Entgeistert starrte der so plötzlich seiner Lunchpartnerin beraubte Cyrus dem davonfahrenden Taxi nach. Vor einem Augenblick war Mrs. Pollifax noch an seiner Seite gewesen und nun schon nicht mehr. >Da vor uns geht Mr. Kleiber, Cyrus<, hatte er sie deutlich sagen hören, und als der Mann sich dann umgedreht hatte, zeigte sich ein schwarzes Sambiergesicht. Ganz offensichtlich war der Mann nicht Mr. Kleiber. Dann aber hatte Emily atemlos gerufen: >Es ist Kleiber. Schnell!< Und dann war sie mit der Schnelligkeit einer Gazelle ins Taxi gestiegen und hatte ihm nur noch etwas zugerufen wie Dundu und Hilfe.
Er ging in die Hotelhalle zurück, setzte sich und war erbittert über seine Reaktionslosigkeit. Er war sich im klaren, daß sechs Tage mit Emily Pollifax ihm hätten beweisen müssen, daß er jeden Augenblick auf Draht sein mußte. Dias nicht, dachte er, und dafür war er dankbar, statt dessen aber eine Frau, die plötzlich schrie und verschwand. Er war ärgerlich, nicht gleichzeitig mit ihr das Taxi erreicht zu haben.
Aber warum war sie denn nur in den Wagen gesprungen? Es mußte doch einen Grund haben. Was konnte Kleiber denn vorhaben in dieser Verkleidung? Wie war es möglich, auf einmal eine andere Gesichtsfarbe zu bekommen? Konnte man sich das spritzen, oder gab es dafür Pillen? Der Gedanke war absurd. Immerhin hatte Emily ihn für Kleiber gehalten. Vielleicht war sie überreizt, nachdem sie die Nachricht über Steeves gehört hatte. Nein, überreizt war Emily nicht. Auch als ihre Ermordung durch Simon und Amy so gut wie sicher gewesen war, hatte sie die Fassung nicht verloren. Gab es überhaupt etwas, was sie außer Fassung bringen konnte? Und da sie ja jetzt wußte, daß Steeves Aristoteles war, warum also...?
Er hing seinen Überlegungen nach, bis er einen kalten Schauder den Rücken hinunterrinnen und dann wieder hinaufsteigen fühlte, und als dieser am Nacken angelangt war, stand Cyrus auf und ging zur Rezeption hinüber. »Hören Sie«, sagte er, »ich möchte die Polizei anrufen.«
»Irgend etwas nicht in Ordnung, Sir?«
»Weiß nicht, aber ich möchte die Polizei anrufen.«
»Hier, Sir.« Der Angestellte führte ihn zu einem Privatbüro und deutete auf den Apparat. »Die Zentrale wird Sie verbinden.«
Einen Augenblick später hatte Cyrus mit der Aussprache eines Namens zu kämpfen, den er noch nie geschrieben gesehen und nur flüchtig gehört hatte. »Ein Leutnant Dundu Bonozzi«, sagte er. »Muß ihn unbedingt sofort sprechen.«
»Bedauere, Sir, er ist nicht da«, sagte der Mann am anderen Ende der Leitung.
»Es könnte sich um eine Sache von Leben und Tod handeln«, sagte Cyrus und fühlte sich bei diesem Satz reichlich unbehaglich.
»Er ist an der Moses-Msonthi-Schule, abkommandiert zu den Wachposten. Sie können eine Nachricht hinterlassen, für den Fall, daß er anruft.«
»Ja«, sagte Cyrus und fand diese Lösung sehr vernünftig. Aber wie sollte er denn nur seinen Verdacht formulieren? »Also versuchen wir es so. Sind Sie bereit?«
»Bereit, Sir.«
»Sind Sie sicher, daß Sie den richtigen Aristoteles haben? Kleiber verließ das Hotel als Schwarzer. Mrs. Pollifax ist hinter ihm her.«
»Eine sehr merkwürdige Nachricht, Sir.«
»Stimmt«, sagte Cyrus und fühlte sich in seiner Haut keineswegs wohl. »Sonst niemand anwesend, mit dem ich sprechen könnte?« Aber sobald er diese Frage gestellt hatte, wußte er, daß es sehr schwierig sein würde, einem Fremden die Verwandlung von Kleiber zu beschreiben. Nur Dundu würde das verstehen. »Lassen Sie«, sagte er. »Wie war doch wieder der Name der Schule? Und wo ist sie?«
»Die Moses-Msonthi-Schule, Sir, Manchinchistraße.«
»Gut, ich sehe mich dort nach ihm um.«
Er eilte zum Hoteleingang und konnte kein Taxi bekommen. Cyrus kochte vor Ärger, dachte flüchtig an seinen Blutdruck und sah auf seine Uhr. Es war zwanzig vor eins, und laut Farrell begannen die Einweihungsfeierlichkeiten um ein Uhr... Als endlich ein Taxi kam, war es dreiviertel eins. Er stieg ein und nannte den Namen der Schule.
»Oh ja, Sir«, sagte der Fahrer freudig. »Unser Präsident weiht heute die Schule ein. Sehr schöne Schule für Mädchen.«
»Ja... gut, tun Sie Ihr Bestes, bringen Sie mich so schnell wie möglich dorthin«, bat er, und dann versuchte er sich vorzustellen, was er denn tun sollte, wenn er dort ankäme. Vermutlich waren viele Menschen dort versammelt, denn es war ja ein großes Ereignis. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wo er Dundu suchen sollte oder ob auch Emily dort auftauchte. Vielleicht hatte sie inzwischen schon entdeckt, daß der Mann ein echter Sambier war. Besser nicht darüber nachdenken, und er begann tief zu atmen, um ruhig zu bleiben. Die Straßen waren verhältnismäßig leer, weil Sonntag war. Als sie sich aber der Manchinchistraße näherten, wurde der Verkehr stärker. Cyrus bezahlte den Fahrer einige Straßen vor der Schule und machte sich auf die Suche nach Dundu Bwanausi.
Mrs. Pollifax hockte auf der Kante ihres Sitzes, - behielt das vorausfahrende Taxi im Auge und gab dem Fahrer verschiedene Erklärungen, um ihn anzutreiben. »Er wird von der Polizei gesucht«, vertraute sie ihm an, weil sie das Gefühl hatte, daß irgendeine Erklärung nötig war. Sie wünschte, ihre Erklärung würde den Tatsachen entsprechen, und wünschte es zugleich auch wieder nicht. »Nicht zu dicht auffahren, wir dürfen nicht auffallen. Haben Sie eine Idee, wohin das Taxi fährt?«
»Wir sind ganz nah an der Manchinchistraße, Madam«, vielleicht will er bei der Schuleinweihung zusehen.«
Sie fragte: »Sie meinen die Moses-Msonthi-Schule?«
»Ja, Madam. Wir sind jetzt in der Manchinchistraße, und das Taxi vor uns fährt auf die Schule zu, sehen Sie? Jetzt hält es.«
Nervös begann sie in ihrer Geldtasche zu kramen. »Ich hoffe, dies ist genug«, sagte sie und schob ihm Kwachascheine zu, und als er am Bordstein hielt, sagte sie: »Würden Sie etwas Wichtiges für mich tun? Würden Sie die Polizei anrufen und sagen - sagen, Aristoteles sei vor der Msonthi-Schule? Aristoteles.«
»Aristoteles, ja Madam.« Er warf ihr einen forschenden Blick zu.
Sie stieg aus und sah ihn ernsthaft an. »Ich verlasse mich auf Sie. Sie sind meine einzige Hoffnung.«
»Ja, Madam.«
Vor sich sah sie Kleiber um die Zuschauermenge herumschlendern. Er suchte eine Möglichkeit durchzukommen. Sie eilte ihm nach und probte innerlich einen Karateschlag, um ihn zu Boden zu werfen, ehe er Präsident Kaunda erschießen konnte. Das mußte der Grund sein, warum er sich maskiert hier aufhielt. Und das bedeutete, daß ihr Instinkt, Steeves betreffend, richtig gewesen, war, nur daß Steeves jetzt im Gefängnis saß und Aristoteles noch frei herumlief, und niemand es wußte...
Es war furchtbar.
Im strahlenden Sonnenschein warteten buntgekleidete Frauen mit ihren Babys auf dem Arm, barfüßige Kinder und Männer in ihrem Sonntagsstaat. Es war eine Gasse für den Präsidenten freigehalten worden und Mrs. Pollifax sah Kleiber den Weg abschätzend betrachten, aber bevor sie ihn erreichen konnte, war er in der Menge verschwunden.
Leutnant Bwanausi stand neben einem Polizeiwagen südlich der Menge und wartete auf seinen Präsidenten, dessen Foto an allen Wänden seines kleinen Hauses hing. Ein Freund rief ihm einen Gruß zu, kam herüber, um ihm die Hand zu schütteln und fragte, wie es ihm ginge. Noch ganz erschüttert von der Tatsache, daß es beinahe einem Attentäter gelungen wäre, seinem Präsidenten das Leben zu nehmen, antwortete er, daß es ihm gutginge. Der Freund schlenderte weiter, und als Dundu es im Autoradio knacken hörte, griff er nach dem Hörer. »Hier Bwanausi.«
Zuerst verstand er gar nicht, was Soko sagte. »Wieso nennst du den Namen Aristoteles, Soko?« fragte er. »Zwei Meldungen?«
Einmal kam eine Meldung von einem Mann aus dem Hotel Intercontinental, die Soko ihm nun vorlas. »Aber Dundu«, unterbrach dieser sich, »ich glaube, der Mann war betrunken. Jetzt ist ein zweiter Anruf von einem Taxifahrer gekommen. Der Mann sagte, sein Fahrgast sei eine Frau gewesen, und er hätte ein Taxi zur Manchinchistraße verfolgen müssen. Diese Frau habe ihn dann dringend gebeten, uns anzurufen und zu sagen, Aristoteles sei an der Schule.«
Dundu spürte, wie Angst ihn packte. War das möglich? Sollte John Steeves vielleicht doch nicht Aristoteles sein? Aber es war doch bewiesen. »Mann, das ist eine schlechte Nachricht«, sagte er zu Soko. »Ist es noch nicht zu spät, KK und seine Begleitung zu erreichen? Aristoteles ist der Deckname des Attentäters, den wir gestern abend glaubten erwischt zu haben.«
Betroffene Stille. »Oh Gott«, sagte Soko, »ich will's versuchen, Dundu, ich will's versuchen.«
»Tu das, schick eine...« Er hielt inne, als er die Sirenen hörte. »Zu spät, der Präsident ist schon hier, Soko.« Er ließ den Hörer fallen und begann zu rennen...
Auf der Suche nach Kleiber drängte sich Mrs. Pollifax durch die Menge, aber in ihrer Panik schien jeder Kleiber ähnlich zu sehen. Sie konnte sein Gesicht nicht mehr von den anderen unterscheiden. Sie zwang sich zur Ruhe und näherte sich der für den Präsidenten freigelassenen Gasse. In der vordersten Reihe angelangt, dankte sie einem Mann, der sie durchgelassen hatte. Sie beugte sich vor und blickte die Gasse hinunter, durch die der Präsident kommen würde. Ein Blick genügte. In der Ferne sah sie ihn aus einer Limousine steigen und mehreren Leuten die Hand schütteln. Zu ihrer Linken, höchstens sechs Meter von ihr entfernt, erblickte sie Kleiber, eine Hand in der Tasche, ein leichtes Lächeln um die Lippen. Mrs. Pollifax begann eilig, sich zu ihm durchzukämpfen.
Cyrus hatte die Suche nach Leutnant Bwanausi aufgegeben, hatte sich auf einen Spielplatz hinter der Menschenmenge zurückgezogen und war auf ein geeignetes Klettergerüst gestiegen, um nach Mrs. Pollifax Ausschau zu halten, wenn er auch wenig Hoffnung hatte, sie zu finden. Ob Emily von ihm erwartete, daß er sich Präsident Kaunda in den Weg warf? Vermutlich, so dachte er, und als er aus der Ferne zu seiner Rechten plötzlich Hochrufe vernahm, wußte er, daß es ein Uhr und Präsident Kaunda angekommen war. Er, Cyrus, mußte etwas unternehmen. Ehe er herunterkletterte, warf er noch einen letzten Blick auf die Menschenmenge, die sich vor der Mauer jenseits der Gasse befand. Da fiel ihm auf, daß er schon seit mehreren Augenblicken geistesabwesend auf einen roten Stengel oder Wimpel sah, der sich von rechts nach links bewegte. Er kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können, und da wußte er, was es war.
Emilys Feder, was denn sonst! Er kletterte nach unten und drängte sich durch die Menge. Er hatte Glück. Sie stand etwa sechs Meter vor ihm. Als in diesem Moment die Menge in Bewegung geriet, bekam er Emily zu Gesicht. Und nicht weit von ihr entfernt, den schwarzen Mann im dunkelgrau gestreiften Anzug. Kleiber!
Auch Emily hatte Kleiber gesehen. Sie schlich vorwärts - die Feder wirkte etwas lächerlich -, und als sie neben dem Mann stand, stieß Cyrus ein paar kleine Kinder beiseite, um sie zu erreichen. Er erriet, was sie vorhatte. Gerade hatte sie die rechte Hand erhoben, da sah Kleiber sich um und erblickte sie. Cyrus sah die beiden einen langen Blick wechseln, bemerkte dann die Pistole in Kleibers Hand, und vor Entsetzen stockte ihm der Atem. Langsam hob Kleiber die Waffe und richtete sie auf Mrs. Pollifax, die ihn, zu Stein erstarrt, ansah.
»Nicht Karate, Emily. Judo!« ächzte Cyrus. Erinnerungen an den lange zurückliegenden Sportunterricht waren plötzlich da, Abende, an denen man abwechselnd seinen Partner auf die Matte warf und selbst von ihm auf die Matte geworfen wurde. Ohne einen Gedanken an seine alten Knochen zu verschwenden, warf Cyrus sich nach vorne. Seine Schultern trafen auf festes Fleisch, Knochen knirschten, und Aufschreie ertönten, als er, Emily, Kleiber und zwei kleine Buben in einem wilden Durcheinander zu Boden stürzten.
Nur Dundu Bwanausi, der ihnen von der anderen Seite her entgegengerannt kam, wußte, daß die fünf am Boden liegenden Menschen nicht zufällig von der Menge zu Boden gerissen worden waren. Mit grimmiger Miene beugte er sich über Kleiber, steckte dessen Pistole in die Tasche und ließ Hand schellen um seine Gelenke schnappen. Dann hob er die beiden weinenden Kinder auf, klopfte ihnen den Staub von den Kleidern, reichte Cyrus die Hand, half Mrs. Pollifax auf die Beine und rückte sorgsam ihren Hut zurecht. Erst als er ihr ins Gesicht sah, veränderte sich sein Ausdruck. Leise und voll leidenschaftlichem Eifer sagte er: »O Madam, zikomo, zikomo kuambeia, zehntausendmal zikomo.«
Aber Cyrus hatte auch etwas zu sagen. »Verflixt noch mal, Emily«, sagte er vorwufsvoll, »einzige Möglichkeit, ein wachsames Auge auf Sie zu haben, ist, Sie zu heiraten. Meinen Sie, wir finden einen ruhigen Ort, wo wir darüber reden können?«