Nachdem ihr diese Idee gekommen war, beschloß Mrs. Pollifax nun vor allen Dingen, Kontakt zu dem Wilderer herzustellen. Unter den gegebenen Umständen konnte sie ihn kurz, aber herzlich in ihrem Kreis willkommen heißen. Vielleicht ergab sich dann die Möglichkeit, ihm zu zeigen, daß sie und Cyrus Gefangene waren. Wenn Mainza mit seiner Zeichensprache bei ihm Erfolg gehabt hatte, dann war nicht einzusehen, warum sich das nicht wiederholen ließe.
Sie beschleunigte ihren Schritt, bis sie neben ihm war. Als er sie ansah, lächelte sie ihn an, was er indessen nur mit einem Grinsen erwiderte. Bestimmt war er der größte Sambier, den sie bisher gesehen hatte. Sie schätzte ihn auf einen Meter achtzig, wenn er aufrecht stand. Er war so mager, daß man seine Rippen sehen konnte. Das Gesicht war länglich und hager, und wegen der vorstehenden Zähne wirkte sein breites Grinsen dümmlich, was noch durch das komische grünschwarz-karierte Wollkäppchen verstärkt wurde, das er trug. Immerhin war er keiner von denen. Sie war überzeugt, daß er ein Messer bei sich hatte, und sie setzte nun alle Hoffnung auf ihn.
Nachdem die beiden sich einige Male eifrig angelächelt hatten, spürte Mrs. Pollifax, daß sie auf dem Weg zu einer komplizierten Verständigung war. Als er sie wieder einmal anschaute, hob sie ihre gefesselten Hände. Sie tat es ganz verstohlen. Als aber sein Blick auf ihre Hände fiel, grinste er noch breiter und warf dann zu ihrem Entsetzen den Kopf zurück und lachte.
Das war ohne Zweifel eine Niederlage. Auf das Lachen hin schaute Simon zurück, und sie mußte so tun, als hätte sie die Hände gehoben, um ihr Haar zurückzustreichen. Da der Versuch, Jonesis Freundschaft zu gewinnen, in diesem Augenblick gefährlich werden konnte, zog sie sich wieder auf ihren Platz hinter ihm in der Reihe zurück.
Das ließ ihr Zeit für eine weitere Überlegung. Wo trug ein nur mit Turnschuhen, Shorts und Kappe bekleideter Mann ein Messer? Mainza hatte Jonesis Hosentaschen durchsucht und offenbar festgestellt, daß er keine Waffe bei sich hatte. Wenn also nicht in seinen Hosentaschen, dann mußte das Messer entweder in dem aufgerollten Pullover, den er um die Taille trug, oder in der Kappe stecken, und sie tippte auf die Kappe. Sie begann alle Möglichkeiten durchzuspielen, um die Kappe zu bekommen, und bemerkte dabei, daß jeder Gedanke an Hunger und Durst verflogen war.
Nachmittags erreichten sie die Fahrstraße. Simon deutete an stehenzubleiben. Nachdem sie sich zu einer Rast niedergelassen hatten, hörte Mrs. Pollifax das unverkennbare Geräusch eines sich nähernden Lastwagens. Er war schnell vorbei. Simon wartete, bis die Gruppe einen Kreis um ihn gebildet hatte. Er ähnelte einem Pfadfinderführer, der sich anschickt, Instruktionen zu erteilen. »Die Straße liegt vor uns«, erklärte er. »Wir überqueren sie immer zu zweit und sehr schnell, verstanden?« Er deutete auf Mrs. Pollifax und bestimmte: »Sie gehen zuerst mit Reuben und Mainza. Dann kommst du, Reuben, zurück und holst diesen Mann. Ich folge mit der andern Frau. Horch, ehe du die Fahrbahn überquerst. Der Wind bläst von Westen.«
Die beiden Männer führten Mrs. Pollifax durch ein paar Baumgruppen hindurch zur Straße, eine zweispurige asphaltierte Fahrbahn, die von Westen nach Osten führte und zur Zeit bedauerlicherweise leer war. Reuben ergriff sie an einem und Mainza am anderen Arm, dann zogen sie sie im Eiltempo hinüber in den Schatten der Bäume auf die andere Seite. Als Reuben zurückkehrte, um die übrigen zu holen, setzte Mrs. Pollifax sich nieder und versuchte, nicht daran zu denken, wie nahe sie dem Friedhof schon gekommen waren. (»Wieviel Zeit bleibt uns noch, ehe wir sie umbringen? Bis Sikota kommt. Wir treffen ihn auf einem alten Friedhof jenseits der Lusaka-Mumbwa-Straße.«) Diese Worte gingen ihr immer wieder durch den Kopf.
Als sie Reuben mit Cyrus auf sich zukommen sah, dachte sie wiederum, was für ein erstaunlicher Mensch Cyrus doch war, und wie tröstlich sein Anblick. Bestimmt war er müde, doch er blieb vollkommen gelassen, ein Mann, der auch mitten in Sambia nicht vergaß, wer und was er war. Und plötzlich wußte sie, daß sie sich.sehr verlassen fühlen würde, wenn sie ihn nie wiedersähe.
»Sogar hier sehen Sie aus wie ein Richter«, sagte sie matt lächelnd.
»Fühle mich sehr unrichterlich im Augenblick«, erwiderte er und hockte sich neben sie. »Ich würde jedem von dieser Bande sechs Monate Einzelhaft geben. Ohne Kaution. Sie gehen zu schnell.«
»Ich finde«, sagte sie, von Dankbarkeit überwältigt, »ich finde es ja sehr selbstsüchtig von mir, aber ich bin so schrecklich froh, daß Sie gekommen sind, Cyrus. Sie sind eben nicht zu übersehen.«
»Hab ich Ihnen ja gesagt.« Seine Stimme klang erfreut.
»Es war so sehr tapfer«, erklärte sie. »Nur, wenn, wenn Sie es mit dem Leben bezahlen müßten... «
»Nicht nötig, soweit im voraus zu denken, meine Liebe«, unterbrach er sie ruhig. »War mein freier Wille, wissen Sie, mußte ja nicht kommen. Viel wichtiger«, fuhr er heiter fort, »ist mir das Abendessen, zu dem ich Sie einzuladen gedenke, wenn wir wieder in Lusaka sind. Das Menü beschäftigt mich seit Stunden.«
Ihr war klar, daß Cyrus nur zu gut wußte, wie nahe sie dem Friedhof waren. »Es muß in seinem Pullover oder in seiner Kappe stecken«, sagte sie leise. »Das Messer meine ich- falls er eins hat.«
»Hmmm«, murmelte Cyrus, »hoffen wir, daß es bis dahin kalt wird.« Er hob die Hände hoch und sah auf seine Uhr. Fast vier Uhr.«
»Oh, lieber Himmel, und in zwei Stunden ist es dunkel?«
»Müssen an die dreißig Kilometer gelaufen sein. Hab' übrigens einen Data-Vogel gesehen. Tat mir leid, daß ich Sie nicht darauf aufmerksam machen konnte.« Er brach ab, weil Simon auf sie zukam. Jonesi trottete neben ihm her, und Amy ging einen Schritt hinter ihm.
»Aufstehen«, sagte Simon, und somit war ihre Unterhaltung zu Ende.
Ungefähr zehn Minuten später stieß Jonesi einen scharfen Laut aus, deutete nach links und plapperte eine Weile in seiner eigenen Sprache, die niemand verstand. Er schien das Gelände jetzt zu erkennen, denn nachdem sie links abgebogen waren, kamen sie auf einen schmalen, hartgetretenen Pfad und bald zu den Überresten mehrerer Hütten.
Und dann waren sie plötzlich auf dem Friedhof.
Im Sonnenschein lag er am Rande einer weiten Savanne, und wenn Jonesi sie nicht geführt hätte, hätten sie ihn wohl kaum gefunden. Er war nicht groß. Vielleicht hatte hier einmal eine Schlacht stattgefunden, vielleicht wurden hier auch die Häuptlinge oder die Medizinmänner des Dorfes begraben, Mrs. Pollifax zählte nur zwölf Gräber. Hier war einmal ein Dorf gewesen, hier hatten
Menschen gelebt und die Gräber gepflegt. Als dann das Land zum Wildpark geworden war, hatte man das Dorf verlegt, aber der Friedhof schien den Einheimischen immer noch etwas zu bedeuten, denn die Pfähle an Kopf- und Fußende der Gräber standen aufrecht, waren unversehrt, und die Scherben der irdenen Töpfe, die bei der Beerdigung zerbrochen worden waren, lagen noch zwischen den Pfählen. Eine schöne Sitte, dachte Mrs. Pollifax, so viel persönlicher als Blumen. Ein Topf gehörte zu den persönlichen Dingen eines Menschen und war jeden Tag gebraucht worden.
Cyrus unterbrach ihre Gedanken. Er stieß sie an, und als sie seinem Blick folgte, sah sie, daß Jonesi den Pullover abnahm. Sie beobachteten, wie er ein trockenes Blatt von ihm entfernte, ihn glatt strich und dann über den Kopf zog. Da kein Messer zum Vorschein gekommen war, blieb nur noch die Kappe.
»Wir warten jetzt auf Sikota, er kommt in der nächsten Stunde«, erklärte Simon und zu Mrs. Pollifax gewandt, fügte er mit leisem Triumph in der Stimme hinzu: »Sikota hat noch niemand Widerstand geleistet. Er kennt vielerlei Tricks, das verspreche ich Ihnen.« Dann forderte er die Gruppe auf: »Sie können jetzt wieder die >Toilette< aufsuchen.«
»Bitte«, sagte Amy, sprang auf und folgte Simon ins Gebüsch.
Als die beiden außer Sicht waren, schaute Mrs. Pollifax auf den am Boden sitzenden Jonesi hinunter und dann auf Cyrus, der seinen Platz neben ihm hatte. Nicht weit entfernt von ihnen saßen Mainza und Reuben, in ein ernstes Gespräch vertieft. Ihre Gewehre lagen daneben. Mrs. Pollifax dachte: die Kappe. Sie sah Cyrus an. »Jetzt oder nie«, sagte sie laut zu ihm.
»Wie?« fragte Cyrus verwirrt.
Sie trat hinter Jonesi und tat, als stolperte sie und im Fallen schob sie seine Kappe vom Kopf. Diese fiel zu Boden und zugleich ein schwerer Gegenstand.
Es war sein blutbeflecktes Taschenmesser und sowohl Jonesi als auch Cyrus griffen gleichzeitig danach. »Hoffe, Sie haben nichts dagegen«, sagte Cyrus höflich und nahm es an sich. »Handelt sich nur um ein paar kleine Fesseln. Emily?«
Sie setzte sich neben den Wilderer und hielt Cyrus ihre gefesselten Hände entgegen. Mit seinen eigenen zusammengebundenen Händen kam er nur langsam voran, aber schließlich fielen ihre Fesseln herunter, und sie streckte die Hände mit einem Gefühl der Erleichterung aus. Dann befreite sie Cyrus' Hände.
»Natürlich werden sie die fehlenden Fesseln bemerken, wenn sie aus dem Wald kommen«, murmelte Mrs. Pollifax.
»Jonesi deckt uns wunderbar, aber ich wollte, er hörte auf zu grinsen«, klagte Cyrus. »Was soll ich machen, meine Liebe? Mich auf Simon stürzen?«
»Oh nein«, sagte Mrs. Pollifax schwer atmend. »Schaffen Sie nur Amy irgendwie aus dem Wege. Oh, liebe Zeit, da kommen sie schon. Cyrus... viel Glück oder lebe wohl, ich weiß nicht, was, aber... «
»Ruhe bewahren«, sagte er ernst, stand auf und hielt seine Handgelenke zusammen, als wären sie noch gefesselt. Auch Mrs. Pollifax erhob sich und stellte sich mit wild klopfendem Herzen unter den Baum.
»Wer geht als nächster?« fragte Amy und trat, gefolgt von Simon, auf Cyrus zu. Sie lächelte zu ihm auf.
In Sekundenschnelle ergriff Cyrus sie und benutzte Amy als Deckung. »Nun Simon?« sagte er.
Als Simons Blick auf Cyrus' Handgelenke fiel, hob er sein Gewehr. Aber ehe er es in Anschlag bringen konnte, trat Mrs. Pollifax vor und versetzte Simon ihren bislang besten Handkantenschlag gegen die Halsschlagader. Ein Ausdruck äußerster Verwunderung glitt über Simons Gesicht, das Gewehr entfiel ihm, und er sank zu Boden.
»Nicht zu glauben«, sagte Cyrus.
»Mein Gott, was haben Sie im Sinn?« fragte Amy. Sie schaute zu Reuben und Mainza hinüber, die von alledem nichts bemerkt hatten, und begann zu schreien. Mrs. Pollifax schnappte sich Simons Gewehr und rief Reuben und Mainza zu: »Keine Bewegung, oder ich schieße!«
Starr blickten die beiden Männer am Rand der Lichtung sie an, zu verblüfft, um sich zu regen. Amy schrie, aber Cyrus lockerte seinen Griff nicht und ging langsam mit ihr auf die beiden Männer zu. Mrs. Pollifax folgte mit dem Gewehr, und Jonesi tanzte lachend neben ihr her.
»Komme mir vor wie Mr. Muskelmann persönlich«, knurrte Cyrus.
»Die beiden hätten mich erschießen können!« rief Amy.
»Oh, seien Sie doch still«, sagte Mrs. Pollifax ärgerlich. »Sie wissen ganz genau, daß die Sie niemals erschossen hätten, Amy. Ich weiß es jedenfalls seit letzter Nacht, als Sie dachten, ich schliefe.«
»Oh«, sagte Amy, schnappte nach Luft und brach dann in eine Flut von Verwünschungen aus, die, wie Mrs. Pollifax feststellen mußte, einen ganz erheblichen Mangel an Fantasie verrieten.
»Amys Hände sind noch gebunden«, sagte Cyrus, »aber wir brauchen Fesseln für Reuben und Mainza.« Er blickte zu ihnen hinüber und rief laut: »Jonesi, sei vorsichtig mit dem Gewehr.« Jonesi hatte Mainzas Gewehr aufgehoben und wiegte es liebevoll in den Armen. Jetzt trat er zurück und setzte sich, das Gewehr auf den Knien, mit herausfordernder Miene hin.
»Lassen Sie ihn ein paar Minuten damit spielen - wir können es später holen«, sagte Mrs. Pollifax zu Cyrus. »Die Fesseln sind wichtiger.«
Sie knoteten die Stricke ihrer ehemaligen Fesseln zusammen und banden Reuben und Mainzas Handgelenke. Danach trat Cyrus zurück und sagte mit vergnügter Stimme: »In Ordnung. Was jetzt, meine Liebe?«
Mrs. Pollifax sah ihn entsetzt an. Seine Frage verwirrte sie. Sie hatte vergessen, daß Sikota jeden Augenblick auftauchen mußte, daß sie sich im Busch verirrt hatten und daß es bald dunkel würde. »Was jetzt?« stammelte sie.
»Diese Frage kann ich Ihnen beantworten, Madam«, sagte eine Stimme hinter ihnen. »Werfen Sie die Gewehre weg, und heben Sie die Hände.«
Sie fuhren herum. »Jonesi?« sagte Mrs. Pollifax entgeistert.
»Ja, Madam.« Jonesis Englisch war einwandfrei. »Sie waren mir sehr behilflich. Herzlichen Dank.« Er holte einen kleinen Gegenstand aus der Tasche und setzte ihn an die Lippen. Ein durchdringender Pfiff, und aus einem ein paar hundert Meter entfernten Wäldchen kamen mehrere bewaffnete Männer gelaufen.
»Polizei?« fragte Mrs. Pollifax atemlos.
»Nein, Madam«, sagte Jonesi und schien über ihre Frage belustigt. »Die Polizei ist weit weg, weit weg. Sie sind jetzt unsere Gefangenen.«
»O nein«, protestierte Mrs. Pollifax. »Ich dachte, ich hoffte...«
»Dies«, sagte Cyrus und blinzelte, »ist genau so, wie wenn jemand von einem Hai verschluckt wird, der dann wiederum von einem Wal verschluckt wird, der dann... Was ist los, meine Liebe?«
»Ich bin nicht sicher«, flüsterte Mrs. Pollifax und starrte zu den Männern hinüber, die aus dem Dunkel aufgetaucht waren und sie jetzt umkreisten. Einer von ihnen erregte ihre Aufmerksamkeit. Er war größer als die anderen, trug Khakishorts, Wickelgamaschen, einen dicken Pullover und einen Kavalleriehut aus Filz, der sein Gesicht beschattete. Etwas an seiner Art, sich zu bewegen... Jetzt kam er auf sie zu, das Gewehr über der Schulter, er blieb bei Amy Lovecraft stehen, betrachtete sie lange mit hartem Blick und ging dann weiter zu Jonesi.
Innerlich begann Mrs. Pollifax zu lächeln, und ganz langsam breitete sich das Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Dann sah der Mann sie an. Er blieb wie angewurzelt stehen. »Mein Gott, ich sehe Gespenster«, rief er.
»Durchaus nicht«, erwiderte sie, während ihre Augen sich mit Tränen füllten.
»Aber... Herzogin?« fragte er ungläubig. »Emily Pollifax aus New Brunswick, New Jersey? Hier?«
Er begann zu lachen. »Ich kann's nicht glauben, Herzogin, was um Himmels willen haben Sie mitten in Afrika mit dieser Bande von Halsabschneidern zu schaffen? Oder, um es deutlicher auszudrücken«, sagte er, während er sie samt Gewehr stürmisch umarmte, »was zum Teufel haben Sie jetzt wieder vor, Herzogin?«