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Es war gerade erst acht Uhr morgens, als der Telefonanruf aus Algier kam, aber Carstairs saß schon an seinem Schreibtisch im Hauptquartier des CIA in Langley, Virginia. Mit der linken Hand setzte er ein Tonbandgerät in Gang, mit der rechten klingelte er nach seinem Assistenten, während er mit zusammengekniffenen Augen lauschte. An einer Stelle unterbrach er. »Würden Sie das bitte wiederholen?«

Er kritzelte ein paar Worte auf ein Blatt Papier. Als Bishop ins Büro gestürzt kam, war das Gespräch gerade zu Ende.

»Verzeihung«, sagte Bishop atemlos. »Ich war im Waschraum, Sir. Hab' ich etwas versäumt?«

»Es ist Ihr gutes Recht, in den Waschraum zu gehen«, erwiderte Carstairs vorwurfsvoll, »aber Sie haben einen wichtigen Anruf aus Algier verpaßt. Vielleicht - ich sage vielleicht -ist soeben das allererste Flüstern von einer Aufklärung in der Aristoteles-Affäre an unser Ohr gedrungen.«

Ungläubig starrte Bishop ihn an. »Nach so vielen Monaten?««

»Möglich wäre es. Erinnern Sie sich an den Stoffladen in Algier, den die Abteilung Davis überwachen ließ? Die Sache mit den gestohlenen Banknoten, Sie wissen doch... Also Bennet hatte ein paar Telegramme fotografiert, die über Nacht auf einem Schreibtisch liegengeblieben waren, und kam zu dem Schluß, daß eines davon uns sehr interessieren würde. Heller Bursche, dieser Bennet. Die Telegramme waren in französisch und arabisch abgefaßt, und er ist gerade erst mit der Übersetzung fertiggeworden.« Carstairs begann das Band abzuspielen. »Hören Sie«, sagte er und machte Bishop ein Zeichen, mitzustenografieren.

Beide lauschten aufmerksam Bennets nasaler Stimme: »Die Originalmitteilung lautet folgendermaßen: >Bestätigen Bestellung von siebzig Meter schwarzer Aristotelesseide für Sambia, drei Ballen Baumwolle zum Kafue-Nationalpark, zwei Ballen Chunga-Musselin, zehn Meter Chintz-Muster, Fünf-Tage-Safari, Liefertermin neunten Juni wiederholen und bestätigen Auftrag. Chabo.<« Carstairs stellte das Tonbandgerät ab.

»Schön«, sagte Bishop verdutzt. »Kommt noch was?«

»Ja, wenn Sie das aufgeschrieben haben.« Carstairs drückte abermals den Knopf, und die Stimme begann von neuem.

»Wenn man die Füllwörter aus der Stoffbestellung entfernt und die übliche Dechiffriertechnik anwendet, lautet die Mitteilung: >Bestätigen Aristoteles für Sambia, Kafue-Nationalpark, Chunga Fünf-Tage-Safari am neunten Juni wiederholen und bestätigen Auftrag. Chabo.<«

»Sehr schön«, sagte Bishop gefühlvoll.

»Geht mir auch zu Herzen«, meinte Carstairs.

»Aristoteles.« Bishop wiegte sinnend den Kopf. »Ich hatte wirklich schon angefangen, den Mann für unsichtbar zu halten, wissen Sie. Diese Morde, und nie hat ihn jemand in der Menge gesehen oder eine Beschreibung geliefert. Wie macht er das nur?«

»Wir haben vier Monate gebraucht, um lediglich zu erfahren, daß er einen Decknamen hat, und er ist immer noch der gesichtslose, namenlose Mr. X.«

»Er mag ja im Ruf stehen, unsichtbar zu sein«, sagte Carstairs, »aber ein Geist ist er nicht, verdammt nochmal.« Er holte aus seiner Schreibtischschublade einen Atlas und einen Stapel Landkarten und begann zu blättern. »Schließlich mußte ja mal jemand durch uns zugängliche Kanäle auf ihn aufmerksam machen, und es ist nicht ausgeschlossen, daß endlich, endlich...« Er schob den Atlas beiseite und begann die Karten durchzusehen. »Hier haben wir's«, sagte er plötzlich. »Sehen Sie sich das an. Eine detaillierte Karte vom südlichen Zentralafrika.«

Beide Männer beugten sich über die Karte von Sambia, und Carstairs deutete auf einen bestimmten Punkt. »Hier ist der Kafue-Nationalpark, 22400 Quadratkilometer groß. Beachten Sie die Namen der Safaridörfer.«

Bishop las vor: »Ngoma, Moshi, Kafwala und Chunga.« Er warf einen Blick auf Bennets Text. »Zum Kafue-Park Chunga.« Er nickte. »Safaridorf Chunga heißt das also. Muß schon sagen, es ist ein besonderer Tag, wenn uns etwas so sauber in den Schoß fällt.«

»Noch hat es das nicht getan«, bremste Carstairs ihn, »aber die Möglichkeit besteht.« Er lehnte sich zurück und sagte nachdenklich: »Ein paar Dinge wissen wir über unseren geheimnisvollen Aristoteles. Vor allem, daß er für Geld alle Aufträge ausführt und sich dem verdingt, der den höchsten Preis bietet. Denken Sie an seine Opfer: Malaga war ein liberaler Politiker in Costa Rica, und Messague in Frankreich war Kommunist. Dann war da dieser Brite, Hastings, der in Irland mit seinen Verhandlungen erste Erfolge hatte, als er ermordet wurde, und der Oberst in Peru, der eine absolut unabhängige Politik betrieb. Und dann natürlich unser Agent Pete«, sein Gesicht wurde hart. »Unsere Agenten mögen heutzutage Freiwild sein, aber kein Mensch verdient erschossen zu werden, wenn er mit seiner Braut am Arm aus der Kirche kommt.«

»Richtig, Sir«, sagte Bishop. »Dennoch.«

»Stört Sie da etwas?«

»Sehr sogar«, sagte Bishop stirnrunzelnd. »Die Safari! Was soll ein Mörder auf einer Safari?«

»Wir wissen ferner«, fuhr Carstairs fort und schien Bishops Einwand zu überhören, »daß Aristoteles einen unwahrscheinlichen Instinkt hat, wenn es ums Überleben geht, und dass er ein ausgemachter Einzelgänger ist, sonst hätte längst schon jemand den Mund aufgemacht. Sagen Sie, Bishop«, er deutete mit dem Bleistift auf seinen Assistenten, »wenn Sie Aristoteles wären, wie würden Sie Ihre Geschäfte abschließen? Wie würden Sie mit Ihrem nächsten Auftraggeber in Verbindung treten?«

»Wie würde ich«, Bishop überlegte eine Weile schweigend. »Russisches Teehaus? Türkisches Bad? Eine Seilbahn in den Schweizer Alpen? Ich weiß, worauf Sie hinauswollen, Sir. Heikel ist das. Sehr heikel und ein womöglich riskanteres Unternehmen, als die Politiker dann wirklich zu erschießen.«

»Richtig. Genau das ist es, was mich sehr ermutigt. Verdammt gescheite Idee, eine Safari zu wählen, eine Safari ist wie gemacht für ein Rendezvous. Er bekommt Gelegenheit, seinen möglichen Auftraggeber in Augenschein zu nehmen, ehe er sich selbst zu erkennen gibt. Und die Safari verschafft ihm massenhaft Zeit, um die Bedingungen auszuhandeln. Und wo gäbe es eine bessere Tarnung als in einer kleinen Gruppe, die durch den einsamen Busch zieht. Der Mann hat entschieden Sinn fürs Künstlerische.«

»Sie malen ja fast sein Porträt.«

»Muß man«, erklärte Carstairs, »und dann hineinkriechen und erraten, was er als nächstes vorhat, und dann haben Sie Ihren Mann so gut wie sicher, Bishop.«

»Arbeiten wir mit Interpol zusammen?«

»Nein, auf keinen Fall. Zuerst schicken wir einen von unseren eigenen Leuten auf die Safari. Wenn wir diesen Aristoteles identifizieren können, erfahren, wie er aussieht, herausfinden, woher er kommt...«

»Nicht festnehmen?« Bishop war erstaunt.

Carstairs sah ihn belustigt an. »Mein lieber Bishop, sollen wir denn die Republik Sambia freundlichst ersuchen, auf der Safari vom nächsten Montag jedermann zu verhaften? Und was sollen wir als Grund angeben? Nein, nein, das schreit doch nach einer richtig altmodischen Beweissammlung, und unterschätzen Sie das nicht.«

»Habe ich nie getan, Sir«, sagte Bishop bescheiden.

»Tatsächlich, wenn Sie die Weltbevölkerung in diesem Augenblick betrachten«, erklärte Carstairs, »dann verstehen Sie, in welchem Maße es den Kreis der Verdächtigen einengt, wenn Aristoteles nächsten Montag im Kafue-Park auftaucht, und wir von jedem einzelnen Safariteilnehmer Fotos machen. Statt nach einer Nadel im Heuhaufen zu suchen, haben wir Fotos von vielleicht einem Dutzend Leuten, die sieben und durchleuchten wir. Bei unsichtbaren Menschen wirkt Belichtung Wunder. Und den Rest kann Interpol dann übernehmen. Der wievielte ist heute?«

»Der erste Juni.«

Carstairs nickte. »Aha. Dann bleibt uns kaum Zeit, den richtigen Agenten zu finden und ihn vor dem neunten nach drüben zu schicken. Fragen Sie den Computer, Bishop, ja? Wir wollen die Möglichkeiten durchgehen.«

»Dauert nur eine Minute, Sir.« Bishop ging in das kleine Nebenzimmer, wo die Maschine stand, die sie das Wundertier nannten. Er drückte Meisterliste, gab als Daten Afrika, Sambia und Touristen ein, spielte mit allerlei Knöpfen und rief seinen

Vorgesetzten. »Hier haben Sie die Listen, Sir, von A bis Z.«

»Erinnert mich immer an ein Orchestrion«, brummte Carstairs, als er auf den Bildschirm mit seinen Myriaden blitzender Lichter starrte, und dann sagte er: »John Sebastian Farrell! Was zum Teufel hat der auf dieser Liste zu suchen, wenn er seit drei Jahren nicht mehr für uns gearbeitet hat?«

Bishop, dessen Gedächtnis es mit jedem Computer aufnehmen konnte, sagte: »Moment mal... Na ja, es ist zwar nur eine Vermutung, Sir, aber - in seinem Kündigungsschreiben, das - wenn ich mich recht erinnere, auf ein Stück Einwickelpapier gekritzelt war - hat er geschrieben, er wäre ab nach Afrika, um seine Seele zu retten, oder so was Ähnliches, und wir könnten alles Geld, das er von uns zu bekommen hätte, auf Barclays Bank in Lusaka überweisen.«

Carstairs runzelte die Stirn. »Schrieb irgend etwas von reinerer Luft und reinerem Leben, war's nicht so? Aber das erklärt noch nicht, was er auf der Agentenliste des Computers zu suchen hat.«

»Ein Irrtum, nehme ich an.« Bishop ging zum Telefon, wählte und rasselte Fragen herunter. Mit zufriedener Miene legte er nach einer Weile auf. »Hab' die Buchhaltung angerufen, Sir. Sie sagen, sie überweisen Farrells Rente per Scheck nach Sambia, und das wird der Computer aufgefangen haben. Tut ihnen sehr leid, und sein Name wird sofort entfernt werden.«

»Er ist also noch dort? Die Schecks werden eingelöst?«

»Sagen sie.«

»Ich kenne Farrell aus unserer gemeinsamen Zeit beim Geheimdienst«, sagte Carstairs nachdenklich. »Fünfzehn Jahre lang hat er für diese Abteilung gearbeitet. Aber warum kann ich eigentlich nicht an ihn denken, ohne daß mir Emily Pollifax einfällt?«

Bishop lachte. »Das war ihr erster Auftrag, nicht wahr? Nachdem sie in Masons Büro aufgekreuzt war und so naiv nach einer Beschäftigung als Spionin gefragt hatte. Sie hatten gerade nach einem vertrauenerweckenden Großmuttertyp für Ihre Kurieraufgabe gesucht und nahmen sie. Als dann die Hölle losbrach, dachten Sie...«

»Ich weiß, was ich dachte«, unterbrach ihn Carstairs. Plötzlich mußte er grinsen. »Wissen Sie noch, Bishop? Als alles vorbei war, haben sie hier in diesem Zimmer gesessen, Farrell sah mit seinem

Verband aus wie der Tod persönlich, und Mrs. Pollifax in dieser albanischen Ziegenhirtenaufmachung - sie waren gerade aus der Adria gefischt worden, und ich hatte beide schon aufgegeben - und dann saß sie da und holte Kaninchen aus ihrem Hut...«

»War es nicht ihr Unterrock, Sir?« sagte Bishop lächelnd.

»Und es zeigte sich, daß eine absolute Amateurin, eine Witwe aus New Brunswick, sämtliche Profis hinters Licht geführt hatte.« Carstairs wurde ernst und sagte unvermittelt: »Natürlich brauchen wir Mrs. Pollifax.«

Bishop war entsetzt. »Um sich mit einem kaltblütigen Killer anzulegen?«

»Das hat sie früher schon getan«, erklärte Carstairs, »aber diesmal braucht sie sich mit niemanden anzulegen, sie braucht nur Fotos zu schießen. Die meisten Safaris sind heutzutage Foto-Safaris, gejagt wird da nicht mehr, und bestimmt schleppt jeder Teilnehmer eine Kamera mit sich herum.«

»Mag sein«, gab Bishop widerwillig zu, lächelte dann aber wieder und fuhr fort, »allerdings wäre sie wie geschaffen dafür. Gescheit, natürlich - ein Mensch, dem jeder vertraut... Meinen Sie, Aristoteles würde ihr auch vertrauen?«

Carstairs warf ihm einen säuerlichen Blick zu. »Machen Sie keinen Versuch, naiv zu sein, Bishop.« Und als sein Auge die Uhr streifte, fuhr er fort: »Sie braucht eine Gelbfieberschutzimpfung, und jemand muß ein paar Fäden ziehen, damit sie schnellstens ein Visum bekommt. Sollte diese Safari ausgebucht sein, müssen wir weitere Fäden ziehen, wenn auch gottlob Anfang Juni Afrika noch nicht Saison hat, Bishop.«

Bishop seufzte. »New York vermutlich?«

»Richtig. Nehmen Sie das nächste Flugzeug, und kurbeln Sie die Sache an. Die Sambische Fremdenverkehrszentrale ist in der 58. Straße, desgleichen die Botschaft, die das Visum ausstellen wird. Während Sie wegen einer Flugreservierung telefonieren, rufe ich Mrs. Pollifax an und frage nach, ob sie das übernehmen kann. Hoffen wir es«, sagte er inbrünstig. »Wenn Sie die Sache in New York erledigt haben, können Sie nach New Jersey fahren und sie informieren.«

»Gut. Oh, nebenbei«, sagte Bishop und blieb an der Tür stehen, »falls sie zur Verfügung steht, soll ich dann erwähnen, daß Farrell in Sambia ist?«

Carstairs überlegte. »Ich glaube schon. Sollten die beiden sich -was der Himmel verhüten möge - zufällig zur unrechten Zeit über den Weg laufen, dann könnte das unser ganzes Unternehmen verderben.« Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: »Warten Sie einen Augenblick.« Er lächelte beinah mutwillig, als er fortfuhr: »Ich werde sogar noch weitergehen. Bitten Sie sie, Farrell anzurufen, wenn sie nach Lusaka kommt. Er muß im Telefonbuch stehen.

Für ein Wiedersehen vor ihrer Safari wird vermutlich keine Zeit sein, aber hinterher könnten sie sicher zusammenkommen.«

Bishop sah ihn neugierig an. »Ist das nicht ein bißchen ungewöhnlich?«

»Höchst ungewöhnlich«, gab Carstairs zu, »aber schlau eingefädelt. Ich möchte wissen, wie es unserem alten Freund Farrell geht. Zum Teufel, Bishop, mir fehlt der Mann«, sagte er ungehalten. »Ich kann Ihnen aus den letzten drei Jahren ein Dutzend Aufträge aufzählen, die er alle besser ausgeführt hätte als irgend jemand sonst. Als Pensionär muß er sich zu Tode langweilen.«

»Nicht ausgeschlossen«, meinte Bishop.

»Natürlich ist es nicht ausgeschlossen. Also sorgen Sie dafür, daß sie zeitig nach Lusaka kommt, und geben Sie ihr den festen Auftrag, ihn aufzusuchen, ehe sie losflattert und jedermann auf der Safari fotografiert. Gehen Sie jetzt, und lassen Sie mich Mrs. Pollifax festnageln, ehe sie uns durch die Finger schlüpft.«

In diesem Augenblick stand Mrs. Pollifax mitten in ihrem Wohnzimmer und übte die Karate-Grundposition. Man konnte nie zu gut vorbereitet sein, fand sie, und berichtigte ihre Haltung, so daß ihr Gewicht gleichmäßig auf beide Füße verteilt war. So! Jetzt ballte sie beide Hände zur Faust und versuchte einen schnellen horizontalen Schlag. Mehr wagte sie nicht zu riskieren. Lorvale, ihre Lehrer, schwärmte augenblicklich für den Angriff mit einem haarsträubenden Ki-ay-Schrei, aber wenn sie es mit ihren Nachbarn nicht verderben wollte, unterließ sie das besser.

Das Telefon klingelte. Mrs. Pollifax löste sich widerwillig aus ihrer Stellung und nahm den Hörer ab. Eine gedämpfte Stimme sagte: »Bleiben Sie bitte am Apparat«. Und dann kam eine vertraute Stimme: »Hier ist Carstairs, Mrs. Pollifax, könnten Sie am kommenden Wochenende nach Afrika reisen?«

Daß Karate wirklich nützlich war, wurde Mrs. Pollifax in diesem Augenblick klar: Carstairs reichlich überraschendes Ansinnen brachte sie durchaus nicht aus dem Gleichgewicht. »Ja, ich glaube schon«, sagte sie. »Wie geht es Ihnen, Mr. Carstairs?«

»Zuwenig Personal und zuviel Arbeit«, antwortete er kurz. »Sie haben ja gesagt?«

»Es ist mir entschlüpft«, sagte sie, »aber wenn ich jemand finde, der meine Geranien gießt, ja, dann könnte ich dieses Wochenende nach Afrika fahren.«

»Dann fangen Sie gleich mit dem Suchen an«, sagte er mit einer etwas weniger angespannten Stimme. »Aber es darf nicht Stunden dauern, weil Bishop schon unterwegs nach New York ist oder es zumindest in ein paar Minuten sein wird. Er arrangiert alles für Sie. Wer ist Ihr Arzt?«

Verblüfft nannte sie den Namen.

»Gut, Bishop besucht Sie. Irgendwann zwischen eins und zwei?«

»Jederzeit.« Sie legte auf und begann im selben Augenblick zu spüren, wie ein nervöser Schauer ihre Wirbelsäule Zentimeter um Zentimeter überlief bis in die Zehenspitzen. Was war denn in sie gefahren, ja zu sagen? Keinesfalls konnte sie nächstes Wochenende nach Afrika fliegen, die Idee war einfach absurd. Afrika lag auf der anderen Seite der Erde, und auf eine solche Reise bereitete man sich sorgfältig vor, teilte sie seinen Freunden mit, las Reiseführer und legte Listen an, damit man nichts vergaß.

So reiste ihre Nachbarin, Miss Hartshorne, und im Augenblick fand Mrs. Pollifax diese aufwendige Art vernünftig.

Dann aber fiel ihr ein, daß sie bei anderen Gelegenheiten genau dasselbe empfunden hatte: wenn nämlich ihre stille Welt mit Carstairs rauher und gefahrvoller zusammengestoßen war, und nachdem sie sich das eingestanden hatte, erinnerte sie sich an frühere Abenteuer. Wunderbarerweise war sie immer noch am Leben, frisch und munter, und ihr Leben war um Dimensionen erweitert worden, die sie in seltenen Augenblicken zum Kichern brachten, wie damals zum Beispiel, als im Gartenklub ein preisgekrönter Colin Ramsey-Film über die Türkei gezeigt wurde, und sie zwei Frauen in Schleier und Pluderhose, die aus einem Brunnen Wasser heraufzogen, wiedererkannt hatte.

Diesmal also Afrika.

Sie sprach es laut vor sich hin - »Afrika« -, und beim Klang dieses Wortes begann ihr Herz schneller zu schlagen, und sie bemerkte, daß sie lächelte. Der Schwarze Kontinent. Tarzan. Ihr fiel ein, daß sie ihren Sohn Roger, als er noch klein war, in jeden Tarzanfilm mitgenommen hatte, der ins >Rivoli< kam, und als sein Geschmack zu Rita Hayworth abgewandert war, hatte sie sich Tarzan allein angesehen, begeistert von den Tieren, dem dampfenden Urwald, vergifteten Pfeilen und dem Brüllen der Löwen... Löwen! Bei diesem Gedanken holte sie tief Atem. Auch für den Fall, daß Carstairs sie ins Gewühl einer Stadt schickte, mußte sie eine Gelegenheit finden, Löwen zu sehen. Löwen mußten sein!

Wie eintönig ihr Leben in letzter Zeit geworden war, dachte sie, und wie aufregend der Gedanke, daß sie Afrika sehen sollte. Plötzlich fand sie, daß sie noch eine Unmenge zu tun hatte. Sie mußte alle Artikel in der Nationalen Geographie durchsehen und dann das ganze Material über Wildschutz in ihrer Schreibtischschublade studieren.

Schuldbewußt fuhr sie hoch. Es war neun Uhr und das Frühstücksgeschirr noch nicht abgewaschen. In wenigen Stunden kam Bishop. Ob er wohl immer noch für Schokoladeneclairs schwärmte? Auf der Stelle mußte sie zu Mr. Omelianuks Delikatessenladen gehen. Sie schlüpfte in ihren Mantel, steckte ihr Haar unter einen Schlapphut aus Stroh und verließ das Haus.

Es war ein leuchtender Junimorgen, aber nichtsdestoweniger ging sie vorsichtig und bedächtig; mochte der Weg unter ihren Füßen asphaltiert, mochten ihre Augen von der Strohkrempe beschattet sein, im Geiste trug Mrs. Pollifax einen Tropenhelm und bewegte sich lautlos durch hohes Gras, die Ohren gespitzt, den Trommeln der Eingeborenen lauschend.

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