Es war Sonntagmorgen. Mrs. Pollifax und Lisa standen vor dem Hoteleingang und sahen zu, wie Dr. Henry seinen alten Landrover vollpackte. Bis unters Verdeck stapelten sich Medikamente und Stoffrollen in leuchtenden Farben, und Cyrus schnallte eben den letzten Koffer auf den Dachgepäckträger. Die Stadtbesichtigung, die Farrell ihnen verordnet hatte, war nicht Wirklichkeit geworden. Den Freitag hatten sie zum großen Teil auf dem Polizeipräsidium verbracht, um Aussagen zu machen. Sie hatten der Times of Sambia ein Interview gegeben, das natürlich streng zensiert wurde, und waren dann für den Bericht unzählige Male fotografiert worden. Gestern hatte sie mit Cyrus einen kurzen Gang durch die Stadt gemacht, um Mitbringsel einzukaufen, aber es war einfach unmöglich gewesen, alles zu vergessen, was geschehen war und geschehen würde. Die von Leutnant Bwanausi begleitete Safarigesellschaft, die am Samstag zurückgekehrt war, hatte ihnen den Ernst der Lage ins Gedächtnis zurückgerufen, und Cyrus hatte Lisa erst am späten Nachmittag sehen dürfen. Auch hatte Mrs. Pollifax nicht ruhig schlafen können. Bis in ihre Träume hinein verfolgte sie die Angst, Aristoteles würde abermals zuschlagen, und irgendwie würde die Polizei die Ermordung nicht verhindern können.
In diesem Augenblick wandte Lisa sich Mrs. Pollifax zu und lächelte sie strahlend an. »Alles ist so unfaßbar, nicht wahr? Glauben Sie mir, irgend etwas in mir hat es gewußt, sobald ich in Sambia ankam.«
»Ich finde es wunderbar, und es ist genau das Richtige für Sie«, sagte sie herzlich.
»Und sich vorzustellen, daß es uns beide in der gleichen Weise getroffen hat«, sagt Lisa mit Staunen in der Stimme. »Und uns so erschreckte, daß wir Abstand wahrten und der Sache nicht trauten. Wie es mir ergangen ist, weiß ich. Ich saß an jenem ersten Abend am Lagerfeuer und unterhielt mich mit John Steeves und dachte, wir beide würden einen sehr angenehmen Safariflirt erleben, und dann schaute ich auf und sah Tom, und ich dachte, ja. Einfach so.«
Während sie Lisa zuhörte, konnte Mrs. Pollifax beinahe - wenn auch nicht ganz - vergessen, daß sie nur noch wenige Minuten vom Wiedersehen mit Farrell trennten. Sie lächelte Chanda zu, der mit ihrem regenbogenfarbigen Sonnenschirm spielte, nur daß er nicht mehr ihr gehörte - sie hatte ihn dem Jungen beim Frühstück geschenkt. »Es ist ein bupe«, erklärte sie ihm, nachdem sie von Tom das Bembawort für Geschenk gelernt hatte. Jetzt fragte sie Lisa: »Werden Sie hier heiraten oder in Connecticut?«
Lisa lachte. »Gewissenhaft wie Tom ist, besteht er darauf, daß ich zuerst sein Hospital kennenlerne - und das Haus mit dem Blechdach, in dem wir wohnen werden - und daß wir dann erst Pläne machen und ich heimfliege und Dad alles berichte.«
Ihr Vater, der zu ihnen trat, schaute auf die Uhr und sagte zu Mrs. Pollifax: »Fast Zeit, meine Liebe.«
Lisa betrachtete die beiden neugierig. »Sie und Vater haben eine Verabredung zum Essen mit diesem geheimnisvollen Mr. Farrell, nicht wahr? Werden Sie uns eines Tages erzählen, was da draußen im Busch wirklich vor sich gegangen ist?«
»Ich würde es Ihnen jetzt erzählen, aber es ist nicht unsere Geschichte«, sagte Mrs. Pollifax. »Wenigstens noch nicht.« Nicht ehe wir Farrell gesehen haben, dachte sie und schob diesen Gedanken beiseite, als Chanda unter dem prächtigen Sonnenschirm herankam, um Lebewohl zu sagen.
»Leb wohl, Chanda nunandi«, sagte sie zu ihm und schüttelte ihm feierlich die Hand. »Es war wirklich schön, dich kennenzulernen, und ich hoffe - oh, liebe Zeit -« ächzte sie, als sie spürte, daß eine der Schirmspeichen sich in ihrem weißen Strohhut verfangen hatte, den sie an jenem Morgen seit Beginn der Safari zum erstenmal wieder trug. Cyrus mußte lachen, und dann nestelten er und Tom den Schirm vorsichtig los. »Diese rote Feder«, kicherte Lisa, »sie ragt senkrecht in den Himmel. Sie sehen aus wie ein Indianerhäuptling.«
»Ganz reizender Indianerhäuptling«, sagte Cyrus und ergriff ihren Arm. »Keine Zeit, das jetzt zu reparieren. Lebt wohl, Tom, Lisa... Laß von dir hören!«
»Ihr auch!« rief sie ihnen nach.
Als sie durch die Halle auf die Terrasse eilten, merkte Mrs. Pollifax, daß erstaunlich viele Blicke auf sie gerichtet waren. »Cyrus, mein Hut... «
»Ein richtiger Blickfang«, meinte er wahrheitsgemäß. »Schafft einen neuen Stil.« Er geleitete sie an einen Tisch und setzte sich ihr gegenüber. »Aufgeregt?«
»Natürlich bin ich aufgeregt«, erwiderte sie, »die ganze Zeit schon, seit Farrell angerufen und gesagt hat, Aristoteles sei verhaftet, und er werde uns um zwölf alles darüber berichten.« Sie legte ihre Handtasche und ihre Sonnenbrille auf den Tisch.
»Sollte meinen, Sie wären erleichtert, nicht aufgeregt, zufrieden, glücklich.«
»Natürlich, sollte ich sein«, gab sie zu. »Aber ich finde es so schwierig, Menschen nicht zu mögen. Ich weiß, sie sind oft selbstsüchtig oder eingebildet oder egoistisch oder dumm und manchmal unehrlich. Aber wenn man nichts von ihnen erwartet, dann kann man nicht enttäuscht sein. Sehen Sie, ich mochte auf unserer Safari jeden, und deshalb ist Farrells Botschaft für mich so schmerzlich. Sie bedeutet nämlich, daß ich demnächst aus der Fassung gerate.«
»Aber Amy Lovecraft können Sie unmöglich gemocht haben«, sagt er anklagend.
»Nein, aber sie tut mir leid, wissen Sie.«
»Na«, schnaubte Cyrus, »hat sich die Sache selber eingebrockt. Wer hat doch gesagt >Charakter ist Schicksal«
»Aber das ist es ja«, sagte Mrs. Pollifax eifrig, »im Leben kommt es weitgehend darauf an, sich für den richtigen Weg zu entscheiden. Amy scheint genau den Weg gewählt zu haben, der zu ihrem Zusammentreffen mit Sikota und somit zu ihrem Tod geführt hat. Und auf dieser Reise haben sich unser aller Wege getroffen.«
»Unser aller?«
Sie nickte. »Ja, vor sechs Tagen zu dieser Stunde war Amy noch am Leben, und wenn wir es auch nicht wußten, so hielt Farrell drunten im Süden des Parks nach ihr Ausschau. Und Sie und ich saßen hier und aßen zusammen zu Mittag«, »... und Aristoteles, wer immer er sein mag, schnallte seine Geldkatze um?«
»Oh, das glaube ich nicht«, sagte sie ernsthaft, »es dürfte ein Nummernkonto in der Schweiz gewesen sein.«
»Tut mir leid, daß ich Sie habe warten lassen«, unterbrach sie Farrell, zog einen Stuhl heran und setzte sich zu ihnen. »Leider kann ich nicht zum Mittagessen bleiben, weil ich nach Süden aufbrechen muß und Jonesi treffe in...« Er brach mitten im Satz ab und starrte Mrs. Pollifax an. »Lieber Himmel, Herzogin, Ihr Hut?«
»Kümmern Sie sich doch nicht um den Hut«, flehte sie. »Wer ist Aristoteles?«
»John Steeves.«
»Steeves? Gütiger Himmel«, sagte Cyrus.
»Jetzt bin ich aber wirklich außer Fassung«, murmelte Mrs. Pollifax. »Ich bin froh, daß Lisa das nicht hört. Ist die Polizei ganz sicher, Farrell? Hat er gestanden?«
»Ich glaube nicht, daß Sie wenige Stunden nach der Verhaftung ein Geständnis erwarten können«, sagte Farrell und mit einem Blick auf den wartenden Kellner: »Später, wenn Sie nichts dagegen haben. Wir bestellen noch nicht... Nein, Steeves hat nichts gestanden, tatsächlich hat er sich geweigert, seine Heimatadresse anzugeben oder seine nächsten Verwandten. Der Mann ist vollkommen unzugänglich, und das scheint fast so belastend wie sein Gewehr und der Schalldämpfer, die in seinem Gepäck gefunden wurden - anscheinend irendwie durch den Zoll geschmuggelt -, und die Tatsache, daß er seinem Paß zufolge an dem Tag, an dem Messague ermordet wurde, in Frankreich war.«
Er zögerte, und Mrs. Pollifax fragte: »Gibt es noch mehr?«
Er nickte. »Ein Notizbuch mit chiffriertem Text, den wir noch nicht entschlüsseln konnten, aber auf der letzten Seite -tut mir leid, Herzogin - eine Liste mit vier Namen und Daten: Messague, 5. September, der Tag, an dem er ermordet wurde; Malaga, 30. Oktober und die Namen Hastings und O'Connell, die, wie wir annehmen, auch Mordanschlägen zum Opfer gefallen sind.«
»Unglaublich«, sagte Cyrus.
Farrell zuckte die Achseln. »Vielleicht... aber hätten Sie gedacht, daß Amy Lovecraft eine Rhodesierin namens Betty Thwaite war oder daß die Herzogin hier Fotos gemacht hat in der Hoffnung, das Gesicht eines Attentäters festhalten zu können?«
»Steeves«, wiederholte Mrs. Pollifax, immer noch bemüht, die Nachricht zu verdauen. »Farrell, er muß durch Erpressung da hineingeraten sein«, sagte sie. »Es gibt keine andere Erklärung. Haben Sie mit ihm gesprochen?«
Farrell schien belustigt. »Sie meinen, weil er so traurige Hundeaugen hat? Wie ich höre, bemuttern alle Frauen gern einen Mann, der aussieht, als habe er viel gelitten, und vielleicht hat er das auch, aber ich würde eher auf einen verwirrten Geist schließen.«
»Ich frage mich, warum er sich nicht verteidigt«, sagte sie stirnrunzelnd. »Obwohl er, falls er Aristoteles ist, vermutlich nicht viel sagen kann. Er ist im Gefängnis?«
»In sicherem Gewahrsam, ja, sonst würde Präsident Kaunda nicht heute um ein Uhr die Moses-Msonthi-Schule einweihen. Sie haben ein zu weiches Herz. Es ist Zeit, daß auch Sie in den Ruhestand treten.«
»Er schien ein echtes Gefühl für Lisa gehabt zu haben, und es ist so schwer, sich vorzustellen, daß ein Mörder sich zu einer Frau hingezogen fühlt.«»Irgend jemand«, meinte Cyrus, »hat ganz sicher dasselbe von Jack the Ripper gesagt, meine Liebe.«
»Es tut mir leid. Es ist der Schreck. Was wird jetzt mit ihm geschehen?«
»Für den Augenblick nicht viel«, sagte Farrell. »Er ist in sicherem Gewahrsam, verhaftet wegen unerlaubtem Waffenbesitz und Einschmuggeln der bewußten Waffe in dieses Land. Alles ging sehr diskret vor sich, nachdem die Safari zu Ende war. Ihr Mclntosh übrigens hat sich als Mclntosh Magruder entpuppt. Ich dachte, das würde Sie interessieren.«
»Der Milliardär, der wie ein Einsiedler lebt?« fragte Mrs. Pollifax.
»Multimilliardär!«
»Ich dachte, er würde seine Einsiedelei niemals verlassen«, sagte Cyrus.
»Offenbar hören selbst die Magruders dieser Welt auf ihren Arzt. Er war krank, und es wurde ihm ein Klimawechsel vorgeschlagen. Soweit Mclntosh, während Willem Kleiber um die Welt jettet und Erdbewegungsmaschinen an Entwicklungsländer verkauft.«
»Passend für einen Mann, dem offenbar selbst nichts bewegt«, meinte Cyrus.
»Ja, zimperlicher kleiner Mann, nicht wahr? Herzogin, haben Sie sich schon mit Carstairs in Verbindung gesetzt, seit Sie aus dem Busch zurück sind?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ein Dreiminutengespräch nach Washington kostet zwölf Dollar. Ich dachte, ich sollte warten, bis ich ihm Aristoteles' Identität mitteilen könnte. Das, nehme ich an, würde ihm die Unkosten wert sein.«
»Sparsam bis zum Ende«, sagte Farrell, »was jedoch nicht Ihre Hüte betrifft. Was ist passiert, Herzogin?« Er starrte fasziniert auf die antennenähnlich aufgerichtete Feder.
»Ich hatte einen kleinen Zusammenstoß mit einem Sonnenschirm«, erklärte sie würdevoll, »und ich werde gleich eine Sicherheitsnadel auftreiben und die Feder wieder nach unten stecken. Farrell, meinen Sie, daß Carstairs von unserer Entführung gehört hat?«
Er lächelte. »Tun Sie doch nicht so sehnsüchtig, Herzogin. Ich bezweifle es. Sie waren zu schnell im Busch verschwunden und wieder draußen, als daß die Neuigkeit die amerikanischen Zeitungen hätte erreichen können. Hier natürlich stand die Meldung auf der Titelseite.« Er schaute auf seine Uhr und sagte seufzend: »Herzogin, ich hasse Abschiede, aber ich habe eine lange Fahrt vor mir... «
»Ich weiß.« Sie nickte ihm zu. »Wir hatten kaum Zeit, miteinander zu reden, aber ich darf mich nicht beklagen, nachdem Sie und Jonesi uns das Leben gerettet haben.«
»Das war ich Ihnen schuldig, wissen Sie. Jetzt sind wir quitt. Kommen Sie bald wieder nach Sambia. Vielleicht mit Cyrus, um Lisa zu besuchen. Nur geben Sie beim nächsten Mal um Himmels willen keine Anzeige mehr nach mir auf, sonst kostet es mich den Kopf. Sie können mich immer über meine Farm erreichen. Ich habe die Adresse aufgeschrieben.« Er steckte ihr einen Zettel in die Handtasche und stand auf. »Leben Sie wohl, Cyrus. Ihre Art gefällt mir. Und was Sie angeht, Herzogin, bis bald - ach, zum Teufel damit. Schnell einen Kuß, die besten Wünsche, und weg bin ich.«
Er beugte sich hinüber, umarmte sie, nickte und winkte Cyrus zu und ging.
»Oh, Farrell.« rief Mrs. Pollifax ihm nach. »Ich sollte Sie doch offiziell fragen, ob Sie Ihren alten Job nicht wiederaufnehmen wollen. Carstairs vermißt Sie.«
»Das erledige ich selbst, Herzogin. Noch dieselbe Kabeladresse?«
»Dieselbe Kabeladresse.«
Als er verschwunden war, sagte Cyrus: »Verdammt anständiger Bursche, Ihr Farrell, auch wenn er ein Seifenkistenrennen nicht von einem Pferderennen unterscheiden kann.«
»Ja«, sagte sie, putzte sich die Nase und lächelte ihn an. »Cyrus, wären Sie sehr unglücklich, wenn wir jetzt nicht zu Mittag äßen? Mir ist der Appetit vergangen.«
»Wundert mich nicht«, sagte er und half ihr beim Aufstehen. »Ein Spaziergang dürfte uns beiden guttun.«
»Ich danke Ihnen. Wissen Sie, ich kann nicht behaupten, daß ich mit großem Appetit gekommen bin«, erklärte sie ihm, als sie aus dem Restaurant in die Hotelhalle traten. »Die Ungewißheit den ganzen Vormittag über hat mich reizbar gemacht, und jetzt kann ich einfach nicht essen, wenn John Steeves - wenn er - und wenn auch noch Farrell geht... «
»Vollkommen verständlich«, sagte er.
Er steuerte sie durch eine große Anzahl von Menschen hindurch, die auf den Aufzug wartete, und sie mußten stehenbleiben, als sich die Türen eines herabkommenden Liftes öffneten und seine Passagiere in die Hotelhalle entließ. Die beiden warteten geduldig, bis sich der Stau aufgelöst hatte. Vor ihnen gingen zwei Männer: ein großer, der einen Turban trug sowie dicht hinter ihm ein kleiner, der Mrs. Pollifax durch seine aufrechte Haltung auffiel. Irgend etwas an seinem Gang kam ihr sehr bekannt vor, und sie grübelte, wo sie diesen Gang schon gesehen hatte. Dann wußte sie es. Natürlich - ein Pfau, der hinkt. Lächelnd sagte sie zu Cyrus, »Da vor uns geht Mr. Kleiber, Cyrus, wir wollen ihn einholen und ihn fragen...«
Als der Mann jedoch den Kopf wandte, und sie sein Gesicht sah, war es nicht Mr. Kleiber. Es war ein Schwarzer, der eine mit Gold eingefaßte Brille trug. Also konnte es Mr. Kleiber nicht sein, und doch war es Mr. Kleiber. Sie war voller Staunen, denn sie erkannte Nase und Stirn, nur fehlte der Kinnbart, und er ähnelte einem Sambier. Sie sah ihn durch die Glastür gehen und einem Taxi zuwinken. Atemlos sagte sie: »Cyrus, er ist Kleiber. Schnell!«
Sie bahnte sich einen Weg durch die Menge.
»Taxi!« rief sie, als Kleiber wegfuhr. Ein zweites Taxi hielt, sie sprang hinein und stieß atemlos hervor: »Bitte - folgen Sie dem Wagen da!« Das Taxi schoß davon, als Cyrus gerade den Bordstein erreicht hatte. Durch das offene Fenster schrie Mrs. Pollifax ihm zu: »Rufen Sie Dundu zu Hilfe!«