11

Sie hatte keine Ahnung, was Cyrus hinter dem Landrover getan haben mochte. Noch kroch er auf Händen und Knien, als er aber die ihr zugewandte Seite des Landrovers erreicht hatte, stand er langsam auf und kam auf Zehenspitzen lautlos auf sie zu. Erst nachdem er sich auf seinen Schlafsack gesetzt hatte, rührte sie sich, und sogleich fuhr Reuben zusammen, öffnete die Augen und griff nach seinem Gewehr.

»Fühlen Sie sich jetzt besser?« fragte Cyrus ausdruckslos.

»Viel besser«, antwortete sie höflich.

Jetzt regten sich auch die ändern, setzten sich auf, streckten sich und gähnten. Alle Gesichter waren frei von Spannung und Feindseligkeit, so daß sie für den Augenblick eine PicknickGesellschaft hätten sein können, die von einem Mittagsschläfchen im Busch erwacht war.

Amy Lovecraft setzte sich auf und strich ihr zerzaustes Haar zurück. »Ach, ein Bad müßte herrlich sein«, sagte sie. Aber das einzige Wasser, das sie an diesem Morgen zu sehen bekommen sollten, wurde ihnen von Reuben in einem wasserdichten Segeltuchsack gebracht. Sie tranken reihum daraus und aßen ein paar geschälte Erdnüsse, die er ihnen gab. Mrs. Pollifax versuchte, jede Nuß ganz gründlich zu kauen. Wer weiß, wann sie wieder etwas zu essen bekämen. Wenn heute Donnerstag war, fiel ihr plötzlich ein, so war es Zeit für eine weitere Malariatablette. Dann kam es ihr aber doch etwas lächerlich vor, sich wegen Malaria Gedanken zu machen, da sie vielleicht den heutigen Tag nicht überleben würde. Und genau so lächerlich war es wohl, sich über Aristoteles Gedanken zu machen.... Cyrus war auffallend schweigsam. Er sah begreiflicherweise müde aus, weil er vermutlich überhaupt nicht geschlafen hatte. Warum war er nur hinter den Landrover gekrochen? Sie drehte sich nach Amy um, und nicht zum erstenmal fragte sie sich, welche Rolle Amy wohl bei dieser Entführung spielte. Konnte Amy Aristoteles sein? Es gab genügend Fälle, wo Frauen als Mörderinnen entlarvt worden waren. Aber Aristoteles, das spürte sie, war jemand anderer. Bishop hatte ihn als einen Profi und als käuflichen Mörder geschildert, der keinem Land verbunden war. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, daß er mit Entführungen arbeitete. Außerdem kannte Amy diese Männer, und Aristoteles handelte immer allein. Simon unterbrach ihre Gedanken. »Los!« rief er. Wieder einmal wurden sie zum Landrover getrieben und lose auf ihren Sitzen angebunden. Im warmen Morgenlicht brachen sie auf, und Mrs. Pollifax fiel auf, daß sie jetzt die offene Savanne mieden. Also erwarteten sie einen Suchtrupp. Beim Überqueren einer Lichtung schreckten sie eine Zebraherde auf, die reglos in der Sonne stand. Die Tiere ergriffen sofort die Flucht. Plötzlich schlingerte der Wagen seitwärts und hielt.

»Reifenpanne«, sagte Simon.

Sie stiegen aus und setzten sich auf den Boden. Mainza wechselte den Reifen. Sonderbar war, daß der neue Reifen kurz darauf ebenfalls die Luft verlor. Mrs. Pollifax dachte nach und zog ihre Schlüsse. Sie betrachtete Cyrus mit neuem Interesse. Er wirkte außergewöhnlich schläfrig und wich ihren Blicken aus. Sie lächelte in sich hinein. Cyrus begann sich wirklich als sehr nützlich zu erweisen. Simon, Reuben und Mainza standen vor einem Rätsel. Sie begannen sich gegenseitig zu beschuldigen, untersuchten die beiden Reifen und gestikulierten. Sie stellten fest, daß beide Reifen die Ventilkappen verloren hatten. Aber konnte dadurch soviel Luft entweichen? Mehrere mißtrauische Blicke trafen Mrs. Pollifax und Cyrus. Da sich aber keiner der Männer erinnern konnte, sie einen Augenblick unbewacht gelassen zu haben, so beschuldigte man sie auch nicht irgendeiner Tat.

»In den Wagen«, kommandierte Simon schließlich mit säuerlicher Stimme.

Sie stiegen ein und holperten auf luftleeren Reifen mehrere hundert Meter weiter dahin. Doch schon nach kurzer Zeit war der Wagen nicht mehr lenkbar. Simon brachte ihn zum Stehen. »Wir müssen zu Fuß!« sagte er erbittert.

»Tut mir leid«, flüsterte Cyrus, als er ihr aus dem Wagen half.

Sie warf ihm einen bewundernden Blick zu. »Sie erweisen sich wirklich als Sand im Getriebe.«

»Sie haben's bemerkt? Hat mir geholfen, meiner schlechten Laune ein bißchen Luft zu machen.«

»Machen Sie ihr noch mehr Luft«, sagte sie eindringlich, worauf Simon ihr befahl, still zu sein und ihren Platz in der Reihe einzunehmen.

Mit Simon an der Spitze begannen sie ihren Marsch. Das Gelände war eben und mit Gruppen von hohen Dornbüschen durchsetzt, recht geeignet für Wanderungen. Wogegen Mrs. Pollifax etwas einzuwenden hatte, war das aufgezwungene Schweigen. Simon hatte ihr befohlen, direkt hinter ihm zu gehen, darum folgte Mainza dann Amy und Cyrus. Reuben bildete das Schlußlicht. Es war so still, daß sie hören konnte, wie Mainzas Gewehr bei jedem Schritt gegen seine Hüfte schlug. Manchmal knackten Zweige unter ihren Füßen. Als die Sonne höher stieg, fühlte Mrs. Pollifax immer stärker, wie hungrig sie war. Und die Sonne übte eine sonderbare Wirkung auf sie aus. Ihr Kopf fühlte sich ganz leicht an, ob vom Hunger oder von der Sonne, das wußte sie nicht, und im Augenblick war es ihr auch egal. Quälender Durst befiel sie, und nachdem sie unendlich lange gewandert waren, spürte sie, daß sich an ihrer rechten Ferse auch noch eine Blase zu bilden begann. Tse-Tse-Fliegen umschwärmten sie, und mit ihren gefesselten Händen konnte sie sie nur schwach abwehren. Aber Simon machte keine Anstalten, eine Ruhepause einzulegen, und sie fühlte nicht einmal genügend Energie in sich, sich zu beklagen. Schläfrig trottete sie dahin.

»Pause«, sagte Simon plötzlich, und sie ließen sich unter einem Baum auf den Boden fallen, zu müde, um zu reden. Mainza holte den Segeltuchsack herbei und ließ jeden ein paar Schluck Wasser nehmen.

»Hoffentlich abgekocht«, sagte Cyrus.

Bei dieser Bemerkung rümpfte Amy die Nase. »Hier kann auch abgekochtes Wasser Magenverstimmung hervorrufen. Wenn Sie ihnen nur erzählen würden, was sie wissen wollen«, fuhr sie Mrs. Pollifax an, »dann könnten wir schon wieder bei der Safari sein, statt... statt hier!«

Da sie sich besser fühlte, blieb Mrs. Pollifax ihr die Antwort nicht schuldig. »Unsinn! Ich glaube nicht, daß sie uns laufen ließen, was immer ich ihnen auch sagen würde, denn wir können sie ja jetzt identifizieren. Und warum sollten sie das riskieren?«

Amy kam näher und sagte mit gesenkter Stimme: »Ich habe versucht, mich mit Simon anzufreunden, vielleicht haben Sie es bemerkt.«

»Nein«, erwiderte Mrs. Pollifax.

»Jedenfalls ist es so, und ich denke«, sie lächelte ein bißchen zaghaft, »ich denke, daß sie mich nicht umbringen würden. Es wäre möglich, daß ich die Männer so ablenken könnte, daß Sie und Cyrus entwischen könnten. Nicht jetzt, aber später.«

Auf der Flucht erschossen, dachte Mrs. Pollifax. Für den Bruchteil eines Augenblicks sah sie Cyrus an, der zuhörte, dann wandte sie sich wieder an Amy und sagte mit entsetzter Stimme: »Oh, das halte ich nicht für ratsam. Und Sie? Ich vermute, Sie denken an eine Flucht. Daran liegt mir nicht und Ihnen Cyrus?«

»Nein«, gab er unumwunden zu. »Zu anstrengend. Außerdem sind ja unsere Hände gefesselt.«

»Meine auch«, sagte Amy, »aber ich könnte Simon vielleicht überreden, unsere Fesseln zu lösen.«

Darauf ginge ich jede Wette ein, dachte Mrs. Pollifax. »Nun ja, es wäre wunderbar, unsere Hände frei zu haben«, sagte sie ernst. »Das Gehen mit gefesselten Händen ist so mühsam, aber fliehen...« Sie schauderte. »Ich weiß nicht, aber der Gedanke erfüllt mich mit Entsetzen.« Sie bemerkte, daß Cyrus sie mit einem fragenden Stirnrunzeln ansah, und sie überlegte, warum er sie plötzlich so mißtrauisch betrachtete. »Aber wenn Sie bei ihm erreichen könnten, daß er unsere Fesseln löst«, fügte sie sehnsüchtig hinzu.

»Ja«, sagte Amy, »aber Sie müssen einfach an Flucht denken, wenn die Gelegenheit sich bietet. Sie müssen entschlossener sein.«

»Ja«, seufzte Mrs. Pollifax.

Einen Moment später, als Simon zum Aufbruch rief, erfuhr sie den Grund für Cyrus' seltsamen Gesichtsausdruck. Als er ihr auf die Füße half, sagte er: »Beginne mich zu fragen, ob Sie nicht wirklich Dias zeigen.«

»Dias!« fragte sie entgeistert. »Cyrus, was in aller Welt...?«

»Dieselbe Stimme«, sagte er. »Beide Male. War mir nicht klar über die Dias.«

Erstaunt starrte sie ihn an. »O Dias«, erwiderte sie, und sie bewunderte sein Gedächtnis.

In seiner fürsorglichen Art riet er ihr: »Versuchen Sie, Ihre Buschjacke um den Kopf zu wickeln. Nicht umsonst haben sie hier in Afrika Korkhelme getragen. Sehr intensive Sonne...« Er machte ihr um die Taille geknotetes Jackett los, und da sie es mit ihren gebundenen Händen nicht um den Kopf schlingen konnte, legte sie es lose über den Kopf. Dann eilte sie nach vorn, um Simons Befehl nachzukommen.

Und weiter ging die Wanderung. Immer wieder von Pausen unterbrochen. Sie war schon ganz vertraut mit dem afrikanischen Boden. Er war von einem kräftigen Rostbraun und hatte die grobkörnige Struktur eines Ameisenhügels. Und obwohl die Regenzeit erst kürzlich zu Ende gegangen war, schien er trocken, sehr trocken zu sein. Sie war glücklich, wenn sie auf ihm ausrasten konnte. Das Laufen auf der Erde war möglich, doch auf Schlangen mußte sie achten. So ging sie mit gesenktem Kopf, und das ermüdete sehr. Unentwegt stachen die Tse-Tse-Fliegen. Und wenn sie Pause machten, reichte der kümmerliche Schluck Wasser nicht mehr aus. Bei jedem Halt studierte Simon stirnrunzelnd Kompaß und Karte. Und dann wurde weitergegangen. Nur zweimal wurde die Eintönigkeit unterbrochen: einmal durch eine Herde Schwarzfersenantilopen, die in panischem Schrecken ihren Weg kreuzten, und einmal durch den Anblick eines toten Büffels, von dem nur noch das nackte Gerippe übriggeblieben war.

»Hat Löwe getötet«, sagte Reuben aus dem Hintergrund.

Einige Zeit danach bemerkte Mrs. Pollifax, daß Simon stehengeblieben war. Sie war hinter ihm her gestolpert, und als sie aufblickte, sah sie, daß Mainza aus der Reihe getreten war, Simon am Arm gepackt hatte und nach rückwärts deutete. »Etwas ist hinter uns her«, sagte er leise.

»Ich sehe nichts. Mensch oder Tier?«

Mainza zuckte die Achseln. »Es bewegt sich, wenn wir gehen, es steht still, wenn wir rasten. Soll ich zu dem Ameisenhaufen da vorn gehen und im Kreis zurück?«

»Mach das. Sei vorsichtig. Wir warten. Wir rasten hinter dem Hügel.«

Das Wort >rasten< war das einzige, was Mrs. Pollifax wichtig war. Und sie folgte Simon eifrig. Mainza verschwand bald hinter dem Hügel, und als die Gruppe ebenfalls dort ankam, hieß Simon sie dahinter stehenbleiben. »Hinsetzen«, befahl er, »aber nicht darauf, es ist ein Ameisenbau.«

Dankbar sank Mrs. Pollifax zu Boden. Sie konzentrierte sich auf die Rast. Ihre Schultern schmerzten, die Füße taten ihr weh, und ihre Augen fühlten sich an wie gequetschte Tomaten. Sie konnte kaum denken. Sie fühlte sich außerstande, sich zusammenzureißen. So ungefähr mußte es sein, wenn ein Mensch im Schnee einschläft, er bemerkt es und es macht ihm nichts aus. Bestimmt gab es keine ausreichende Rast mehr, bevor sie den Friedhof erreichten. Sollten sie dort ankommen, so konnte aus der ersehnten Ruhe leicht eine Ewige Ruhe werden. Aber auch dieser Gedanke half nicht. Ob sie vielleicht einen Sonnenstich hatte? Sie sah Simon und Reuben plötzlich ihre Gewehre heben, brachte aber nur ein mäßiges Interesse auf, als ein Mann, ohne die Gruppe zu bemerken, an ihnen vorbei trottete. Sie war dankbar, daß es kein Löwe war, aber in ihrer außergewöhnlichen Verfassung fand sie nichts dabei, hier einem Mann zu begegnen. Außerdem schien er hierher zu gehören, und sein Anblick war wenig anziehend. Es war ein Einheimischer in zerrissenen, am Knie abgeschnittenen schwarzen Hosen, zerlumpten Turnschuhen und einer leuchtendgrün und schwarz karierten Wollkappe, die ihm ein lächerliches Aussehen verlieh. Auf dem Rücken trug er einen in blutiges Zeitungspapier eingeschlagen Gegenstand, der offensichtlich schwer war und den eine Menge Fliegen umkreisten. Der Mann bemerkte sie erst, als Simon mit dem Gewehr vortrat. Er schien aber eher erstaunt als erschrocken. Er sah Simon mit einem unsicheren, aber strahlenden Lächeln an und starrte dann hingerissen auf die Waffe, die er offenbar erstaunlicher fand als den Anblick von fünf Menschen, die hinter einem Ameisenhügel hockten.

Mainza kam herbei, durchsuchte die Taschen des Mannes und roch an dem Bündel.

»Jonesi«, sagte der junge Mann strahlend und deutete auf sich selbst. »Jonesi. Guten Abend.«

»Guten Abend« erwiesen sich indessen als die einzigen Worte, die er außer seinem Eingeborenendialekt konnte. Man versuchte es mit Nyanja bei ihm, mit Luvale und Bemba, aber alles führte nur zu begeistertem Nicken und den Worten: »Jonesi. Guten Abend.«

»Hat wohl nicht alle Tassen im Schrank«, vermutete Cyrus trocken.

Mainza schlug eine Ecke des blutigen Bündels zurück und sagte anklagend: »Gewildert hat er, Simon. Er ist ein Wilderer und heiß Jonesi. Aber was machen wir mit ihm?«

»Mir gefällt er nicht«, sagte Amy kalt.

Simon blickte flüchtig zu ihr hinüber und sagte zu Reuben: »Er könnte uns den Friedhof finden helfen.«

»Ah«, sagte Mrs. Pollifax und wurde hellwach, »Sie wissen nicht, wo der Friedhof liegt?«

»Natürlich wissen wir das«, fuhr Simon sie an. »Nur diesen Weg sind wir bisher noch nie gegangen.«

»Dann haben Sie sich also verlaufen?« fragte Amy höhnisch. »Wie aufmerksam, daß Sie uns das wissen lassen, Simon.«

»Kann mir nicht vorstellen, wie dieser Jonesi uns helfen soll, wenn Sie sich nicht einmal mit ihm verständigen können«, meinte Cyrus.

Mainza war es gelungen, die Aufmerksamkeit des Wilderers auf sich zu lenken; es setzte sich mit gekreuzten Beinen auf den Boden, begann mit einem Stock die Erde umzuwühlen und warf ein halbes Dutzend kleiner Erdhaufen auf. Er steckte einen Zweig in den einen, legte einen Knopf auf den anderen und ein Stoffetzchen auf einen dritten. Der Wilderer hockte neben ihm und sah zu. Plötzlich nickte er und sprudelte Worte hervor und deutete in südlicher Richtung. Dann nahm er den Stock und zeichnete den Umriß eines Tieres. Nach weiterer Zeichensprache sagte Mainza: »Er kennt den Friedhof. Er will uns hinbringen, wenn wir nichts von seiner Wilderei berichten. Er hat Antilopenfleisch in seinem Bündel.«

Bei diesen Worten kam Mrs. Pollifax ein Gedanke, den sie verfolgte, Schritt für Schritt vorgehend: Fleisch, Wildern... Aber natürlich, dachte sie, und ihr schwindelte: die Antilope war zerlegt worden, und wenn sie zerlegt worden war, dann mußte das Fleisch von den Knochen gelöst worden sein mit einem Messer.

Ihre Müdigkeit fiel von ihr ab wie ein alter Mantel, der schon zum Verschenken bestimmt war. Hoffnung, das war es, was ihr gefehlt hatte, und jetzt begann sie in ihren Adern zu kreisen wie Adrenalin. Ein Messer. Mit einem Messer konnten sie sich verteidigen und fliehen. Ein Messer würde ihre Hände befreien, und mit einem Messer waren sie ihren Gegnern nicht mehr hilflos ausgeliefert.

»Sie sehen aus«, sagte Cyrus, als sie aufgestanden waren, um weiterzugehen, »wie jemand, der soeben den Heiligen Gral gefunden hat.«

Sie lächelte ihn an, und in dem kurzen Augenblick, bevor Simon sie trennte, flüsterte sie ihm zu: »Cyrus... der Wilderer muß ein Messer bei sich haben.«

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