2. Kapitel

Braithwaite verließ die Kantine, bevor die anderen mit dem Essen fertig waren, und entschuldigte sich damit, daß O'Mara seine Gedärme als Strumpfhalter verwenden würde, falls er zwei Tage hintereinander zu spät vom Mittagessen zurückkäme. Über O'Mara wußte Cha Thrat nicht mehr, als daß er so etwas wie ein außerordentlich geachteter und gefürchteter Herrscher war, aber diese Strafe für Unpünktlichkeit klang doch ein wenig übertrieben. Danalta sagte ihr, sie solle sich darüber aber keine Gedanken machen, da Terrestrier häufig solche unglaublich übertriebenen Erklärungen abgäben. Es handle sich dabei um eine Art Sprachcode, den man untereinander verwende und der einen losen Zusammenhang mit dem assoziativen Denkprozeß habe, den man Humor nenne.

„Ich verstehe“, entgegnete Cha Thrat.

„Ich nicht“, fügte Danalta hinzu.

Der Herrscher des Schiffs Chiang bellte leise vor sich hin, sagte aber nichts.

Da sich Braithwaite davongemacht hatte, war der Gestaltwandler ihr einziger Führer auf dem noch längeren und komplizierteren Weg zu jener Station, auf der sich Chiang untersuchen lassen sollte — dabei handelte es sich nach Cha Thrats Information um eine der kombinierten Unfallaufnahme- und Beobachtungsstationen, die der Behandlung von warmblütigen Sauerstoffatmern vorbehalten waren. Danalta hatte wieder seine eigene Gestalt einer dunkelgrünen und ungleichmäßigen Riesenkugel angenommen und bewegte sich auf den Korridoren und Gängen mit überraschender Geschwindigkeit und Gewandtheit durch das Gedränge fahrender und gehender Aliens. Cha Thrat fragte sich, ob es ihm lediglich zu große Mühe machte, die sommaradvanische Gestalt beizubehalten, oder ob er spürte, daß sie solche psychologischen Krücken jetzt nicht mehr brauchte.

Zwar war der Raum überraschend groß, doch blieb durch die vielen verschiedenen Untersuchungstische und die dazugehörenden Geräte, die den Boden und die Wände fast völlig verdeckten, nur wenig von ihm übrig. Es gab eine Zuschauergalerie für Besucher und Auszubildende, und Danalta schlug Cha Thrat vor, dort in dem für sie am wenigsten unbequemen Stuhl Platz zu nehmen, während sie warteten. Eins der Wesen mit silbernem Fell hatte Chiang bereits zur Vorbereitung auf die Untersuchung weggebracht.

„Hier oben können wir alles, was da unten vor sich geht, sehen und hören“, erklärte Danalta. „Aber man kann uns nicht hören. Es sei denn, Sie drücken die Sprechtaste hier an der Seite des Stuhls. Falls man Ihnen irgendwelche Fragen stellt, müssen Sie die benutzen.“

Ein zweites Wesen mit silbernem Fell — möglicherweise war es auch dasselbe wie vorhin — bewegte sich wellenförmig in den Saal, nahm ein paar anscheinend sinnlose Handgriffe an einem bislang unbegreiflichen Gerät vor und blickte beim Hinausgehen kurz zu ihnen herauf.

„Und jetzt warten wir am besten einfach ab, was passiert“, fuhr Danalta fort. „Aber Ihnen müssen doch einige Fragen regelrecht auf der Zunge brennen, Cha Thrat. Uns bleibt bestimmt noch genügend Zeit, um ein paar davon zu behandeln.“

Der Gestaltwandler hatte die klumpige Form einer grünen Halbkugel beibehalten, die bis auf ein knollenförmiges Auge und einen dünnen fleischigen Auswuchs, der die Aufgaben des Hörens und Sprechens zu verbinden schien, keine besonderen Merkmale aufwies. Im Laufe der Zeit gewöhnt man sich an alles, dachte Cha Thrat — allerdings nicht an die mangelnde Disziplin dieser Wesen und auch nicht an deren Abneigung, ihren Verantwortungsbereich und die Grenzen ihrer Befugnis genau zu bestimmen.

„Bisher weiß ich noch zu wenig und bin von all den neuen Eindrücken zu verwirrt, um die richtigen Fragen zu stellen“, entgegnete sie in sorgfältig gewählten Worten. „Aber darf ich vielleicht mit der Bitte um eine ausführliche Darlegung Ihres persönlichen Aufgaben- und Verantwortungsbereichs sowie der Klasse von Patienten, die Sie behandeln, beginnen?“

Die Antwort darauf verwirrte sie jedoch noch mehr als alles andere zuvor.

„Ich behandle keine Patienten“, antwortete Danalta, „und wenn es keinen schwerwiegenden Notfall gibt, der eine chirurgische Behandlung erfordert, werde ich auch nicht darum gebeten. Was meinen Dienst angeht, bin ich Mitglied des medizinischen Teams der Rhabwar. Das ist das speziell für die Belange des Hospitals ausgerüstete Ambulanzschiff, auf dem eine technische Crew aus Offizieren des Monitorkorps zusammen mit einem Ärzteteam arbeitet, das den Oberbefehl übernimmt, sobald das Ambulanzschiff die Position des verunglückten Schiffs oder, je nachdem, den Schauplatz der Katastrophe erreicht hat.

Zum medizinischen Team“, fuhr er fort, ohne Cha Thrats Verwirrung zu beachten, „das von dem cinrusskischen Empathen Prilicla geleitet wird, gehören außerdem Murchison, eine Terrestrierin, Oberschwester Naydrad, eine in der Bergung im All erfahrene Kelgianerin, und ich. Meine Aufgabe ist es, die Fähigkeit des Gestaltenwechsels einzusetzen, um zu Verunglückten vorzudringen, die möglicherweise noch in Bereichen eingeschlossen sind, die für Wesen mit begrenzter körperlicher Anpassungsfähigkeit unzugänglich sind. Dort leiste ich Erste Hilfe und tue alles mir Mögliche zur Unterstützung der Verletzten, bis die Bergungsmannschaft in der Lage ist, sie zu befreien und aufs Ambulanzschiff zu bringen, um sie dann so schnell wie möglich zum Hospital weiterzutransportieren. Sie werden verstehen, daß man durch das Ausstülpen von Gliedmaßen und Fühlern in jeder erforderlichen Form in den sehr beengten Verhältnissen im Innern eines stark beschädigten Raumschiffs nützliche Arbeit verrichten kann, und zuweilen gelingt es mir sogar, einen wirklich wertvollen Beitrag zur Rettung von Überlebenden zu leisten. Aber wenn ich ehrlich bin, muß ich gestehen, daß die eigentliche Arbeit fast immer vom Hospital erledigt wird.

Das ist also mein Platz in diesem medizinischen Tollhaus“, beendete Danalta seine Ausführungen.

Cha Thrats Verwirrung war mit jedem Wort gestiegen. Zweifellos besaß dieser Alien gewisse körperliche Fähigkeiten und geistige Begabungen, aber war er wirklich bloß ein Diener? Falls Danalta ihre Verwirrung spürte, verkannte er jedenfalls deren Ursache.

„Natürlich habe ich auch noch andere Aufgaben“, fuhr er fort und stieß mit seinem unterrestrischen Mund ein höchst terrestrisches Bellen aus. „Als ich noch relativ neu im Hospital war, hat man mich zum Empfang von Neuankömmlingen wie Ihnen geschickt, weil man annahm, ich würde denen helfen, wenn sie. Achtung, Cha Thrat! Gerade wird Ihr ehemaliger Patient hereingebracht.“

Zwei der Wesen mit silbernem Fell, die Danalta als kelgianische Operationsschwestern bezeichnete, brachten Chiang auf einer Elektrotrage herein, obwohl der Herrscher des Schiffs durchaus gehfähig war und er diese Tatsache den beiden Schwestern auch ständig in Erinnerung rief. Der terrestrische Leib war in ein grünes Tuch gehüllt, so daß nur noch der Kopf sichtbar war. Während die zwei Schwestern ihn zum Untersuchungstisch transportierten, hielten Chiangs Proteste an, bis ihn eine der beiden Kelgianerinnen in einer Art und Weise, die jeden einem Herrscher gebührenden Respekt vermissen ließ, daran erinnerte, daß er schließlich ein erwachsenes Wesen mit einer gewissen Reife sei und endlich aufhören solle, sich wie ein Kleinkind zu benehmen.

Bevor die Schwester ihre Ermahnung beendet hatte, kam ein sechsbeiniger Alien mit Ektoskelett und einem hohen, üppig gezeichneten Rückenpanzer herein und näherte sich dem Untersuchungstisch. Schweigend streckte er seine Greifzangen aus und wartete, bis die Substanz, mit der eine der Schwestern diese besprüht hatte, zu einem dünnen, transparenten Film getrocknet war.

„Das ist Chefarzt Edanelt“, sagte Danalta. „Er ist Melfaner und gehört zur physiologischen Klassifikation ELNT, deren Ruf in der Chirurgie.“

„Sie müssen meine Unwissenheit schon entschuldigen“, unterbrach ihn Cha Thrat, „aber abgesehen davon, daß ich eine DCNF bin, die Terrestrier zu den DBDGs gehören und der Melfarier ein ELNT ist, weiß ich nichts über Ihr Klassifikationssystem.“

„Das werden Sie schon noch lernen“, beruhigte sie der Gestaltwandler. „Vorläufig schauen Sie am besten einfach nur zu und halten sich für etwaige Fragen bereit.“

Aber es wurden keine Fragen gestellt. Edanelt sprach im Verlauf der Untersuchung kein Wort, und die Schwestern und der Patient ließen ebenfalls nichts verlauten. Cha Thrat lernte den Verwendungszweck von einem der Geräte kennen, einem Tiefenscanner, der in den kleinsten Einzelheiten das unter der Haut liegende Blutversorgungsnetz, die Muskulatur, den Knochenbau und sogar die Bewegungen der tiefsten inneren Organe zeigte. Die Bilder wurden auf den Bildschirm der Zuschauergalerie übertragen. Dazu erschienen eine Menge physiologischer Daten, die zwar in graphischer Form dargestellt wurden, Cha Thrat aber dennoch vollkommen unverständlich blieben.

„Das ist auch noch etwas, das Sie im Laufe der Zeit lernen werden“, merkte Danalta an.

Cha Thrat hatte den Schirm scharf beobachtet und war von Edanelts peinlich genauem Aufzeichnen der chirurgischen Arbeit, die sie auf Sommaradva an Chiang geleistet hatte, derart gefesselt, daß ihr nicht bewußt war, die ganze Zeit über laut gedacht zu haben. Sie schaute aber noch rechtzeitig auf, um Zeuge der Ankunft eines weiteren und noch unglaublicher aussehenden Aliens zu werden.

„Das ist Prilicla“, erklärte Danalta knapp.

Prilicla war ein Insekt, ein riesiges, ungeheuer zerbrechlich wirkendes Fluginsekt, das jedoch im Verhältnis zu den anderen Wesen im Saal klein war. An seinem röhrenförmigen Körper mit Ektoskelett befanden sich sechs bleistiftdünne Beine, vier noch feiner gebaute Greiforgane und zwei breite, schimmernde Flügelpaare, mit denen er langsam schlagend zum Untersuchungstisch flog, über dem er dann in der Luft schwebte. Plötzlich drehte er sich mit einem Ruck um, heftete seine mit Saugnäpfen versehenen Füße an die Decke und bog seine ausstreckbaren Augen nach unten, um den Patienten genauer zu betrachten.

Aus irgendeiner Stelle seines Körper drang eine Folge von melodischen, rollenden Schnalzlauten hervor, die Cha Thrats Translator als „Freund Chiang, Sie sehen ganz so aus, als wären Sie im Krieg gewesen“ übersetzte.

„Wir sind doch keine Wilden!“ protestierte Cha Thrat wütend. „Auf Sommaradva hat es seit acht Generationen keinen Krieg mehr gegeben.“

Sie brach abrupt ab, da die langen, äußerst dünnen Beine und die zum Teil gefalteten Flügel des Insekts zu zittern begannen. Es war, als würde durch den Saal ein starker Wind wehen. Alles auf und um den Untersuchungstisch herum starrte auf den kleinen Alien, drehte sich dann geschlossen um und blickte zur Zuschauergalerie hinauf — auf sie.

„Prilicla ist ein echter Empath“, fuhr Danalta sie in scharfem Ton an. „Er empfindet genau das, was Sie empfinden. Also beherrschen Sie bitte Ihre Gefühle!“

Cha Thrat fiel es allerdings sehr schwer, ihre Gefühle zu beherrschen: Das lag nicht nur an ihrem Zorn über die angedeutete Beleidigung ihrer seit langem friedliebenden Spezies, sondern auch an ihrem grundsätzlichen Zweifel, daß solch eine Beherrschung überhaupt notwendig war. Zwar war sie schon oft gezwungen gewesen, Ihre Gefühle vor Vorgesetzten oder Patienten zu verbergen, aber der Versuch, Emotionen zu beherrschen, war eine vollkommen neue Erfahrung. Nur mit großer Anstrengung — die seltsamerweise eine Art bewußter Verneinung von Anstrengung zu sein schien — gelang es ihr schließlich, sich zu beruhigen.

„Ich danke Ihnen, meine neue Freundin“, trillerte der Empath, und als er sich wieder Chiang zuwandte, zitterte er nicht mehr.

„Werte Doktoren, Ihr Anliegen mag ja ehrenhaft sein, aber Sie vergeuden mit mir nur Ihre kostbare Zeit“, rief der Terrestrier. „Ehrlich, ich fühle mich großartig.“

Prilicla stieß sich von der Decke ab, schwebte über der Stelle, an der sich Chiangs Verletzungen befanden, die er sich erst kürzlich auf Sommaradva zugezogen hatte, und berührte die Narben mit seinen federleichten Tastorganen. „Ich weiß, wie Sie sich fühlen, Freund Chiang, aber unsere Zeit vergeuden wir keineswegs“, entgegnete er. „Oder wollen Sie uns, einem Melfaner und einem Cinrussker, die beide darauf erpicht sind, ihre Fachkenntnisse über andere Spezies ständig zu erweitern, allen Ernstes die Möglichkeit nehmen, ein wenig an einem Terrestrier herumzudoktern, selbst wenn dieser kerngesund ist?“

„Eigentlich nicht“, antwortete Chiang und fügte leise bellend hinzu: „Aber es wäre für Sie bestimmt interessanter gewesen, wenn Sie mich direkt nach dem Absturz gesehen hätten.“

Während der Empath wieder an die Decke zurückkehrte, fragte er den Melfaner: „Wie lautet Ihre Beurteilung, Freund Edanelt?“

„Die chirurgischen Arbeiten sind zwar nicht so, wie ich sie ausgeführt hätte“, erwiderte der Melfaner, „sie sind aber. nun, ich würde mal sagen, ausreichend.“

„Mein lieber Freund Edanelt“, entgegnete der Empath freundlich mit einem kurzen Seitenblick zur Galerie, „bis auf das neueste Mitglied unseres Stabs wissen wir alle, daß die operativen Eingriffe, die Sie lediglich als ausreichend erachten, von Conway höchstpersönlich als vorbildlich bezeichnet werden würden. Wenigstens wäre es höchst interessant, mehr über die prä- und postoperative Krankengeschichte zu erfahren.“

„Das habe ich auch gerade gedacht“, pflichtete ihm der Melfaner bei. Seine sechs knochigen Füße erzeugten ein rasches, unregelmäßiges Klackern, während er sich der Zuschauergalerie zuwandte. „Würden Sie bitte zu uns herunterkommen?“

Cha Thrat befreite sich rasch aus dem Alienstuhl, und in dem Bewußtsein, daß jetzt sie an der Reihe war, sich einer noch eingehenderen Untersuchung zu unterziehen, einer, die wahrscheinlich eher ihre berufliche als ihre körperliche Tauglichkeit für den Dienst im Orbit Hospital unter Beweis stellen sollte, folgte sie Danalta nach unten in den Saal zu den anderen am Tisch.

Diese Aussicht mußte sie mehr geängstigt haben, als ihr bewußt war,

denn der Empath begann erneut zu zittern. Zudem war es beunruhigend, ja sogar erschreckend, dem Cinrussker plötzlich so nah zu sein. Auf Sommaradva muß man großen Insekten aus dem Weg gehen, weil sie ausnahmslos tödliche Stacheln besitzen. Ihre Instinkte drängten sie, dieses Insekt entweder totzuschlagen oder vor ihm zu fliehen. Insekten hatte sie noch nie ausstehen können und es deshalb immer vermieden, sie aus der Nähe zu betrachten. Jetzt aber blieb ihr keine andere Wahl.

Doch von der komplizierten Symmetrie der zitternden Glieder und des außergewöhnlich zerbrechlich wirkenden Körpers, dessen dunkler Schimmer Farben widerzuspiegeln schien, die im Raum gar nicht vorhanden waren, ging eine unaufdringliche optische Anziehungskraft aus. Der Kopf war — bildlich gesprochen — eine fremdartige, spiralförmig gewundene Eierschale von einem derart feinen Bau, als müßten die an ihm sitzenden Fühler und Greiforgane bei der ersten heftigen Bewegung abfallen. Aber es war die komplexe Struktur und Färbung der teilweise gefalteten Flügel, scheinbar aus einem hauchdünnen, schillernden, auf ein Gerüst aus unvorstellbar dünnen Zweigen gespannten Stoff bestehend, durch die ihr bewußt wurde, daß dieses Insekt, ob nun Alien oder nicht, eins der schönsten Geschöpfe war, das sie je gesehen hatte — zudem konnte sie es jetzt sehr deutlich erkennen, weil Priliclas Gliedmaßen nicht mehr zitterten.

„Nochmals vielen Dank, Cha Thrat“, sagte der Empath. „Sie lernen schnell. Und keine Sorge, wir sind Ihre Freunde und wünschen Ihnen alles Gute.“

Edanelts Füße klackerten erneut unregelmäßig auf dem Boden; womöglich war dieses Geräusch ein Zeichen von Ungeduld. „Führen Sie uns bitte Ihren Patienten vor“, forderte er Cha Thrat auf.

Einen Moment lang blickte sie auf den Terrestrier hinunter, auf den rosafarbenen, eigenartig geformten Alienkörper, der ihr durch den Unfall so vertraut geworden war. Sie erinnerte sich, wie er ausgesehen hatte, als er ihr zum erstenmal vor Augen gekommen war: die blutenden, offenen Wunden und die gebrochenen, heraustretenden Knochen; der allgemeine Zustand, der die sofortige Verabreichung von Beruhigungsmitteln bis zum Exitus stark angebracht erschienen ließ. Selbst jetzt fand sie noch immer nicht die passenden Worte, um zu erklären, warum sie das Leben dieses Terrestriers nicht beendet hatte. Abermals blickte sie an die Decke zum Cinrussker hinauf.

Obwohl Prilicla nichts sagte, hatte Cha Thrat dennoch das Gefühl, als ginge von dem kleinen Empathen eine beruhigende und aufmunternde Ausstrahlung aus. Das war natürlich eine alberne Vorstellung, die wahrscheinlich ebenso absurdem wie törichtem Wunschdenken entsprang, aber trotzdem beruhigend auf sie wirkte.

„Dieser Patient ist einer von drei Insassen eines Flugzeugs gewesen, das in einen Bergsee stürzte“, berichtete Cha Thrat mit ruhiger Stimme. „Bevor das Wrack gesunken ist, wurden noch ein sommaradvanischer Pilot und ein weiterer Terrestrier daraus geborgen, die aber bereits beide tot waren. Der Überlebende wurde an Land gebracht und von einem Heiler untersucht, der nicht ausreichend qualifiziert war und mich kommen ließ, da er wußte, daß ich in der betreffenden Gegend gerade einen Erholungsurlaub verbrachte.

Der Patient hatte sich durch gewaltsamen Kontakt mit dem Metall des Flugzeugs an den Gliedmaßen und am Rumpf zahlreiche Schnitt- und Rißwunden zugezogen und fortgesetzt Blut verloren. Unterschiede im Aussehen der Glieder auf der rechten und der linken Seite ließen auf mehrfache Frakturen schließen, von denen eine sofort an dem durch die Haut gestoßenen Knochen am linken Bein zu erkennen war. Da es keine Anzeichen für Blutungen aus den Atem- und Sprechöffnungen des Patienten gab, konnte man davon ausgehen, daß in der Lunge und im Bauchbereich keine ernsthaften Verletzungen vorlagen. Natürlich mußte ich das ganze Für und Wider dieses Falls genau erwägen, bevor ich mich bereit erklärte, den Patienten zu übernehmen.“

„Natürlich“, stimmte Edanelt zu. „Sie haben vor dem Problem gestanden, einen Angehörigen einer außerplanetarischen Spezies mit einer Physiologie und einem Metabolismus zu behandeln, mit denen Sie vorher keine praktischen Erfahrungen machen konnten. Oder besitzen Sie womöglich doch irgendwelche Vorkenntnisse? Haben Sie nicht mit dem Gedanken gespielt, einen Arzt derselben Spezies zu rufen?“

„Ich hatte ja bis dahin noch nie einen Terrestrier gesehen“, antwortete Cha Thrat. „Ich wußte nur, daß sich eins ihrer Schiffe im Orbit über Sommaradva befand und der freundschaftliche Kontakt weitgehend hergestellt war. Wie ich gehört hatte, reisten die Terrestrier überall zwischen unseren Hauptstädten herum und benutzten dabei häufig unsere Luftverkehrsmittel, wahrscheinlich, um auf diese Weise Erkenntnisse über unseren technologischen Stand zu sammeln. Jedenfalls habe ich eine Nachricht in die nächste Stadt geschickt, in der Hoffnung, man würde sie an die Terrestrier weiterleiten, allerdings war es unwahrscheinlich, daß sie noch rechtzeitig eintreffen könnte. Die Gegend ist nämlich sehr abgeschieden, stark bewaldet und nur äußerst dünn besiedelt. Die Möglichkeiten waren also begrenzt, und die Zeit war knapp.“

„Ich verstehe“, sagte Edanelt. „Aber jetzt beschreiben Sie uns bitte Ihre Vorgehensweise.“

Während sie sich zurückerinnerte, sah Cha Thrat erneut das Gewirr von Narben und die dunklen, durch Quetschungen hervorgerufenen Blutergüsse vor sich, die sich noch nicht aufgelöst hatten.

„Zum Zeitpunkt der Behandlung war mir nicht bekannt, daß einheimische Krankheitserreger auf Lebensformen von anderen Planeten keinen Einfluß haben, deshalb schien mir ernste Infektionsgefahr zu bestehen. Außerdem bin ich davon ausgegangen, daß sommaradvanische Medikamente und Narkotika wirkungslos, wenn nicht sogar tödlich sein könnten. Das einzig angezeigte Vorgehen bestand also darin, die Wunden, insbesondere diejenigen, die durch die Frakturen verursacht worden waren, gründlich mit destilliertem Wasser auszuspülen. Beim Richten der Brüche waren an den entsprechenden Stellen zudem einige kleinere Eingriffe an geschädigten Blutgefäßen erforderlich. Die Schnittwunden wurden genäht und verbunden und die gebrochenen Gliedmaßen ruhiggestellt. Die Behandlung ist sehr schnell durchgeführt worden, da der Patient bei Bewußtsein war und.“

„Allerdings nicht lange“, warf Chiang leise ein. „Ich bin nämlich ohnmächtig geworden.“

„… und der Puls schwach und unregelmäßig zu sein schien, obwohl ich die für Terrestrier normalen Werte natürlich nicht kannte“, fuhr Cha Thrat fort. „Die einzigen Mittel, die mir zur Bekämpfung des Schocks und der Folgen des Blutverlusts zur Verfügung standen, waren die äußerliche Erwärmung, die ich durch brennendes Holz im Windschatten des Patienten erzielt habe, um das Operationsfeld nicht durch Rauch und Asche zu infizieren, sowie durch reines Wasser, das ich intravenös verabreichte, nachdem der Patient das Bewußtsein verloren hatte. Ich war mir nicht sicher, ob unsere Salzlösung heilsam oder giftig sein würde. Mittlerweile ist mir klar, daß ich übervorsichtig gewesen bin, aber ich wollte nicht den Verlust einer Gliedmaße riskieren.“

„Natürlich. aber schildern Sie uns doch bitte jetzt Ihre postoperative Behandlungsmethode“, forderte Edanelt sie auf.

„Der Patient kam spät abends wieder zu Bewußtsein“, fuhr Cha Thrat fort. „Geistig und sprachlich machte er einen klaren Eindruck, obwohl ich die genaue Bedeutung einiger Worte nicht verstand, da sie sich auf das Schicksal des defekten Flugzeugs und von mir selbst bezogen und die gesamte aktuelle Situation mit einer ausgesprochen unangenehmen Hypothese über ein Leben nach dem Tod vermengten. Weil sich die einheimischen Pflanzen wahrscheinlich als schädlich erwiesen hätten, konnte der Patient nur mit oral zugeführtem Wasser versorgt werden. Er klagte über starke Beschwerden an den verletzten Stellen. Die Verabreichung sommaradvanischer Schmerzmittel war aber nicht möglich, da sie sich womöglich als giftig herausgestellt hätten, so daß der Verletzte nur durch beruhigendes und ermunterndes Zureden behandelt werden konnte.“

„Drei volle Tage hat sie ununterbrochen auf mich eingeredet“, ergänzte Chiang. „Sie hat mir Fragen über meine Arbeit gestellt und was ich nach der Rückkehr in den aktiven Dienst machen würde, als für mich schon so gut wie feststand, den Heimweg in einer länglichen Kiste antreten zu müssen. Manchmal hat sie so viel geredet, daß ich einfach eingeschlafen bin.“

An Priliclas Gliedmaßen war ein leichtes Zittern wahrzunehmen, und Cha Thrat fragte sich, ob der Cinrussker so feinfühlig war, daß er sogar die schmerzhaften Erinnerungen des Terrestriers mitempfand.

„Aufgrund mehrerer dringender Bitten trafen schließlich fünf Mitglieder der Spezies des Patienten ein, unter denen auch ein Heiler war, die geeignete Nahrungsmittel und Medikamente mitbrachten“, setzte sie den Bericht fort. „Danach schritt die Genesung rasch voran. Der terrestrische Heiler gab mir Ratschläge zur Ernährung und zur Dosierung der Medikamente, und es stand ihm jederzeit frei, den Patienten zu untersuchen, aber weitere operative Eingriffe wollte ich keinesfalls zulassen. Dazu sollte ich vielleicht erklären, daß auf Sommaradva kein Chirurg die persönliche Verantwortung für einen Patienten mit jemand anderem teilt oder gar versucht, sich ihr auf irgendeine andere Weise zu entziehen. Dabei ist mein Standpunkt heftig kritisiert worden, sowohl in persönlicher als auch in fachlicher Hinsicht, und zwar besonders von dem terrestrischen Heiler. Ich habe mich geweigert, dem Transport des Patienten auf das terrestrische Schiff vor Ablauf von achtzehn Tagen nach der Operation zuzustimmen, weil ich erst dann davon überzeugt sein konnte, daß eine vollständige Genesung gewährleistet war.“

„Sie hat wie eine Glucke über mich gewacht“, fügte Chiang mit einem gedämpften Bellen hinzu.

Es trat ein — zumindest nach Cha Thrats Eindruck — sehr langes Schweigen ein, während dessen alle Augen auf den Melfaner gerichtet waren, der seinerseits den Patienten betrachtete. Er klopfte mit einem seiner harten Beinenden auf den Boden, aber diesmal hörte sich das dadurch hervorgerufene Geräusch eher nachdenklich als ungeduldig an.

Schließlich sagte Edanelt: „Ohne den sofortigen chirurgischen Eingriff wären Sie Ihren Verletzungen zweifellos erlegen, Major. Sie hatten wirklich riesiges Glück. Schließlich sind sie von einem Lebewesen versorgt und behandelt worden, dem Ihre physiologische Klassifikation vollkommen unbekannt war. Genauso ein Glück war es, daß das betreffende Wesen nicht nur sehr viel Geschick und Einfallsreichtum an den Tag gelegt hat, als es sich um Ihre Nachbehandlung kümmerte, sondern auch den richtigen Gebrauch von den ihm zur Verfügung stehenden begrenzten Möglichkeiten gemacht hat. Ich kann an der hier geleisteten chirurgischen Arbeit keinen ernsthaften Fehler entdecken. Mit dem Patienten vergeuden wir tatsächlich nur unsere Zeit.“

Auf einmal richteten sich alle Augen auf Cha Thrat, doch es war der Empath, der als erster das Wort ergriff.

„Sie können wirklich stolz sein, Cha Thrat. Aus Edanelts Mund ist das ein echtes Lob“, versicherte er.

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