9. Kapitel

Von Anfang an war klar, daß Lieutenant Timmins seine Arbeit weder als sklavisch noch als erniedrigend empfand, und es dauerte nicht lange, bis er auch Cha Thrat soweit gebracht hatte, allmählich denselben Eindruck zu gewinnen. Das lag nicht nur an der stillen Begeisterung des Terrestriers für seine Tätigkeit, sondern auch an dem tragbaren Videogerät und dem Stapel Videobändern mit Ausbildungsmaterial, die er neben ihrem Bett zurückgelassen hatte und die sie letztendlich davon überzeugten, daß der Wartungsdienst eine Arbeit für Krieger war — wenn auch nicht unbedingt eine für Krieger-Chirurginnen. Ihre vorhergehenden medizinischen und physiologischen Studien schienen geradezu lächerlich einfach, als sie diese mit den umfassenden und komplizierten Problemen verglich, die sich ergaben, wenn für mehr als sechzig verschiedene Lebensformen die technischen Voraussetzungen und die erforderlichen Umweltbedingungen bereitgestellt werden mußten. Denn aus so vielen unterschiedlichen Spezies setzten sich die Patienten und die Belegschaft des Hospitals zusammen — und einige unterschieden sich wirklich sehr voneinander. Cha Thrats letzter offizieller Kontakt mit dem medizinischen Ausbildungsprogramm fand statt, als Cresk-Sar eintraf. Er führte eine kurze, aber gründliche Untersuchung bei ihr durch und bescheinigte ihr für die neue Aufgabe eine körperlich einwandfreie Verfassung — vorbehaltlich der Befunde des Augenspezialisten Dr. Yeppha, der sie in Kürze aufsuchen würde. Cha Thrat erkundigte sich, ob man irgendwelche Bedenken habe, daß sie sich in der Freizeit weiterhin die medizinischen Schulungskanäle ansah, und der Chefarzt erklärte ihr, sie könne sich in ihrer Freizeit anschauen, wozu sie Lust habe, aber es sei unwahrscheinlich, daß sie jemals wieder die Gelegenheit erhalte, etwas von dem dabei erlangten medizinischen Wissen in die Praxis umzusetzen.

Cresk-Sar schloß mit den Worten, er sei zwar erleichtert, daß die Schulungsabteilung nicht mehr für sie verantwortlich sei, bedaure es aber auch, sie zu verlieren. Er schließe sich ihren ehemaligen Klassenkameraden an, die ihr bei der neuen Arbeit, für die sie sich entschieden habe, Erfolg und persönliche Befriedigung wünschten.

Dr. Yeppha war für sie eine neue Lebensform, ein kleines, dreifüßiges, sehr zerbrechlich wirkendes Wesen, das sie als DRVJ klassifizierte. Aus seinem pelzigen, kuppelförmigen Kopf ragten — einzeln oder in kleinen Gruppen — wenigstens zwanzig Augen hervor. Cha Thrat fragte sich, ob die überreichlich vorhandenen Sehorgane irgendeinen Einfluß auf die Wahl seines Fachgebiets gehabt hatten, hielt es jedoch für angebrachter, sich lieber nicht danach zu erkundigen.

„Guten Morgen, Cha Thrat“, begrüßte er sie, holte ein Band aus einem Hüftbeutel hervor und schob es in den Videorecorder. „Das hier ist ein Sehtest, mit dem man in erster Linie Farbenblindheit auf die Spur kommen will. Uns ist es egal, ob sie Muskeln wie ein Hudlarer oder eher wie ein Cinrussker haben, für die wirkliche Knochenarbeit gibt es Maschinen. Sehen müssen Sie allerdings können, und nicht nur das: Sie müssen auch in der Lage sein, deutlich Farben und die feinen Farbschattierungen und — abstufungen zu erkennen, die durch unterschiedlich helle Raumbeleuchtungen hervorgerufen werden. Was sehen Sie dort?“

„Einen Kreis aus roten Punkten, in dem sich ein Stern aus grünen und blauen Punkten befindet“, antwortete Cha Thrat.

„Gut“, sagte Yeppha. „Was ich Ihnen jetzt sagen werde, ist stark vereinfacht, aber wie kompliziert es in Wirklichkeit ist, lernen Sie noch früh genug. Die Wartungsschächte und die Verbindungstunnel sind voller Kabelbäume und Rohrleitungen, die allesamt farblich unterschiedlich gekennzeichnet sind. Dadurch sind die Wartungstechniker in der Lage, auf einen Blick zu sagen, welche Kabel Starkstrom führen und welche die weniger gefährlichen Kommunikationsleitungen beherbergen, oder in welchen Rohren sich Sauerstoff, Chlor, Methan oder organische Abfallstoffe befinden. Die Gefahr der Verseuchung von Stationen durch die Atmosphäre einer artfremden Spezies ist immer gegenwärtig, und man sollte es nicht zulassen, daß sich eine solche Umweltkatastrophe ereignet, nur weil irgendein Einfaltspinsel mit einem Sehfehler die falschen Rohre zusammengesteckt hat. Was sehen Sie jetzt?“

Und so ging es immer weiter: Yeppha ließ Muster mit feinen Farbabstufungen auf dem Bildschirm erscheinen, und Cha Thrat sagte ihm, was sie gerade sah oder nicht sah. Schließlich schaltete der DRVJ das Gerät aus und steckte das Band wieder in den Beutel zurück.

„Sie haben zwar nicht so viele Augen wie ich“, sagte er, „aber sie funktionieren alle gut. Von daher spricht nichts dagegen, daß Sie Ihre Tätigkeit beim Wartungsdienst aufnehmen. Mein allerherzlichstes Beileid. Viel Glück!“

Die ersten drei Tage bestanden ausschließlich aus Übungen, sich ohne Anleitung überall im Hospital zurechtzufinden. Timmins wies sie darauf hin, daß man bei den Wartungstechnikern voraussetze, daß sie schnellstmöglich am Unglücksort einträfen, wann und wo immer sich ein Notfall ereignete, selbst wenn nur eine geringfügige Störung gemeldet würde. Da sie normalerweise auf einem Rollwagen mit Elektroantrieb Werkzeuge oder Ersatzteile mit sich führten, sei ihnen die Benutzung der Hospitalkorridore nur im äußersten Notfall gestattet —, da diese von dem Patienten- und Mitarbeiterverkehr ohnehin schon verstopft genug seien, so daß man keinen unnötigen Stau durch Fahrzeuge riskieren wolle.

Aus diesem Grund sollte Cha Thrat die Verbindung von A nach B mit Umwegen über die Punkte H, P und W finden, ohne die Versorgungsschächte und Tunnel zu verlassen oder irgendwen, dem sie begegnen könnte, nach dem Weg zu fragen. Nicht einmal zum Essen gehen durfte sie eine verbotene Bestimmung ihres Standorts durchführen, und es war ihr nicht einmal gestattet, kurz im Hauptkorridornetz aufzutauchen, um sich dort zu orientieren.

„Es wird sich wahrscheinlich als überflüssig herausstellen, den leichten Schutzanzug zu tragen“, sagte Timmins, während er das Bodengitter direkt vor ihrem Zimmer anhob, „aber Wartungstechniker haben ihn immer an, falls sie durch ein Gebiet müssen, in dem es ein kleines Leck gibt, das noch nicht abgedichtet worden ist und aus dem für die eigene Spezies giftiges Gas austritt. Sie haben Sensoren dabei, die Sie vor allen giftigen Stoffen in der Luft einschließlich radioaktiver Strahlung warnen; außerdem eine Lampe, sofern in einem der Tunnel die Beleuchtung ausgefallen ist; eine Karte, auf der Ihr Weg deutlich eingezeichnet ist; einen Signalgeber, falls Sie sich hoffnungslos verirrt haben oder es zu irgendeinem anderen persönlichen Notfall kommt, und, wenn ich das so sagen darf, mehr als genug Proviant, um nicht nur einen Tag, sondern eine ganze Woche lang zu überleben!

Sie brauchen keine Angst zu haben und sollten versuchen, nicht zu hetzen, Cha Thrat“, fuhr er fort. „Betrachten Sie Ihre Aufgabe als einen ausgedehnten, gemütlichen Spaziergang durch unerforschtes Gebiet mit häufigen Essenspausen. Ich erwarte Sie dann auf der Ebene einhundertzwanzig vor der Einstiegsluke zwölf im Korridor sieben, und zwar in fünfzehn Stunden oder früher.“

Plötzlich lachte er und fügte hinzu: „Möglicherweise auch später.“

Die Wartungstunnel waren zwar sehr gut beleuchtet, aber eng und niedrig — zumindest für die sommaradvanische Spezies —, und wiesen über die gesamte Länge in regelmäßigen Abständen Nischen auf. Diese Nischen waren Cha Thrat insofern rätselhaft, als sich in ihnen weder Kabelstränge noch Rohre oder irgendwelche mechanischen Vorrichtungen befanden. Aber als ein Kelgianer in einem Wagen den Tunnel entlang auf sie zugerast kam und ihr zurief „Zur Seite, Dummkopf!“, wußte sie, wozu sie da waren.

Von dieser Begegnung abgesehen, schien Cha Thrat den Tunnel für sich allein zu haben, und sie vermochte sich viel leichter fortzubewegen, als sie es je im Hauptkorridor gekonnt hatte, der sich jetzt direkt über ihrem Kopf befand. Durch die Belüftungsgitter hindurch konnte sie deutlich das Bumsen, Pochen und Schlurfen der zur Fortbewegung dienenden Gliedmaßen der Aliens über sich hören und das unbeschreibliche Gewirr von knurrenden, zischenden, krächzenden und piepsenden Stimmen, von denen diese Gehgeräusche begleitet wurden.

Sie bewegte sich stetig vorwärts, achtete darauf, nicht von einem weiteren Fahrzeug überrascht zu werden, als sie die Karte zu Rate zog, und blieb hin und wieder stehen, um sich Beschreibungen der Größe, des Durchmessers und der Farbmarkierungen auf den Schutzummantelungen der Apparaturen, Rohrleitungen und Kabelstränge, die sich überall an den Wänden und an der Decke des Tunnels befanden, auf Band zu sprechen. Durch diese Aufzeichnungen, hatte ihr Timmins erklärt, könne sie ihre Fortschritte während dieses Übungseinsatzes selbst überprüfen und zudem wertvolle Hinweise zur Bestimmung ihres jeweiligen Standorts erhalten.

Die Strom- und Kommunikationsleitungen sahen zwar überall im Hospital gleich aus, aber an Cha Thrats gegenwärtigen Aufenthaltsort trugen die meisten Rohre die Farbmarkierungen für Wasser und die von den warmblütigen Sauerstoffatmern bevorzugten Atmosphäregemische. Unter den Ebenen, auf denen man Chlor, Methan oder heißen Dampf atmete, wären die Farben ganz anders gewesen und dort hätte sie auch einen anderen Schutzanzug tragen müssen.

Eine Apparatur, die nicht zu funktionieren schien, erregte ihre Aufmerksamkeit. Durch die transparente Abdeckung erkannte Cha Thrat einige Signalleuchten und so etwas wie eine Seriennummer, die wahrscheinlich nur für die Wesen etwas bedeutete, die das Ding gebaut hatten, aber bestimmt nicht für jemanden, der nicht mit ihrer Schrift vertraut war. Cha Thrat machte an dem Gerät den Knopf für die akustische Selbsterklärung ausfindig, drückte ihn und schaltete den Translator ein.

„Ich bin eine Reservepumpe in der Trinkwasserversorgungsleitung zur Diätküche der DBLF-Station dreiundachtzig“, verkündete eine Computerstimme. „Ich funktioniere im Bedarfsfall automatisch, bin aber momentan außer Betrieb. Die aufklappbare Inspektionsluke wird geöffnet, indem Sie Ihren Generalschlüssel in den mit einem roten Kreis markierten Schlitz stecken und ihn um neunzig Grad nach rechts drehen. Zur Reparatur oder dem Austausch von Einzelteilen ziehen Sie Wartungsanleitungsband drei, Abschnitt einhundertzwanzig zu Rate. Vergessen Sie nicht, die Luke wieder zu schließen, bevor Sie gehen.

Ich bin eine Reservepumpe.“, ging es wieder von vorne los, aber Cha Thrat nahm ihre Hand vom Knopf und brachte auf diese Weise die Pumpe zum Schweigen.

Anfangs war sie vor dem Gedanken, unaufhörlich den langen und relativ engen Wartungsschächten zu folgen, zurückgeschreckt, obwohl O'Mara Timmins versichert hatte, daß ihr psychologisches Persönlichkeitsbild frei von jeder Veranlagung zur Platzangst sei. Sämtliche Tunnel waren hell erleuchtet, und wie man ihr gesagt hatte, ändere sich das auch nicht, wenn sie lange Zeit nicht betreten wurden. Auf Sommaradva hätte man so etwas als kriminelle Energieverschwendung bezeichnet. Doch im Orbit Hospital fiel der zusätzliche Strombedarf der ständig brennenden Beleuchtung, den der Hauptreaktor decken mußte, nicht weiter ins Gewicht. Zudem wurde er durch die Vermeidung von Wartungsproblemen, die aufgetreten wären, wenn man an jeder Tunnelkreuzung Ein-und-aus-Schalter installiert hätte, mehr als aufgewogen.

Allmählich führte sie ihr Weg von den Korridoren und den fremdartigen, mißtönenden Geräuschen der Wesen, die sie benutzten, fort, und sie kam sich so mutterseelenallein und einsam vor, wie sie es nie für möglich gehalten hätte.

Das Fehlen jeglicher Geräusche von außen ließ das gedämpfte Summen und Klopfen der Strom- und Rohrleitungen um sie herum immer lauter und bedrohlicher erscheinen, und Cha Thrat ging dazu über, wahllos auf irgendwelche akustischen Selbsterklärungsknöpfe zu drücken, nur um eine andere Stimme zu hören — auch wenn diese bloß einer Maschine gehörte, die Auskunft über sich selbst und ihren oftmals rätselhaften Zweck gab.

Hin und wieder ertappte sie sich sogar dabei, wie sie sich bei der Maschine für die Auskunft bedankte.

Die Farbmarkierungen waren allmählich von den Kennzeichnungen für das Sauerstoff-Stickstoff-Gemisch und Wasser zu denen für Chlor und jener ätzenden Flüssigkeit übergegangen, den der Metabolismus der illensanischen PVSJs zur Erhaltung der Lebensfunktionen benötigte, und die Gänge waren kürzer geworden und wiesen immer mehr Biegungen und Krümmungen auf. Bevor sich ihre Bestürzung in Panik verwandeln konnte, entschloß sich Cha Thrat, es sich in einer Nische so gemütlich wie möglich zu machen, um dort die Proviantmenge, die sie bei sich trug, beträchtlich zu verringern und in Ruhe nachzudenken.

Ihrer Karte zufolge gelangte sie von der PVSJ-Abteilung aus nach unten durch eine der Produktionsanlagen, in denen die von den Chloratmern benötigte Nahrung synthetisch hergestellt wurde, und von dort aus in den Versorgungsabschnitt der wasseratmenden AUGLs. Das erklärte die scheinbar widersprüchlichen Markierungen und die quadratischen Leitungsrohre, die zischten und polterten, wenn die fertig verpackte PVSJ-Nahrung mittels Druck durch sie hindurchbefördert wurde. Ein großer Teil der AUGL-Abteilung war jedoch zu einem Operationssaal und einer postoperativen Beobachtungsstation für PVSJs umgebaut worden, die mit der Hauptabteilung für Chloratmer durch einen in Spiralen ansteigenden Gang verbunden waren, der zum schnellen Transport von Mitarbeitern und Patienten mit Rollbändern ausgestattet war, da die PVSJs aus physiologischen Gründen keine Treppen steigen konnten. Um die komplexe Lage und Anordnung dieser Hindernisse zu umgehen, waren die Biegungen und Krümmungen des Wartungsschachts notwendig. Sobald sie erst einmal wohlbehalten durch diese komplizierte gegenseitige Durchdringung der Wasser- und Chloratmerabteilungen hindurchgekommen sein würde, müßte die Strecke sehr viel einfacher werden.

An Gesellschaft durch Stimmen herrschte kein Mangel. Akustische Warnschilder, die sprachen, egal, ob Cha Thrat auf die Bedienknöpfe drückte oder nicht, wiesen sie an, die Luft ständig auf eine etwaige Verseuchung durch eine andere Atmosphäre zu überprüfen.

Es waren zwar Vorkehrungen getroffen worden, Essen zu sich nehmen zu können, ohne den Schutzanzug öffnen zu müssen, aber nach Cha Thrats Sensoren war die Gegend frei von giftigen Substanzen in gefährlichen Mengen, und deshalb öffnete sie das Visier. Der Geruch, der ihr entgegenschlug, war eine unbeschreibliche Mischung aus sämtlichen scharfen, beißenden, betäubenden, unangenehmen und sogar angenehmen Düften, die sie jemals gerochen hatte, war aber zum Glück nur sehr schwach. Sie nahm schnell einen kleinen Imbiß zu sich, schloß sofort wieder das Visier und ging mit gewachsener Zuversicht weiter.

Drei lange, schnurgerade Tunnelabschnitte später wurde ihr klar, daß

ihre Zuversicht unangebracht war.

Nach ihrer Schätzung der Richtungen und der Entfernung, die sie eingeschlagen, beziehungsweise zurückgelegt hatte, hätte sie sich irgendwo zwischen den Ebenen der Hudlarer und Tralthaner befinden müssen. An den Tunnelwänden hätten die dicken, stark isolierten Stromkabel für die künstlichen Schwerkraftgitter der FROBs und wenigstens eine deutlich gekennzeichnete Rohrleitung für die Versorgung der Sprühbehälter mit dem Nahrungspräparat entlanglaufen müssen, sowie die Leitungen mit der von den FGLIs benötigten Luft, dem Wasser und den zu entsorgenden organischen Ausscheidungen. Doch die vorhandenen Kabelstränge waren mit Farbkombinationen markiert, die dort nicht hingehörten, und die einzige sichtbare Atmosphäreleitung war die Röhre mit dem geringen Durchmesser, die Sauerstoffversorgung des Tunnels. Verärgert über sich selbst drückte Cha Thrat auf den nächsten akustischen Selbsterklärungsknopf.

„Ich bin eine Steuereinheit für den synthetischen Herstellungsprozeß Eins-Zwölf-B, die sich selbst überwacht“, erklärte das Gerät wichtigtuerisch. „Drücken Sie den blauen Knopf, dann wird sich die Zugangsklappe zur Seite schieben. Warnung: Nur das Gehäuse und die akustische Selbsterklärung sind wiederverwendbar. Wenn einzelne Teile schadhaft sind, sind sie nicht zu reparieren, sondern auszuwechseln. Die Zugangsklappe darf nur dann von Angehörigen der Spezies MSVK, LSVO oder anderen Lebensformen mit geringer Strahlentoleranz geöffnet werden, wenn besondere Schutzmaßnahmen getroffen worden sind.“

Cha Thrat hatte kein Verlangen, das Gehäuse zu öffnen, obwohl ihr Strahlenmeßgerät anzeigte, daß die Gegend für ihre Lebensform sicher war. In der nächsten Nische warf sie erneut einen Blick auf die Karte und die Tabelle mit den Farbmarkierungen.

Irgendwie war sie in einen der Abschnitte geraten, in denen es nur vollautomatische Maschinen gab. Die Karte wies fünfzehn derartige Gebiete im Hauptkomplex des Hospitals aus, aber keins davon befand sich auch nur in der Nähe ihrer geplanten Route. Ganz offensichtlich hatte sie eine oder vielleicht sogar eine ganze Reihe von falschen Abzweigungen genommen, gleich nachdem sie den spiralförmigen Tunnel verlassen hatte, der die PVSJ-Station mit dem neuen Operationssaal verband.

Sie machte sich wieder auf den Weg und sah sich dabei genau die Tunnelwände und die Decke an, weil sie hoffte, durch die nächste Veränderung der Farbmarkierungen einen Hinweis darauf zu erhalten, wo sie sich möglicherweise befand. Sie fluchte laut über ihre eigene Dummheit und drückte jeden Selbsterklärungsknopf, an dem sie vorbeikam, gelangte aber bald zu dem Schluß, daß ihr beides nicht viel weiterhalf. Die Entscheidung, keinen unnötigen Lärm mehr zu veranstalten, erwies sich als klug, denn an der nächsten Tunnelkreuzung hörte sie entfernte Stimmen.

Timmins hatte ihr zwar verboten, mit irgend jemandem zu sprechen oder einen der öffentlichen Korridore zu betreten, aber wenn sie sowieso schon hoffnungslos vom Weg abgekommen war, dann sprach ihrer Meinung nichts dagegen, den Seitentunnel zu nehmen und auf die Stimmen zuzugehen. Vielleicht würde es ihr gelingen, durch genaues Hinhorchen an einem der Belüftungsgitter zu den Korridoren ein Gespräch aufzuschnappen, um auf diese Weise einen Hinweis auf ihren momentanen Aufenthaltsort zu bekommen.

Zwar schämte sich Cha Thrat bei diesem Gedanken, aber verglichen mit einigen der Überlegungen, die sie noch vor kurzem hatte anstellen müssen, war dieser Plan nur eine geringe persönliche Schande, mit der sie glaubte, leben zu können.

Die Unterhaltung der entfernten Stimmen wurde immer wieder von langen Pausen unterbrochen. Anfangs waren die Stimmen so leise und so weit entfernt, daß Cha Thrats Translator den Inhalt des Gesprächs nicht übersetzen konnte, und als sie sich endlich der Quelle genähert hatte, verharrten sie gerade wieder in langem Schweigen. Die Folge war, daß Cha Thrat, als sie an die nächste Kreuzung kam, plötzlich vor ihnen stand, bevor sie überhaupt eine Chance hatte, das Gespräch nur zu belauschen.

Es handelte sich um einen kelgianischen DBLF und einen terrestrischen DBDG in den Overalls des Wartungsdiensts, auf denen zusätzlich das Rangabzeichen des Monitorkorps prangte. Zwischen ihnen auf dem Boden lagen Werkzeuge und zerlegte Rohrstücke. Nachdem die beiden Techniker einen kurzen Blick nach oben auf Cha Thrat geworfen hatten, setzten sie ihre Unterhaltung ungerührt fort.

„Ich hatte mich schon die ganze Zeit gefragt, was da eigentlich durch den Tunnel auf uns zukommt und mehr Lärm als ein betrunkener Tralthaner veranstaltet“, sagte der Kelgianer. „Das muß die neue DCNF sein, von der man uns erzählt hat, daß sie heute ihren ersten Tag unter den Korridoren verbringt. Mit der dürfen wir nicht sprechen, obwohl ich dazu sowieso keine Lust hätte. Die sieht ganz schön komisch aus, findest du nicht?“

„Ich würde nicht mal im Traum daran denken, die anzusprechen oder mich von der auch nur ansprechen zu lassen“, erwiderte der DBDG. „Gib mir mal den Elfer-Schlüssel und halt dein Ende fest. Glaubst du, die hat eine Ahnung, wo der Gang hinführt?“

Der Kelgianer drehte seinen kegelförmigen Kopf kurz in die Richtung, in die Cha Thrat weitergehen wollte, und antwortete: „Das weiß sie erst dann, wenn sie das Gefühl gehabt hat, die Tunnelwände kämen langsam auf sie zu, und der drohenden Klaustrophobie mit einem Schuß Agoraphobie durch einen Spaziergang auf der Außenwand entgegenwirken will.“ Dann murmelte er vor sich hin: „Ach, das hier ist einfach keine Arbeit für einen höheren Unteroffizier wie mich, der, wenn es stimmt, was der Major neulich gesagt hat, kurz vor der Beförderung zum Lieutenant des Monitorkorps steht.“

„Das hier ist für niemanden eine Arbeit, also mach dir darüber mal keine Gedanken“, meinte der Terrestrier, wobei er demonstrativ in den Gang zu seiner Linken blickte. „Andererseits könnte sie auch einen Abstecher zur VTXM-Abteilung im Auge haben. Das ist natürlich ganz schön blöd und auch nicht gerade gesund, wenn man nur einen leichten Schutzanzug trägt. Aber Wartungslehrlinge müssen wohl blöd sein, sonst würden sie sich nach irgendeinem anderen Job umsehen.“

Der Kelgianer stieß einen verärgerten Laut aus, der vom Translator nicht übersetzt wurde, und sagte: „Warum haben wir eigentlich in der unendlichen Weite des bislang erforschten Universums noch nie eine Lebensform entdeckt, deren Körperausscheidungen gut riechen?“

„Mein pelziger Freund“, erwiderte der Terrestrier, „ich glaube, damit hast du eine der großen philosophischen Wahrheiten unserer Zeit angeschnitten. Und wo wir schon bei unerklärlichen Phänomenen sind: Wie konnte eine melfanische Dehnsonde der Größe drei in das Abwasserleitungsnetz geraten und durch vier Ebenen gespült werden, bevor sie hier unten alles verstopft hat?“

Cha Thrat sah, wie sich das Fell des Kelgianers unter dem Overall kräuselte, als er entgegnete: „Glaubst du wirklich, daß die DCNF blöd ist? Will die da etwa den ganzen Tag nur dumm rumstehen und uns beobachten? Oder hat sie vor, uns nach Hause zu begleiten?“

„Nach dem, was ich über Sommaradvaner gehört habe“, antwortete der DBDG, wobei er Cha Thrat immer noch nicht direkt ansah, „würde ich nicht sagen, daß sie direkt blöd ist, sondern eher ein bißchen schwer von Begriff.“

„Ausgesprochen schwer von Begriff“, pflichtete ihm der Kelgianer bei.

Doch Cha Thrat war bereits klargeworden, daß das mitgehörte Gespräch drei genaue Hinweise enthalten hatte, die, so sehr sie auch zwischen abwertenden und persönlich beleidigenden Äußerungen versteckt waren, es ihr leicht ermöglichen würden, ihren Standort zu bestimmen und auf die geplante Route zurückzukehren. Einen Moment lang betrachtete sie die zwei Wartungstechniker und bedauerte, daß sie nicht mit ihnen sprechen durfte. Sie verabschiedete sich mit dem sommaradvanischen Zeichen des Danks zwischen Gleichgestellten und wandte sich dann ab, um in die einzige Richtung zu gehen, die die beiden nicht erwähnt hatten.

„Ich glaube, die hat mit dem mittleren Vorderglied irgendeine unanständige Geste gemacht“, bemerkte der Kelgianer.

„An ihrer Stelle hätte ich das auch getan“, antwortete der Terrestrier.

Den restlichen Teil der endlosen Strecke überprüfte Cha Thrat jeden Richtungswechsel zweimal und hielt auf dem Weg zur Ebene einhundertzwanzig unentwegt nach unerwarteten Veränderungen der Farbmarkierungen Ausschau. Sie legte nur noch eine kurze Pause ein, um ein weiteres großes Loch in ihre Lebensmittelvorräte zu reißen. Als sie schließlich die Einstiegsluke zwölf öffnete und in den Korridor sieben stieg, wurde sie dort von Timmins bereits erwartet.

„Gut gemacht, Cha Thrat, Sie haben es geschafft!“ lobte der Terrestrier sie mit entblößten Zähnen. „Nächstes Mal sollte ich die Strecke ein Stückchen länger und komplizierter gestalten. Danach werde ich Sie schon mal bei ein paar einfacheren Arbeiten aushelfen lassen. Allmählich können Sie ruhig damit anfangen, sich hier Ihren Lebensunterhalt zu verdienen.“

Erfreut und ein bißchen verwirrt antwortete Cha Thrat: „Ich dachte, ich wäre zu früh am Ziel angekommen. Habe ich Sie lange warten lassen?“

Timmins schüttelte den Kopf „Der Notsignalgeber war nur zu Ihrer persönlichen Beruhigung da, falls Sie sich verirrt geglaubt oder Angst bekommen hätten. Das war Teil des Tests. Doch wir verfolgen unsere Leute ständig über Sensoren, deshalb wußte ich über jede Ihrer Bewegungen Bescheid. Ganz schön hinterhältig von mir, nicht wahr? Aber einmal sind Sie sehr nah an einem Wartungsteam vorbeigekommen. Ich hoffe, Sie haben sich bei denen nicht nach dem Weg erkundigt. Sie kennen ja die Regel.“

Cha Thrat fragte sich, ob es überhaupt eine Regel im Orbit Hospital gab, die so starr war, daß man sie nicht für sich zurechtbiegen konnte, und hoffte, die äußeren Anzeichen für ihre Verlegenheit könnten nicht von einem Mitglied einer fremden Spezies in ihrem Gesicht gelesen werden.

„Nein“, antwortete sie wahrheitsgemäß. „Wir haben kein Wort miteinander gewechselt.“

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