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Ihr Wecker rasselte um ein Uhr, und sie sprang aus dem Bett. Eifrig öffnete sie den Koffer, nahm die neue Buschjacke, eine lange Hose, einen pflegeleichten blauen Rollkragenpullover und ihre bequemen Laufschuhe heraus. Das Entfernen der Preisschildchen hielt sie ein bißchen auf. Als sie aber ihre Safarikleidung anhatte, war die Wirkung verblüffend: die alte Emily Pollifax, Vizepräsident des Komitees für Umweltschutz und Schriftführerin des Gartenklubs von New Brunswick, war zusammen mit dem Strohhut, den sie in ihren Koffer gesteckt hatte, verschwunden. Sie sah aus - toll, fand sie, ja, einfach toll.

Es gab eine weitere Verzögerung, als sie den Khakihut und die Sonnenbrille aufprobierte, den Staubschleier überwarf und zuletzt den Schirm aufspannte, aber schließlich hatte sie alles übrige wieder in den Koffer gepackt und war zum Aufbruch bereit. Sie fuhr mit dem Aufzug nach unten, bezahlte am Empfang ihre Rechnung, stellte den Koffer beim Pförtner am Eingang ab und ging mit dem Schirm in der Hand zum Terrassenrestaurant, um vor ihrer Abfahrt nach Chunga zu Mittag zu essen.

An der Tür zögerte sie einen Augenblick, als eine Männerstimme hinter ihr sagte: »Na also - hab' Sie doch wiedergefunden. Mittagessen?«

Mrs. Pollifax drehte sich um und starrte auf ein giftgrünes Hemd. Als sie den Blick hob, erkannte sie Cyrus Reed, den sie zuletzt im Büro der Times of Sambia gesehen hatte. »Das habe ich vor, ja.«

»Gut. Essen wir zusammen«, sagte er, griff sie fest am Ellbogen, führte sie auf die Terrasse und setzte sie nachdrücklich an einen Tisch unter einem Sonnenschirm. »Hab' Ihnen gar keine Chance gelassen abzulehnen«, sagte er, als er sich ihr gegenübersetzte.

»Nein, das haben Sie nicht.«

»Lade nicht oft Frauen zum Mittagessen ein«, sagte er barsch. »Zum Abendessen übrigens auch nicht. Langweilige Geschichten. Hoffe, daß Sie keine wirkliche Herzogin sind? Konnte leider nicht vermeiden, Ihre kleine Anzeige im Zeitungsbüro mitzuhören.«

»Er hat sie laut genug vorgelesen«, mußte sie zugeben. »In Wirklichkeit heiße ich Emily Pollifax. Herzogin war eine Art Spitzname.«

Er streckte den Arm über den Tisch, und sie schüttelten sich feierlich die Hände. Wirklich ein großer Mann, stellte sie fest, das lag an seinem Körperbau und den Muskeln. Dick war er jedenfalls nicht. Er bewegte sich langsam, und auch seine Sprechweise wirkte träge, aber sein Lächeln war bei aller Schläfrigkeit besonders warm und ansprechend. Seine Augen verliehen ihm ein leicht orientalisches Aussehen. Sie saßen in seinem Gesicht wie Mandeln, die man einer Lebkuchenfigur eingedrückt hat. Unter seinen schrägstehenden Lidern wirkte der Blick noch schläfriger. Sie gaben ihm das Aussehen eines leicht runzligen Mandarins.

Jetzt sagte er, während er sie aufmerksam ansah: »Sie hatten einen abwesenden Blick, als Sie den Spitznamen erklärten. Guter Freund, dieser Farrell?«

»Ein sehr guter Freund, ja.«

»Einzige Sorte, die sich lohnt«, meinte er und nickte. »Guter Einfall zu inserieren. Übrigens: Mein Name ist Cyrus Reed, Rechtsanwalt, Connecticut. Möchten Sie vor dem Essen etwas trinken?«

Mrs. Pollifax lächelte dem wartenden Kellner zu, schüttelte aber den Kopf. »Ich hab' nicht viel Zeit«, erklärte sie. »Ich werde um halb drei abgeholt.«

»Dann wollen wir bestellen. Ich kann das Hähnchen empfehlen, weil ich es jeden Tag gegessen habe, seit ich hier bin.«

Es stellte sich heraus, daß Mr. Reed seit vier Tagen in Lusaka war. »Meine Tochter«, erklärte er, »kann einem den Nerv töten. Hatte darauf bestanden, daß wir auf dem Weg hierher in Rom Station machten, und jetzt ist sie nach Livingstone gefahren, um die Victoria-Fälle zu besichtigen, während ich hier wieder zu Atem komme. Hat für den Ausflug einen Wagen gemietet, sagte, sie wolle mehr von diesem Land sehen.«

»Das wird sie denn wohl auch«, sagte Mrs. Pollifax freundlich.

»Ist schon überfällig. Sollte vor drei Stunden zurück sein. - Und was führt Sie hierher?«

»Ich breche heute nachmittag zu einer Safari auf«, erzählte sie ihm.

Sein schläfriger Blick wurde munter. »Doch wohl nicht zu der Kafue-Nationalpark-Safari, die offiziell morgen früh beginnt?«

Sie sah ihn erstaunt an. »In der Tat, ja. Sie wollen doch nicht sagen... «

»Doch!« Er nickte. »Ankunft im Safaridorf Chunga heute am späten Nachmittag. Morgen früh Exkursion, erste Gelegenheit, wilde Tiere zu beobachten, nachmittags Aufbruch zum Safaridorf Kafwala.«

»Genau. Werden Sie auch heute um halb drei von Homer abgeholt?«

Er schüttelte den Kopf. »Wir fahren mit dem Auto. Lisas Idee.« Er sah sie an und fuhr freimütig fort: »Tut mir leid, wirklich, aber für ein Wiedersehen stehen die Sterne dennoch günstig. Sie sind - wie nennt man das heutzutage - ungebunden?«

»Ich bin Witwe.«

»Ich sollte mein Bedauern ausdrücken, kann's aber nicht. Sie gefallen mir.«

Sie sah ihn an, und dann mußte sie lachen. »Mir gefällt Ihre Offenheit, aber ich bin nicht gewohnt an solche - solche...«

»Unverhohlene Bewunderung? Wieso nicht? Sie sehen so lebendig aus«, sagte er bestimmt. »Kann langweilige Leute nicht ertragen.«

»Ich bin sehr langweilig«, erklärte ihm Mrs. Pollifax aufrichtig. »Ich betätige mich ehrenamtlich - nicht besonders wirkungsvoll -, und ich züchte Geranien. Im allgemeinen«, fügte sie hinzu, »führe ich ein sehr ruhiges Leben.«

»Besagt gar nichts«, meinte er. »Sie wirken interessiert, mit einem Sinn für das Wunderbare. Stimmt's?«

»Ich komme mir vor wie ein Zeuge vor Gericht im Kreuzverhör.«

Er nickte. »Schlechte Angewohnheit von mir, die Schattenseite des Juristenberufes. Wenn meine beiden Kinder mit mir zufrieden sind, nennen sie mich aufrichtig, wenn sie sich über mich ärgern, nennen sie mich plump.«

»Sie haben also zwei Kinder?«

Er nickte. »Der Sohn ist dreißig, das Mädchen - das ist Lisa -sechsundzwanzig. Hab' sie selbst erzogen, seit ihre Mutter tot ist. Lisa war damals drei. Als die Kinder alt genug waren, hab' ich mir gesagt: Hände weg, wenigstens galt das bis vor zwei Jahren. Sie haben auch Kinder?«

Mrs. Pollifax nickte. »Auch einen Sohn und eine Tochter, beide erwachsen und schon selbst Eltern. Aber was ist denn vor zwei Jahren passiert?«

»Hab' Lisa retten müssen«, sagte er und lehnte sich zurück, damit der Kellner auftragen konnte. »Fand sie im New Yorker East Village, wo sie als Sozialhelferin arbeitete; war auf sechsundneunzig Pfund abgemagert und heulte sich die Augen aus wegen eines Burschen, in den sie sich verliebt hatte.« Er schnaubte verächtlich. »Liebte ihn, sagte sie, weil er sich für sie interessierte. Haken war nur der, daß der Bursche sich offenbar wahllos interessierte - hauptsächlich für Frauen, nehm' ich an - und sie schön an der Nase herumgeführt hat. Wenn man bedenkt, daß Lisa mit magna cum laude vom Radcliffe-College abgegangen ist, war das nicht gerade ein Intelligenzbeweis.«

»Gefühle haben mit dem Verstand nichts zu tun«, erklärte Mrs. Pollifax. »Wie ist es denn mit Lisa weitergegangen?«

»Sie werden es sehen«, sagte er. »Forsch, sachlich, das ist Lisa. Gefiel mir aber damals besser, als sie von allem, was ihr begegnete, noch aus dem Gleichgewicht gebracht wurde. Warmherziges, leidenschaftliches Kind.«

»Dann ist sie natürlich immer noch so«, warf Mrs. Pollifax ein.

»Irgendwie schon, aber in den letzten beiden Jahren hat sie sich ein dickes Fell zugelegt. Dachte, die Reise würde ihr guttun. Nicht gesundheitsfördernd für uns beide, zusammen zu leben. Nervtötend.«

Mrs. Pollifax legte ihre Gabel hin und lächelte ihn an. »Gibt es irgend etwas, was Ihnen nicht den Nerv tötet?«

Er richtete seinen schläfrigen Blick auf sie und erwiderte ihr Lächeln. »Tatsächlich, ein paar Sachen schon... gutes Essen, gute Gespräche, seltene Bücher sammeln... und ein anständiges Tennisspiel, und ich bin dafür bekannt, daß ich vor Tag und Tau aufstehe, um Vögel zu beobachten.«

»Das kann man sich kaum vorstellen. Sind sie«, fragte sie streng, »sind Sie umweltbewußt?«

»Leidenschaftlich«, sagte er mit unbewegter Miene.

Mrs. Pollifax lachte und wußte im selben Augenblick: Wenn sie auch in den wenigen Stunden in Lusaka Farrells Gesellschaft hatte entbehren müssen, Cyrus Reed war kein schlechter Ersatz gewesen. Auch hoffte sie, Mr. Reeds Melancholie möge echt sein, seine Tochter ehrlich und daß er sich nicht die häßliche Gewohnheit zugelegt hätte, in seiner Freizeit Leute zu ermorden.

»Nachtisch?« schlug Mr. Reed vor und reichte ihr die Speisekarte.

Nach einem Blick auf ihre Uhr schüttelte sie den Kopf. »Ich kann Ihnen nur für diesen köstlichen Lunch danken«, sagte sie und griff nach ihrem Schirm. »Auf Wiedersehen demnächst in Chunga.«

Sie verabschiedeten sich, und Mrs. Pollifax ging in die Halle, wo sie sich einen Sessel mit Blick auf die Eingangstür aussuchte. Dort saß sie, betrachtete interessiert eine Gruppe dunkelhäutiger Männer mit Turbanen, und auf einmal stand Homer Kulumbala vor ihr und sagte lächelnd: »Guten Tag, sind Sie bereit für den Aufbruch nach Chunga?«

»Fix und fertig«, sagte sie.

»Ihr Gepäck?«

Sie deutete auf ihren Koffer neben der Tür, er ergriff ihn und geleitete sie hinaus.

Der VW-Bus stand zwischen Bougainvillea-Sträuchern geparkt, und sie wählte den Vordersitz neben dem Fahrer. Homer ging, um weitere Mitglieder der Safari zu holen. Er erschien kurz darauf wieder in Begleitung eines schmächtigen, kleinen Mannes in langen Hosen und Buschjacke. Oh Himmel, wir sind Zwillinge, dachte Mrs. Pollifax kläglich und ließ ihren Blick von seinem zu ihrem Anzug schweifen. »Hallo«, sagte sie, als er beim Bus ankam.

Er mochte fünfundvierzig sein und trug als einzig bemerkenswertes Kennzeichen einen rotbraunen Kinnbart. Wohl ein etwas sonderbarer Kandidat für eine Safari. Er wirkte mäkelig, und ein verkniffener Zug um die Nasenlöcher erweckte den Eindruck, als strömte die Welt einen leicht ranzigen Geruch aus. Bei Mrs. Pollifax' Anblick wurde sein Gesichtsausdruck noch ablehnender, vielleicht war er auch nur unangenehm von der Tatsache berührt, daß sie auf dem Vordersitz saß. Vorsichtig stieg er hinten zu und rief in einem Englisch mit leichtem Akzent Homer zu, er möge behutsam mit seinen Koffern umgehen. Erst dann wandte er sich Mrs. Pollifax zu und sagte griesgrämig: »Die schmeißen sie nämlich, haben Sie's bemerkt?«

»Nein«, sagte Mrs. Pollifax und stellte sich vor.

»O doch. Na ja.« Er streckte ihr eine magere, trockene Hand entgegen. »Kleiber. Willem Kleiber.« Er wischte seine Hand nicht gerade ab, nachdem er die ihre berührt hatte, aber offenbar hätte er es gern getan.

»Deutscher?« fragte sie.

»Nein, nein, Holländer.«

Wenn Mrs. Pollifax gefürchtet hatte, alle Teilnehmer der Safari könnten in gleicher Weise gekleidet sein, so erwies sich diese Vorstellung angesichts des dritten Safariteilnehmers, den Homer jetzt zum Bus geleitete, als unbegründet. Die Dame an seiner Seite bewirkte, daß Mrs. Pollifax sich plötzlich unelegant vorkam und gar nicht mehr toll. Sie mochte in den Vierzigern sein und trug ihr plantinblondes Haar mit einem scharlachroten Seidentuch zurückgebunden. Ihr Safarianzug war aus hellbeigefarbener Gabardine und so geschneidert, daß jede Kurve ihrer Figur zur Geltung kam. An mehreren Fingern glitzerten Brillanten, und ein fantastischer Türkis schmückte ihren schwarzen Rollkragenpullover. Alles an ihr war auffallend - ihr Anzug, ihre kühlen Saphiraugen, ihre klar geschnittenen Züge und ihre zartgebräunte Haut.

»Und ich hatte schon Angst, ich wäre nicht rechtzeitig hier und als - Oh, zwei sind schon da, ist das nicht fantastisch?« sagte sie. Und als sie beim Bus angekommen war, lächelte sie Mr. Kleiber zu. »Ich denke, wir machen uns am besten selbst bekannt.« Ihre Stimme klang einschmeichelnd, und sie sprach mit einem etwas affektierten britischen Akzent. »Ich bin Mrs. Lovecraft«, sagte sie. »Amy Lovecraft.«

In diesem Augenblick kam ein großer, gutaussehender junger Mann aus dem Hotel geeilt, rief Homer etwas zu, trat dann an den Bus und rief: »Dies ist doch der Bus ins Safaridorf Chunga?«

»Was für ein schöner Mann«, murmelte Mrs. Lovecraft.

»Ja, ja«, sagte Homer. »Sie sind -«

»John Steeves.« Er war ziemlich nachlässig gekleidet, hatte einen dicken Rollkragenpullover und schäbige Twillhosen an. Er sah aus wie ein Mann, fand Mrs. Pollifax, der wußte, daß es morgens in Afrika kalt ist. Wettergegerbt kam er Mrs. Pollifax vor. Seine Stimme verriet den Engländer, die Patina seiner Schuhe den Wanderer. Sein längliches Gesicht mit den interessanten, dunklen Augen hatte einen angespannten Zug, und er trug einen dichten, dunklen Schnurrbart.

Als er seinen Namen nannte, hellte Homers Gesicht sich auf. »Natürlich, ja, ich habe schon nach Ihnen gefragt. Haben Sie Gepäck?«

»Einen Seesack. Den bringt Tom Henry mit. Er ist auch mit von der Partie. Wir haben uns im Restaurant kennengelernt.« Er drehte sich um und deutete auf den Hoteleingang. Mrs. Pollifax sah einen gesetzt wirkenden jungen Mann mit einem Koffer und einem Seesack das Hotel verlassen, begleitet von einem bloßfüßigen, etwa zwölf Jahre alten schwarzen Jungen. Tom Henry, rotblond und mit aufrichtig blickenden grauen Augen, wirkte heiter und unkompliziert. Der macht kein Getue, dachte Mrs. Pollifax, die ihn auf Anhieb sympathisch fand. Der schwarze Junge, der neben ihm herging, sah plötzlich zu ihm auf und lächelte. Nie hatte Mrs. Pollifax ein Kind einen Erwachsenen so voller Bewunderung anlächeln sehen, und sie begriff, daß die beiden zusammengehörten.

»Henry?« fragte Homer irritiert. Und dann: »Ach so, das ist Doktor Henry? Doktor Henry vom Missionshospital?«

»Und Chanda«, sagte der junge Mann bestimmt. »Chanda Henry,«

Homer ging mit den Neuankömmlingen zum rückwärtigen Teil des Busses und verstaute das Gepäck. Mrs. Lovecraft stieg ein und setzte sich mit den Worten: »Ist das nicht lustig?« neben Mr. Kleiber.

Als sie zum Hotel zurückschaute, sah Mrs. Pollifax Cyrus Reed heraustreten, der irgendwie beunruhigt aussah. Er kam zum Bus herüber und sagte zu Mrs. Pollifax: »Jetzt ist sie schon fünf Stunden überfällig. Probleme häufen sich.«

In diesem Augenblick bog ein kleiner roter Fiat in rasendem Tempo in die Zufahrt zum Hotel ein und hielt mit einem Ruck. Heraus sprang eine junge Frau, die so klein wirkte, wie Reed riesig schien, und rief: »Da bin ich, Richter!«

»Das ist Lisa«, sagte Cyrus Reed ergeben.

»Richter?« fragte Mrs. Pollifax.

»Im Ruhestand.«

Die junge, schlanke und langbeinige Frau war schwer zu übersehen. Ihr Haar war leuchtend kastanienbraun von der Farbe eines neuen Kupferpfennigs, und ihr rundes Gesicht mit einem Grübchen im Kinn hatte etwas Koboldhaftes. »Sie sieht aber gar nicht kalt und sachlich aus«, meinte Mrs. Pollifax, sie betrachtend.

»Stimmt«, sagte Reed, offensichtlich überrascht. »Irgend etwas hat sich verändert. Ich möchte, daß sie sich jetzt gleich kennenlernen. Ich hole sie her.«

Mrs. Pollifax sah zu, wie Lisa mit jemandem im Wagen sprach, und dann stieg eine Frau aus, die ein Baby in einer Schlinge über der Schulter trug, danach folgten ein kleiner schwarzer Mann mit Brille in einem dunklen Straßenanzug, drei grinsende, bloßfüßige Buben, ein gebückter alter Mann mit einer Krücke und schließlich ein junger Mann in lila Hosen und rosa Hemd. Mrs. Pollifax mußte an einen alten Zirkustrick denken, bei dem Dutzende von Menschen aus einem winzigen Wagen aussteigen, und sie fragte sich, wie in aller Welt die alle da hineingepaßt hatten. Lisa schüttelte jedem die Hand und ließ sich dann von ihrem Vater zu dem Kleinbus führen.

»Reifenpanne«, sagte sie, »aber Kanyama hat mir beim Reifenwechsel geholfen, und Mbulo hat neben dem Weg ein Feuer gemacht und Frühstück bereitet. Richtig gut - und die Wasserfälle hättest du sehen sollen!«

»Ich nehme an, daß du jeden, dem du begegnet bist, mitnehmen mußtest?«

»Na ja, aber war es denn nicht eine glückliche Fügung, daß ich's getan habe? Sonst säße ich jetzt noch irgendwo da unten bei Pemba mit einem platten Reifen. Niemand hat mich gebeten, mitgenommen zu werden. Aber konnte ich denn vorbeifahren, Dad, wo ich einen Wagen hatte und sie nicht? Hallo«, sagte sie und lächelte Mrs. Pollifax freundlich an.

»Na, viel zu früh bist du ja nicht angekommen«, sagte ihr Vater im Tonfall aller Väter der Welt.

»Aber ich bin angekommen, nicht?« sagte Lisa lächelnd. »Und was hält uns jetzt noch auf? Bis später!« rief sie über ihre Schulter und zog ihren Vater zum Hotel.

Auf dem Weg dorthin gingen sie an Homer vorbei, der das Gepäck eines anderen Safari-Teilnehmers trug. Die Reeds blieben bei ihm stehen und sprachen mit ihm, so daß der Neuankömmling warten mußte. Er tat es geduldig und mit einem leichten Lächeln auf den Lippen. Es war ein mittelgroßer Mann, ungefähr fünfzig, mit einem Aktenkoffer und einem Regenmantel über dem Arm. Er war, wie Mrs. Pollifax feststellte, noch in Reisekleidung, es war ein gut gearbeiteter, jetzt aber zerknitterter Anzug. Sein langes Haar war pechschwarz, durchzogen von weißen Strähnen.

Unvermittelt löste sich die Gruppe auf, Homer kam zum Bus und sagte lächelnd: »Hier haben wir noch Mr. Mclntosh«, und deutete auf den Herrn an seiner Seite. »Jetzt kann's losgehen, meine Herrschaften, wenn Sie freundlicherweise einsteigen wollen.«

Die beiden Männer mit Chanda folgten dem Aufruf und setzten sich auf den Rücksitz unmittelbar vor dem Gepäck. Nach Mrs. Lovecraft stieg Mr. Mclntosh ein und nahm den Platz zwischen ihr und Mr. Kleiber. Dann schloß und verriegelte Homer die Bustüren, und einen Augenblick später waren sie unterwegs. Sie fuhren auf der linken Straßenseite wie die Engländer.

Ihr Weg führte sie am Gebäude der Nationalversammlung mit seinem glänzenden Kupferdach vorbei. Es folgte das Regierungsviertel, dann ein schäbiger Stadtteil mit strohgedeckten Hütten, und endlich, nachdem die Innenstadt hinter ihnen lag, ein Satellitenviertel, das die Japaner erbaut harten, wie Homer ihnen mitteilte. Als der Verkehr geringer wurde, veränderte sich die Landschaft in Baumwoll-, Sonnenblumen- und Maisfelder, und die Fußgänger wurden zahlreicher. Sie sahen Frauen, die Feuerholz auf dem Kopf balancierten und Männer auf Fahrrädern. Dann waren auch sie verschwunden, und der Bus fuhr auf der sich endlos dehnenden Straße stetig den Anhöhen um Mumbwa entgegen. Die Sonne stand überraschend tief am Horizont, und als Mrs. Pollifax darauf hinwies, erfuhr sie zu ihrem Erstaunen, daß in Sambia die Sonne an diesem Abend schon um sechs Uhr unterging. Jetzt begriff sie, warum Homer fuhr, als wäre der Teufel hinter ihm her, denn die Dunkelheit saß ihm im Nacken. Bei diesem ungewöhnlichen Tempo klapperte der ganze Bus. Eine Unterhaltung war fast unmöglich. Man mußte sich an seinen Sitz klammern.

Als Homer eine Stunde später auf die Bremse trat, flog Mrs. Pollifax beinah durch die Windschutzscheibe. Vor ihnen versperrte eine rotweiß gestreifte Schranke den Weg.

»Und was ist das?« fragte Mr. Kleiber aus dem Hintergrund.

»Die Brücke«, sagte Homer. »Alle unsere Brücken werden von der Polizei bewacht.«

»Lieber Himmel, warum denn?« wollte Mrs. Pollifax wissen und sah ihn überrascht an.

»Rhodesische Spione«, antwortete er. »Sie versuchen, unsere Brücken über den Kafue zu sprengen«. Er sprach es >Kafui< aus. »Wir haben drei in Sambia.«

»Rhodesische Spione?« wiederholte Mrs. Pollifax.

»Ja, Spione. Sie sind überall.« Er deutete mit dem Kopf nach links und sagte: »Da drüben ist die Polizei stationiert.«

Mrs. Pollifax schaute in die angegebene Richtung und bemerkte unten in der Nähe des Flusses unter einer Akaziengruppe mehrere verrostete Wellblechhütten. Sie setzte zum Sprechen an, aber Homer hatte sich der Wache zugewandt, die auf den Bus zukam und mit dem Gewehr über der Schulter sehr offiziell aussah. Der Mann trug einen Reiterhut, blaue Khakishorts und zwischen Knöchel und Knie Wickel aus schwerem Stoff, die nur Wickelgamaschen sein konnten, schloß Mrs. Pollifax, weil ihr die exotischen Erzählungen von Kipling einfielen. Er spähte in den Bus, schüttelte dann Homer die Hand und begann in einer ihr unverständlichen Sprache mit ihm zu reden. Schließlich grüßte er, die Schranke ging hoch, und sie fuhren über die einfache Brücke.

»Was für eine Sprache haben Sie da eben gesprochen?« erkundigte sich Mrs. Pollifax.

»Nyanja«, sagte Homer. »Ich spreche Tonga, er spricht Luvale, aber alle Regierungsangestellten beherrschen die Bantusprache Nyanja.«

»Diese Spione, die Sie erwähnt haben«, begann Mrs. Pollifax, schwieg dann aber, da man sich kaum verständigen konnte, nachdem der Bus die Fahrspur verlassen hatte und auf einem Feldweg dahinfuhr. An der Einbiegung hatte auf einem Wegweiser Safaridorf Chunga gestanden.

»Diese Spione«, rief sie und versuchte das Klappern und Holpern zu überschreien, während sie sich mit beiden Händen an ihren Sitz klammerte, um mit dem Kopf nicht gegen die Decke zu stoßen.

Homer steuerte den Bus genau um ein Loch herum und schrie zurück: »Sie spionieren unsere Freiheitskämpfer aus. In der Südprovinz kamen die Spione von Rhodesien herüber und entführten die Leute, legten Minen und mordeten. Jetzt nicht mehr so oft, aber sie schleichen sich immer noch ein. Vor einem Monat haben sie in Lusaka eine Bombe gelegt und Mr. Chitepo umgebracht, einen schwarzen rhodesischen Nationalisten im Afrikanischen Nationalkongreß.«

»Wer hat das getan?« rief Mrs. Pollifax. »Wer tut denn so etwas?«

Homer zuckte die Achseln. »Gedungene Mörder. Rhodesische Polizeiagenten. Spione.«

Mrs. Pollifax schwieg, während sie diese Neuigkeiten mit gewissen Fakten in Verbindung brachte, die sie in Bishops Broschüren gelesen hatte. Sie erinnerte sich, daß noch bis vor kurzem Sambia eine einsame Bastion schwarzer Unabhängigkeit in Afrika gewesen war, im Osten begrenzt vom portugiesisch regierten Mosambik, im Westen vom portugiesisch regierten Angola, mit Rhodesien an der Südgrenze, dem die Südafrikanische Republik den Rücken stärkte. Das war Sambias Situation gewesen, als es 1964 endlich die letzten Fesseln weißer Herrschaft abgeworfen hatte.

Aber zur Zeit der Unabhängigkeitserklärung war Sambia immer noch an Rhodesien gebunden gewesen: durch Straßen, Stromversorgung, Eisenbahnlinien und Wirtschaftsbeziehungen. Ein Mann, der die Rassentrennung haßte, Präsident Kaunda, hatte den Kampf gegen sie aufgenommen und sofort mit dem Lösen dieser Bande begonnen, indem er die Hilfe der Chinesen für den Bau einer Eisenbahnlinie nach Norden und die der Italiener zum Bau einer neuen Talsperre annahm. Der Preis für die Unabhängigkeit von Rhodesien war hoch gewesen. Während einer Krise war das Land gezwungen gewesen, seine Kupfertransporte über eine Straße exportieren zu müssen, die den Namen >Höllenweg< trug.

Doch Sambia hatte überlebt, und vermutlich war es Präsident Kaundas Genie zuzuschreiben, daß es nicht nur wirtschaftlich überlebt hatte, sondern jetzt in die Freiheitsbewegungen der benachbarten Länder mit einbezogen und ihnen behilflich war. Das waren die Worte, die sie in der Broschüre gelesen hatte: einbezogen und behilflich. Verwickelt klänge angemessener, dachte Mrs. Pollifax sarkastisch. Von Spionen, Minen und Entführungen war bestimmt nicht die Rede gewesen.

Jetzt hatten natürlich Angola wie Mosambik nach Jahren des Guerillakrieges und Blutvergießens ihre Unabhängigkeit gewonnen, und nur Südafrika und Rhodesien verteidigten stur die weiße Vorherrschaft. Mrs. Pollifax hatte aber vergessen - was ihr jetzt wieder einfiel -, daß während der schlimmsten Kämpfe Rhodesien verärgert seine Grenzen gegen Sambia geschlossen hatte, wodurch die sambische Volkswirtschaft in noch größere Schwierigkeiten geraten war. Ein Jammer, dachte sie, daß man heutzutage mit einem moralischen Standpunkt so allein dastand; denn anscheinend war das Schließen der Grenze nur eine Formsache gewesen, da Spione sie in beiden Richtungen überschritten. Sie erinnerte sich auch, in einer dieser Schriften das Wort Freiheitskämpfer gelesen zu haben.

»Freiheitskämpfer«, rief sie Homer zu, »wer ist damit gemeint?«

»Führer der Unabhängigkeitsbewegung«, rief er zurück. »Flüchtlinge - sie flüchten nach Sambia, auf ihren Kopf ist ein Preis ausgesetzt. Es erwarten sie Gefängnisstrafen. Sie bleiben, sie bilden sich aus, sie gehen zurück. Heimlich, verstehen Sie?«

»Ja.« Mrs. Pollifax nickte. »Ich wußte nur nicht, daß das... na ja, immer noch andauert.«

Er nickte lebhaft. »Aber die Führer machen jetzt den Mund auf. Südafrika ist das sehr lästig, es fürchtet einen Rassenkrieg in Afrika und drängt Rhodesien zu reden, zu lockern. Bei uns gibt es ein Sprichwort: >Bevor Du einen Elefanten erlegen willst, besorg' dir erst einen Speer.<« Er grinste und fuhr langsamer. »Und da wir gerade von Elefanten reden, dort steht Ihr erster Elefant. Wollen Sie ihn knipsen?«

Ausrufe ertönten hinten aus dem Bus, aber Mrs. Pollifax konnte nur mit angehaltenem Atem staunen. Ihr erster Elefant stand kaum fünf

Meter entfernt und futterte zufrieden Blätter von einem Baumwipfel. Der mächtige graue Körper schien vom Staub gebleicht, die großen Schlappohren hatte er aufgestellt, als wüßte er sehr wohl von ihrer Anwesenheit. Langsam wandte er den wuchtigen Kopf und schaute mit seinen Knopfaugen den Kleinbus interessiert an. Mrs. Pollifax war fest davon überzeugt, daß er ganz deutlich sie persönlich anstarrte. Entzückt und dankbar lächelte sie ihm zu, ehe sie die Kamera hob und ihn knipste.

Auf der Weiterfahrt kamen sie an eine neue Straßensperre, die mit einem liebenswürdigen jungen Wächter besetzt war. Nachdem sie langsamer gefahren waren, um eine Pavianhorde über den Weg zu lassen, kamen sie auf eine Lichtung und hielten an einem abschüssigen Flußufer.

»Ist das Chunga?« fragte Mrs. Lovecraft.

Homer schüttelte den Kopf. »Das hier ist ein unbewirtschafteter Teil, nur für Wochenendcamper. Wir warten hier auf das Schiff«, erklärte er. Er stieg aus und spähte über den breiten Fluß. Mrs. Pollifax öffnete die Tür neben ihrem Sitz und sprang heraus, um sich die Füße zu vertreten. Auch die anderen regten sich und stiegen aus, wobei sie einander vage zulächelten. Mrs. Lovecraft schlenderte zu Homer hinüber, und einen Augenblick später folgten ihr Mr. Mclntosh und Mr. Kleiber. Die Sonne war hinter einer Wolke verschwunden und hatte die Landschaft aller Farbe beraubt. Mrs. Pollifax fühlte sich unter dem unendlichen, silbrigen Himmel sehr klein und sie wartete, daß auf dieser grauglänzenden Wasserfläche ein Schiff auftauchte.

»Da«, sagte Homer plötzlich und deutete auf den Fluß, »das Schiff.«

Auf dem grauen Strom war ein Punkt zu sehen, der größer und größer wurde. Er änderte die Richtung, und als er näher kam, und man den Mann im Heck erkannte, merkte sie, daß es ein Kahn war, beinah so flach wie ein Ponton. Dann durchbrach das Tuckern seines Außenbordmotors die beängstigende Stille über dem Fluß.

»Packen wir bei dem vielen Gepäck mit an«, sagte Dr. Henry. Er ging zur Rückseite des Busses und begann, Chanda Koffer herauszureichen. Nach einer leisen Unterhaltung zwischen ihnen sagte Dr. Henry, indem er Mrs. Pollifax' farbenfrohen Schirm hochhielt: »Chanda sagte mir, daß er Ihnen gehört.«

»Woher weiß er das?« fragte sie überrascht.

Dr. Henry lachte. »Ich könnte es Ihnen nicht sagen, aber er weiß so was immer. Er sagt, er habe in Sie hineingesehen und ähnliche Farben erblickt - mukolamfule, was auf bemba Regenbogen heißt.«

»Ich bin sehr gerührt«, sagte sie und lächelte Chanda zu. Mit einem scheuen Lächeln reichte ihr der Junge den Schirm und ging, um ein weiteres Gepäckstück zu holen. Hinter ihnen hatte das Boot soeben angelegt. Homer sagte: »Das Schiff kommt noch einmal zurück und holt das Gepäck. Es ist ganz sicher hier. Wollen Sie bitte einsteigen?«

Sie verteilten sich auf verschiedene Kisten. Der Kahn stieß vom Ufer ab, der Motor tuckerte, sie wendeten und begannen auf das andere Ufer zuzuhalten. Jede Unterhaltung hätte in der Stille, die über dem Fluß lag, störend gewirkt. Die einzigen Geräusche machten der Kahn, der das Wasser teilte und eine schäumende Welle hinter sich ließ, und Homer, der leise mit dem Jungen am Steuer sprach. Die kühle Luft war voller Düfte, doch je näher sie dem anderen Ufer kamen, um so intensiver wurde der Geruch von Holzfeuer.

Plötzlich kam die Sonne wieder zum Vorschein, jetzt ganz dicht über dem Horizont, und als das Boot wendete, konnte Mrs. Pollifax einen ersten Blick auf das Safaridorf Chunga werfen. Von einer am Ufer gelegenen Lichtung stieg der Rauch eines Lagerfeuers auf. Links stand ein langgestrecktes, weißes Gebäude mit Strohdach, dahinter kleine Hütten aus Schilfrohr und Stroh.

Das Tuckern des Bootes hatte Menschen an den Landeplatz gelockt. Es waren alles Eingeborene. Einer stand etwas abseits, ein breitschultriger junger Mann in einer Art Uniform aus dunkelgrüner Jacke und Shorts. Als das Boot den grauverwitterten Landesteg erreichte, lächelte er strahlend den Ankömmlingen zu. »Willkommen in Chunga«, sagte er. »Ich bin Julian und leite die Safari. Wenn sie bitte hereinkommen und sich eintragen wollen...«

Mrs. Pollifax betrat als erste das nahe gelegene, kleine Büro, wo Julian ihr Anmeldeformulare und einen Füllfederhalter reichte. Er rief dem Mann, der sie über den Fluß gebracht hatte, Anweisungen zu, und einen Augenblick später hörte sie das Geräusch des Bootsmotors auf dem Fluß. »Bald kommen außer dem Gepäck noch zwei weitere Gäste aus Lusaka«, erklärte Julian.

»Ja, ich weiß«, sagte sie. »Ich habe sie kennengelernt.«

Sein unwiderstehliches Lächeln erschien aufs neue. »Gut, dann haben Sie schon zwei Freunde. Moses bringt Sie jetzt nach oben. Sie wohnen in der Leoparden-Hütte.«

Moses trug staubige Turnschuhe und hellblaue Hosen. Sie folgte ihm den Kiespfad hinauf. Die Sonne begann unterzugehen, ihr Licht war nicht mehr helleuchtend, sondern ähnelte der Farbe von Bernstein. Auf dem Kiespfad raschelten unter ihren Füßen Blätter wie dürres Pergament, und Mrs. Pollifax fröstelte in der plötzlich auftretenden Kühle. Als sie die Hütte, an der Leopard stand, erreicht hatten, trug Moses den Koffer vier hölzerne Stufen hinauf und setzte ihn drinnen ab. Er erklärte ihr, daß es eine Dusche gebe, und deutete dabei in die Gegend. Mrs. Pollifax, deren Sinn jetzt mehr nach Wolljacke, Decken und heißem Kaffee stand, schüttelte den Kopf, bedankte sich und eilte die Stufen zu ihrer Hütte hinauf. Bevor sie die Tür schloß, sah sie hinaus und bemerkte, wie die Sonne endgültig hinter dem Horizont verschwand. Homer hatte recht gehabt: Es war genau sechs Uhr.

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