf aus genau dieselbe Richtung eingeschlagen hatten wie Julian, als er sie zu den Löwen im Norden gefahren hatte. Mit geschlossenen Augen versuchte sie, sich ihre Karte des Kafue-Nationalparks vorzustellen, der ihrer Erinnerung nach ungefähr die Form des Staates Florida hatte. Er war lang und breit, und an seinen Grenzen waren in verschiedenen Abständen Polizeiposten stationiert. Nur zwei Straßen durchquerten ihn. Auf der Nordsüdstraße fuhren sie gerade. Dieser schmale Feldweg voller Elefantenlöcher stellte die Versorgungslinie dar, die die Lager des Kafueparks miteinander verband. Der zweite Weg von Osten nach Westen war die asphaltierte Lusaka-Mumbwa-Fahrstraße, auf der sie am Montag den Park erreicht hatten. Als sie sich dies vergegenwärtigte, kam sie zu dem Schluß, daß ihre Entführer entweder verrückt oder unheimlich schlau waren. Sie fuhren genau dahin, wo sie nicht hinfahren sollten. Sie hatten das Lager Lufupa vor sich, wo sie heute zu Mittag gegessen hatten, und noch weiter nördlich das Lager Moshe fast am Ende des Parks. Hinter ihnen lagen das Lager Kafwala und die Lusaka-Mumbwa-Straße. Somit blieb nur ein breiter Landstrich übrig, in dem sie sich bewegen konnten. Sie stellte sich die Frage, wie sie aus diesem Gebiet herauskommen wollten. Ferner begann Mrs. Pollifax sich zu wundern, warum sie ihre Geiseln in einem Park geschnappt hatten. Es gab doch in viel zugänglicheren Gebieten ebenfalls Touristen... Lusaka z. B. oder Livingstone. Es erschien ihr alles recht unlogisch.

Sie öffnete die Augen und bemerkte, daß der Landrover abermals den Weg verließ und hielt. Diesmal stieg einer der Männer aus und ging durch das hohe Gras zurück. Der Fahrer hatte Zeit, sich eine Zigarette anzuzünden. Als der Mann zurückkam, drückte er seine Zigarette aus, ließ den Wagen an, doch wendete er diesmal nicht, sondern fuhr weiter in den Busch hinein. Damit änderte sich die Situation. Der Weg war schlecht genug gewesen, dachte Mrs. Pollifax sehnsüchtig, aber immerhin war es ein Weg, der nach Kafwala zurückführte oder vorwärts nach Lufupa oder indirekt sogar nach Lusaka. Ihn zu verlassen, erschien ihr bedrohlich.

Das Gelände war flacher, und sie fuhren schnell über kleine Löcher und Unebenheiten hinweg, so daß Mrs. Pollifax nur schwer das Gleichgewicht halten konnte und schließlich auf dem Boden landete. Irgendwo in der Ferne heulte eine Hyäne, und Mrs. Pollifax war ebenfalls den Tränen nahe. Sie fuhren und fuhren. Unendlich lange. Es dauerte geraume Zeit, ehe sie hielten. Und bevor die Scheinwerfer verloschen, erkannte Mrs. Pollifax die Umrisse zweier einsamer, baufälliger Hütten, die auf einer Lichtung standen.

Der hinter ihr sitzende Mann sagte scharf: »Stell das Funkgerät auf, Reuben! Wir sind zehn Minuten zu spät.«

»Aber Simon...«

»Später. Stellt das Funkgerät auf - irgendwohin - aber schnell!«

Aus einer der beiden Hütten holten zwei Männer einen schweren, dunklen Gegenstand, setzten ihn ins Gras und beugten sich darüber. Eine Kerze wurde angezündet und Simon hockte sich vor den Apparat, zog die Antenne heraus und begann auf der Skala herumzusuchen. Als er sprach, war seine Stimme in der Stille der Nacht deutlich zu hören. »Simon an Grünen Vogel, Simon an Grünen Vogel...« Plötzlich unterbrach er sich. »Hab' ihn«, sagte er triumphierend und dann: »Alles in Ordnung hier, Grüner Vogel. Könnte nicht besser sein. Was ist mit Ihrem Ziel?« Er kicherte. »Prima. Wir folgen wie geplant. Nach meiner Uhr ist es neun Uhr fünf... Richtig. Einundzwanzig Stunden ab jetzt am Standort B -Letzte Meldung, Grüner Vogel. Ende.«

Er schob die Antenne ein und nickte zufrieden. »Alles glatt wie Seide, Mainza. Du und Reuben nehmt die Kerze und versteckt den Sender.« Er hielt inne und sah sich um. »Ich nehme die Hütte rechts, Reuben, du bewachst die Tür.«

Er wandte sich ihnen zu und sagte munter: »Heraus, meine Damen. Steigen Sie aus und folgen Sie mir!«

Man brachte sie in die linke Hütte. Und im Laternenschein sahen sie, daß die Männer zweifellos schon hier gewesen waren. Außer dem Funkgerät gab es Schlafsäcke, zwei Holzkisten und eine Plane. Die Hütte war kaum mehr als zweieinhalb Quadratmeter groß, und die vierte Wand fehlte. Simon entfaltete die Plane und hing sie über das Rahmenwerk der zerfallenen Wand.

»Wer sind Sie?« fragte Mrs. Pollifax, als die Laterne Simons Gesicht beleuchtete.

»Das ist nicht wichtig«, war seine Antwort.

»Aber Sie sind keine Sambier?«

»Nein«, sagte er lachend, »Sambier nicht.« Er rollte einen Schlafsack aus, schob ihn Amy Lovecraft hin und sagte: »Sie - da drüben hin. Sitzen Sie still. Ich will diese Frau hier verhören.«

Amy Lovecraft trug ihren Schlafsack in die Ecke und setzte sich mit den Rücken gegen die Wand, ihre gefesselten Hände hielt sie im Schoß. Sie hatte die ganze Zeit geschwiegen und schwieg auch jetzt, aber ihre Augen beobachteten Simon genau. Vielleicht erwog sie die Möglichkeiten, mit weiblichen Tricks zu arbeiten, dachte Mrs. Pollifax.

Simon schob eine der Kisten mitten in die Hütte und befahl Mrs. Pollifax, sich zu setzen. Sie überhörte es und sagte: »Meine Handgelenke tun mir weh. Mrs. Lovecrafts Hände haben Sie vorn gefesselt. Warum meine nicht auch?«

Simon warf Amy Lovecraft einen Blick zu und zuckte die Achseln. »Reuben«, rief er. »Du bewachst diese Frau, während ich die Fessel an ihren Gelenken ändere.«

Immerhin, dachte Mrs. Pollifax und stellte sich einen Würgegriff von hinten oder einen Faustschlag auf den Solarplexus oder einen Handkantenschlag gegen die Halsschlagader vor, was sie ohne Anwesenheit der zweiten Wache hätte versuchen können. Dennoch war sie dankbar, daß ihre Arme wenigstens nicht mehr hinten gebunden waren, und das Gefühl der Entspannung in ihren Schultermuskeln war köstlich. Sie setzte sich. Und er setzte sich ihr gegenüber, so dicht, daß ihre Knie sich berührten. »Nun«, sagte er.

»Ja nun«, antwortete Mrs. Pollifax trocken. »Was wollen Sie von uns? Welche Art Lösegeld verlangen Sie?«

»Die Lösegeldforderungen sind schon der Fernsehstation in Lusaka übermittelt worden, Madam. Wir erwarten von Ihnen nur, daß Sie mit uns zusammenarbeiten. Es handelt sich um Fotos.«

»Fotos?« wiederholte sie, plötzlich beunruhigt.

Er bemerkte ihre Reaktion nicht, sondern nahm aus einem Umschlag vier Hochglanzabzüge, und Mrs. Pollifax erkannte sofort, daß es nicht ihre Bilder waren.

»Hier«, sagte er, legte sein Gewehr auf den Boden und reichte ihr die Fotos. »Sie werden mir sagen, welchen von diesen Männern Sie kennen.«

»Kennen?« fragte sie verblüfft. »Ich bin doch erst seit Montag in Sambia. Wie könnte ich da schon jemanden kennen?«

»Sehe Sie sich die Fotos an«, sagte er nur. »Sie sind groß und deutlich. Wir wollen Ihren Eindruck wissen.«

Als sie die Abzüge in die Hand nahm, rückte er näher heran, ließ die Augen nicht von ihrem Gesicht, und sie dachte: Vorsicht, das ist eine Falle. Deshalb betrachtete sie die Aufnahmen, anstatt sie flüchtig durchzusehen, eingehend, eine nach der andern. Die erste zeigte einen Mann mit schmalem Gesicht und einem schwungvollen Schnurrbart wie eine Lenkstange und gewelltem, grauem Haar. Noch nie gesehen. Auf der zweiten sah sie einen Mann mit einem Schnurrbart wie ein Eisenfresser. Sie nahm dann die dritte: ein Bild John Sebastian Farrells, wie sie erstaunt feststellte. Farrell! Mit verzweifelter Anstrengung gelang es ihr, keine Reaktion zu zeigen. Sie betrachtete die letzte Aufnahme ohne Reaktion, das Bild eines dicken Mannes mit harten Zügen.

»Müßte ich einen von ihnen kennen?« fragte sie. »Alle haben Schnurrbärte.«

»Sie kennen einen von ihnen!« Zorn schlich sich in Simons Stimme ein, »Sie haben nach ihm eine Suchanzeige in der Zeitung aufgegeben.«

Sie tat überrascht, aber nicht aus dem Grunde, den er vermutete. »Die Anzeige betraf einen Mann namens John Sebastian Farrell«, erklärte sie ihm. »Haben Sie mich deshalb entführt? Sie haben doch gerade gesagt, es ginge um Lösegeld.«

Er zuckte die Achseln. »Das Lösegeld spielt keine Rolle. Sie kennen diesen Farrell, Sie können ihn für uns identifizieren. Darum geht es. Das Lösegeld ist nur eine - wie nennen Sie das? - eine Finte.«

Das war eine recht verblüffende Nachricht, die ihr den Atem verschlug. »Sie setzen mich in Erstaunen«, sagte sie und fuhr dann anklagend fort: »Warum mußten Sie denn zwei von uns entführen? Warum auch Mrs. Lovecraft?«

»Als Geisel für Sie«, sagte er mit einem schwachen Lächeln. »Außerdem sind zwei besser als eine.«

Mrs. Pollifax schaute über seine Schulter hinweg zu Mrs. Lovecraft hinüber, aber die hatte sich in eine eigene Welt zurückgezogen, ihre Augen blickten ins Leere. Im trüben Licht der Laterne war ihr Gesicht so fahl wie ihr Haar. »Warum«, fragte Mrs. Pollifax und wandte sich Simon wieder zu, »warum ist denn Farrell so wichtig?«

»Das ist unsere Sache.« Er kniff die Augen zusammen. »Wir wissen, daß einer dieser Männer Mr. Farrell ist, wir wissen es, und Sie werden uns jetzt sagen, welcher.«

»Aber keiner ist Mr. Farrell«, log sie.

Er schlug ihr mit dem Handrücken hart ins Gesicht. »Ich nehme an, Sie haben die Frage nicht verstanden.«

Das Blut lief aus ihrer geplatzten Lippe. Nicht weniger zornig als er sah sie ihn an. »Und Sie sind nicht sehr nett«, sagte sie.

»Das haben Sie eingesehen? Gut, fangen wir noch einmal von vorne an.«

»Nein«, sagte sie standhaft. »Diese Männer sind mir völlig fremd.«

»Sehen Sie sie an«, schrie er und hielt ihr das erste der Fotos vor die Augen. Er ergriff mit einer Hand ihren Nacken und zwang sie, das Bild zu betrachten. »Ist es dieser?«

»Nein«, sagte sie schwer atmend.

Er hielt ihr das zweite hin. »Der?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Dann dieser!«

»Ich hab's Ihnen gesagt, ich kenne keinen«, rief sie. Ihr Zorn war jetzt stärker als ihre Angst.

Er schlug sie wieder, diesmal so heftig, daß sie von der Kiste herunterfiel. Mrs. Lovecraft hinter ihm hustete. Simon stellte Mrs. Pollifax auf die Beine und sagte in hartem Ton: »Für mich sind Sie ein Dreck. Ehe wir diesen Ort bei Sonnenaufgang verlassen, bekomme ich diese Information von Ihnen. Sie werden mir geben, was ich brauche, ob Sie wollen oder nicht. Denken Sie darüber nach, Sie haben die Wahl,« Steifbeinig stolzierte er nach draußen.

Nach einer langen Stille regte sich Amy Lovecraft in der Ecke und seufzte. Sie sah Mrs. Pollifax an und sagte: »Sie waren wirklich toll, meine Liebe. Ich hoffe, ich hätte auch so widerstanden.«

Mrs. Pollifax leckte die blutende Lippe und sagte wütend: »Einfach lächerlich. Ich dachte wirklich, wir wären wegen Geld entführt worden.«

»Ja, aber was wollen Sie machen, wenn dieser Simon wiederkommt?« fragte Amy. »Wie lange glauben Sie, ihn hinters Licht führen zu können?«

Mrs. Pollifax hatte darüber nachgedacht, warum Simon das Verhör unterbrochen haben mochte. Ein paar weitere Schläge hätten sie vielleicht mürbe gemacht; es war doch sonderbar, fand sie, ihr Zeit zum Erholen zu lassen. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit Amy Lovecraft zu. »Ihn hinters Licht führen?« fragte sie. Wenn Amy glaubte, sie könne Farrell identifizieren, dann wollte sie diesen Verdacht am besten gleich zerstreuen. »Ihn hinters Licht führen, Mrs. Lovecraft?«

»Nennen Sie mich doch Amy«, sagte sie ungeduldig. »Natürlich haben Sie ihn reingelegt, ich hätte es auch getan, aber Sie können so nicht weitermachen. Was sollen wir tun?«

»Wir können gar nichts tun«, sagte Mrs. Pollifax und setzte sich ihr gegenüber. »Keiner dieser Männer war Mr. Farrell.«

»Simon schien seiner Sache ganz sicher.«

»Das ist sein Problem.«

»Sie müssen doch einsehen, daß wir beide in dieser schrecklichen Klemme stecken«, rief Amy. »Es ist so unfair. Sie haben etwas zu tauschen, aber ich, ich hänge völlig von Ihnen ab.« Sie hob hilflos die gefesselten Hände, ihre Stimme zitterte. »Wer ist denn dieser Farrell überhaupt? Und wie kommt es, daß Sie jemanden kennen, der in Sambia lebt?«

»Wenn er hier lebt«, erklärte Mrs. Pollifax, und da sie hoffte, daß Simon hinter der Plane lauschte, sprach sie besonders deutlich. »Tatsächlich war er vor vielen Jahren unser Nachbar in New Brunswick, New Jersey. Das liegt in den Vereinigten Staaten«, fügte sie hinzu. »Ein ganz reizender junger Mann, nur daß er jetzt nicht mehr jung sein kann, denn ich habe ihn seit mindestens zwanzig bis fünfundzwanzig Jahren nicht gesehen. Damit Sie verstehen, was für ein netter Mann er ist, will ich Ihnen erzählen, daß er meinem damals zwölfjährigen Sohn Roger beim Bauen eines Seifenkistenautos geholfen hat. Er mochte Roger so gern.« Sie merkte, daß Amy Lovecraft sie erstaunt betrachtete, und verbreitete sich über Bubenstreiche, sprach von Familien, die wegzogen, so daß man den Kontakt verlor, und dann: »Es kam durch Mr. McGillicuddy« - die Geschichte begann ihr Spaß zu machen -, »den ich vor ein paar Wochen zufällig auf der Straße traf. Er war höchst erstaunt, als er hörte, daß ich nach Sambia auf Safari ging, und erzählte mir, John Sebastian lebe hier. Er wußte das, weil sie sich immer noch Weihnachtskarten schicken, und er richtet die an John Sebastian an Barclays Bank.«

Amys Mund, der offengestanden hatte, schnappte zu. »Und deswegen haben Sie in einer Zeitungsanzeige nach ihm gesucht? Wie konnten Sie so etwas Törichtes tun? Jetzt sehen Sie, wohin das geführt hat!«

»Na, ich habe bestimmt nicht erwartet, daß es hierher führen würde«, erklärte Mrs. Pollifax. »Aber was Simon nicht versteht, ist eben, daß es schwer ist, einen Mann wiederzuerkennen, den man seit fünfundzwanzig Jahren nicht gesehen hat. Vielleicht würde ich ihn erkennen, wenn er hier hereinkäme, aber auf einem Foto nach fünfundzwanzig Jahren?« Sie zögerte und berichtete dann mit liebevollem Lächeln: »Er nannte mich Herzogin, wissen Sie, im Spaß natürlich. Er war sehr liebevoll gegen Erwachsene und so gescheit. Ein richtig netter Junge«, schloß sie, und ihr sehnsüchtiges Lächeln war ganz echt. Sie hörte geradezu Farrells schallendes Gelächter über ihre Geschichte. Amy schwieg unbewegt. »Ich verstehe nicht, warum Sie mir nicht vertrauen«, sagte sie. »Ich glaube, daß Sie mir einen Haufen Unsinn erzählt haben. Sie waren diesem schrecklichen Simon gegenüber sehr tapfer, aber jetzt reden Sie nicht mit Simon. Ich glaube, Sie spielen Verstecken mit mir.«

Mrs. Pollifax wünschte sich, Amy würde etwas verständnisvoller sein und ihre Lage begreifen. »Meine Lippe blutet«, sagte sie, »mein Kiefer schmerzt, und mir ist nicht nach Spielen zumute, das können Sie mir glauben.«

»Aber Sie müssen einen dieser Männer kennen«, sagte Amy. »Und ich nehme es Ihnen sehr übel, daß Sie mir gegenüber nicht offen sind. Es geht ja auch um mein Leben. Wir sollten miteinander reden - Pläne machen -, denn wenn Sie diesen Mann einmal identifiziert haben, bringen sie uns zur Safari zurück; dann haben wir diesen Alptraum hinter uns.«

Mrs. Pollifax bezweifelte das sehr. Sie fand es aber vernünftiger, die Fassade aufrechtzuerhalten, eine naive Frau zu sein, die nie Schlimmeres erlebt hatte als eine Zurechtweisung ihres Gartenklubpräsidenten, weil sie eine Flockenblume nicht hatte identifizieren können. Sie fand es ziemlich naiv von Amy zu glauben, daß Simon sie zur Safari zurückbrächte, wenn sie Farrell identifizierte. Es war viel wahrscheinlicher, daß er sie im Busch zurücklassen oder noch etwas viel Schlimmeres mir ihr tun würde. Sie hatte an dem Mann keine Anzeichen von Menschlichkeit entdeckt. »Das ist alles schön und gut«, sagte sie ärgerlich, »aber ich kann ihnen nicht sagen, was ich nicht weiß.«

Mrs. Pollifax stand auf und begann ruhelos in der Hütte umherzugehen, wobei Amy ihr mit den Augen folgte. Sie ging in die Ecke, schob mit ihren gefesselten Händen die Plane beiseite und schaute hinaus.

Sie konnte sehen, daß Simon ihre Unterhaltung überhaupt nicht belauscht hatte. Sie sah ihn und Mainza im Licht von zwei Laternen aus einem Faß Benzin in den Tank des Landrovers füllen. Über der Lichtquelle war ungeschickt ein Stück Segeltuch angebracht worden, damit man von oben nichts sehen konnte. Offensichtlich befürchteten sie Suchaktionen.

Die Erkenntnis, daß sie nicht belauscht worden waren, wirkte niederschmetternd auf Mrs. Pollifax. Als der Wachtposten sich umwandte, sie entdeckte und drohend sein Gewehr hob, ließ sie die Plane fallen und kehrte auf ihre Orangenkiste zurück. Sie fragte sich, warum Simon nicht gelauscht hatte. Er schien ein cleverer junger Mann zu sein, und sie konnte einfach nicht begreifen, warum er eine solche Gelegenheit nicht wahrnahm: Zwei Frauen nach ihrer Gefangennahme im Lager Kafwala zum erstenmal allein. Sie mußten doch miteinander sprechen. Er hatte die für ein Geständnis denkbar günstige Situation nicht genutzt. Er mußte sich doch gesagt haben, daß über Farrell gesprochen würde und doch hatte er sich aber nicht einmal die Mühe gemacht zu lauschen. Entweder war er sehr sicher, genug Zeit zu haben, jede Information aus ihr herauszuholen, oder er war nicht so clever, wie sie gedacht hatte, oder...

»Ich werde ein bißchen schlafen«, sagte sie unvermittelt. »Simon hat ja gesagt, wir bleiben bis zur Morgendämmerung, nicht wahr?«

»Schlafen?« schrie Amy Lovecraft.

»Ja, schlafen. Ich bin wirklich sehr müde, und ich bin nicht so jung wie Sie«, erklärte sie und zog sich einen Schlafsack heran. Sie strich ihn mit den gefesselten Händen glatt, setzte sich nieder und schob sich hinein. »Hätten Sie etwas dagegen, die Laterne zu löschen?«

»Ich hätte etwas dagegen«, fauchte Mrs. Lovecraft.

Mrs. Pollifax nickte nur und drehte das Gesicht zur Wand. Sie streckte erst ein Bein und dann das andere aus. Der Boden war sehr hart und ihre Knochen nicht weniger, aber sie hatte ja auch gar nicht die Absicht zu schlafen. Draußen hörte sie die Männer flüstern und irgendwo in weiter Ferne den Jagdschrei eines Tieres. Sie versuchte ein leises Schnarchen und täuschte Schlaf vor. Es war schwieriger, als sie gedacht hatte.

Worüber sie besonders gründlich nachdenken wollte, war die Tatsache, daß sie nicht zufällig für diese Entführung ausgesucht worden war. Daran mußte sie sich erst gewöhnen. Die Entführung war ausschließlich für sie arrangiert worden, und da der Grund ihre Anzeige in der Times of Sambia vom Dienstagmorgen war, hatte man sie in aller Eile arrangiert.

Sie dachte an Farrell und fragte sich: Wo war Farrell jetzt, und was hatte er unternommen, um zum Gegenstand einer polizeilichen Befragung und zum Anlaß dieser verrückten Entführung zu werden?

Sie versuchte sich die Fotografie von ihm vorzustellen, die sie vorhin gesehen hatte. Aber das einzige, woran sie sich erinnern konnte, war ihre eigene Reaktion, der Schock, der sie wie ein Peitschenhieb getroffen hatte. Es war nicht die beste Aufnahme gewesen, aber sie hatte ihn sofort erkannt. Doch woran? Bestimmt nicht an der Form des Mundes oder der Nase oder des Kinns. Etwas, was sie nicht bestimmen konnte, war ihr bekannt vorgekommen. Und nun würde sie ihm Rückendeckung geben müssen, solange sie konnte, während sie auf ihre Befreiung oder auf eine Fluchtgelegenheit wartete. Ein erfreulicher Gedanke war das nicht.

Etwa eine Viertelstunde lang hatte sie sich schlafend gestellt, als sie das erwartete Geräusch hörte. Amy Lovecraft erhob sich aus ihrem Schlafsack, blies die Laterne aus und blieb reglos lauschend stehen, kam dann geräuschlos zu Mrs. Pollifax und beugte sich über sie. Dann schlich sie auf Zehenspitzen durch die Hütte, und ging nach draußen.

Keinerlei Aufschrei erfolgte.

»Sie schläft«, sagte Amy leise zur Wache, und dann: »Wo ist Simon?«

Mrs. Pollifax schob ihren Schlaf sack zurück und setzte sich auf.

»Sie schläft«, hörte sie Amy wiederholen.

»Hat sie gesprochen? Hat sie Ihnen alles erzählt?«

Das war Simon, aber er sprach so leise, daß Mrs. Pollifax ihren Schlafsack verließ und über den Boden kroch, um das Ohr dicht an die Plane legen zu können.

»Nur so eine unwahrscheinliche Geschichte, die ich keinen Augenblick glaube. Wieviel Zeit bleibt uns noch, ehe wir sie umbringen?«

»Bis Sikota kommt. Wir treffen ihn morgen bei Einbruch der Dunkelheit auf einem alten Friedhof jenseits der Lusaka-Mumbwa-Straße. Lebend könnte sie uns allerdings von Nutzen sein, wie die Ziege, mit der man den Löwen fängt.«

»Wir haben keine Zeit zu verlieren«, sagte Mrs. Lovecraft ungeduldig. »Am Samstag muß ich mich aus dem Staub gemacht haben, und ihr auch. Wir können sie nicht mitnehmen; innerhalb der nächsten zwanzig Stunden müssen wir sie uns vom Hals schaffen, ob sie den Mund aufmacht oder nicht. Ich dachte gleich... «

»Das war Ihre Idee, Tsa.«

»Werden Sie nicht unverschämt«, fuhr sie ihn an. »Wenn Sie gute Arbeit leisten, wird sie sprechen, das versichere ich Ihnen. Sie ist eine Närrin, aber sie könnte eine clevere Närrin sein. Schlagen Sie härter zu, Simon, und dann...«

Ihre Stimmen wurden leiser, als sie sich entfernten, und Mrs. Pollifax legte sich zitternd in ihren Schlaf sack zurück. »Wenn Sie gute Arbeit leisten, wird sie sprechen, das versichere ich Ihnen... « Die Worte hingen noch in der Luft. Die Erkenntnis, daß ihre wildesten Vermutungen Wirklichkeit werden sollten, war alles andere als erfreulich. Simon hatte es nicht nötig gehabt zu lauschen, weil Amy Lovecraft die Geisel nur gespielt hatte, in der Hoffnung, das Mrs. Pollifax ihr anvertrauen würde, was sie Simon verschwiegen hatte.

Sie hätte das Komplott früher durchschauen müssen. Es hatte genug Anzeichen gegeben: die Art, wie Mrs. Lovecraft gefesselt worden war; die Tatsache, daß sie sich so ruhig verhalten hatte; ihr Wortwechsel mit dem Fahrer unterwegs. Und dann Mrs. Lovecrafts Ungläubigkeit ihrer Geschichte gegenüber. Mrs. Pollifax war auch klar, daß Simon in Kafwala genau gewußt hatte, wen er entführen mußte, was bewies, daß in der Gruppe jemand eingeweiht war. Jetzt fiel Mrs. Pollifax auch das Rascheln in den Palmen im Safaridorf Chunga nach ihrem Verhör durch Leutnant Bwanausi wieder ein und daß sie Mrs. Lovecraft im Büro gesehen hatte. Und dann der von Crispin erwähnte Funkspruch, den Mrs. Lovecraft gesendet hatte. Alle Achtung vor ihrem schauspielerischen Talent. Amy hatte in der Gruppe die mannstolle Frau vollkommen glaubhaft gespielt.

Aber wie lange würde sie einer Folter standhalten können, fragte sich Mrs. Pollifax jetzt, als sie ihre Situation überdachte, die hoffnungsloser war als bisher geglaubt. Bis zur Morgendämmerung würden sie hierbleiben, hatte Simon gesagt. Er kam bestimmt bald zurück, um sie, von Amy instruiert, härter zu schlagen oder noch Schlimmeres zu tun. Zwanzig Stunden Fahrt und Folter lagen vor ihr, und danach sollte sie umgebracht werden. Und keiner würde je erfahren, warum. Sie konnte sich den weiteren Verlauf der Geschichte gut vorstellen: Nach ihrer Ermordung würden Simon, Reuben und Mainza von Sikota aus dem Park herausgeschmuggelt werden, und nach einer angemessenen Zeitspanne käme Amy aus dem Busch getaumelt mit ein paar künstlichen Kratzern und Prellungen und einer schrecklichen Version von Mrs. Pollifax' Ermordung nach einem Fluchtversuch. Und wer würde ihr nicht glauben? Amy war die Heldin.

Bis vor kurzem hatte Mrs. Pollifax geglaubt, es stünden drei Männer gegen zwei Frauen. Jetzt waren es plötzlich vier gegen einen und die vierte war Amy. Mrs. Pollifax wußte nun, was es heißt, verlassen zu sein.

Die Zeltplane hob sich - Mrs. Pollifax konnte den Sternenhimmel sehen - und Amy Lovecraft schlich auf Zehenspitzen zu ihrem Schlafsack. Sie hatte sich gerade hineingelegt, als draußen ein Schreckensschrei zu hören war.

Simon rief: »Laßt die Lichter an! Reuben?«

»Hier, Simon.«

»Sei still! Warte!«

Mrs. Pollifax sprang auf, lief zur Plane und überließ Amy ihrer Schauspielerei, die darin bestand, daß sie atemlos auffuhr und rief: »Was ist das? Was hat mich geweckt?« Ohne sie zu beachten, schaute Mrs. Pollifax hinaus. Die Lichter am Baumast brannten noch, aber Simon und Mainza standen regungslos da und spähten in den Wald. Sie folgte ihren Blicken, und sah einen großen Schatten auf das Lager zukommen. Die Erscheinung - für einen Löwen zu groß, für einen Elefanten zu klein - näherte sich geräuschvoll. Erst erkannte Mrs. Pollifax ein Paar zerfetzte Turnschuhe, dann Beine in blauen Jeans, schließlich Pullover und Jacke und endlich das Gesicht von Cyrus Reed.

Das konnte nur ein Traum sein, dachte Mrs. Pollifax. Da stand er in voller Größe. »Hallo«, sagte er freundlich. »Ich bin Ihren Lichtern nachgegangen. Mühsame Wanderung hier draußen im Busch. Vielleicht ist Mrs. Pollifax hier irgendwo in der Nähe, und Mrs. Lovecraft?«

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