Cha Thrat erhielt zwei zusätzliche freie Tage, aber ob das als Belohnung für ihre Hilfe bei AUGL-Eins-Sechzehn gemeint war oder O'Mara solange brauchte, um ihren Wechsel an die Geriatrie für FROBs in die Wege zu leiten, wollte Cresk-Sar nicht verraten. Die Sommaradvanerin stattete Eins-Sechzehn drei ausgedehnte Besuche in der AUGL-Station ab, in der sie so herzlich aufgenommen wurde, daß sich das lauwarme Wasser fast in Eis verwandelte, aber sie wollte es nicht riskieren, noch einmal zum Freizeitbereich zu gehen oder das Hospital auf eigene Faust zu erkunden. Die Chance, in Schwierigkeiten zu geraten, war geringer, wenn sie auf ihrem Zimmer blieb und sich das Programm auf den Schulungskanälen ansah.
Tarsedth erklärte sie für so verrückt, daß sie ihrer Ansicht nach in eine Anstalt gehöre, und wunderte sich, warum O'Mara diese Diagnose nicht bestätigt hatte.
Zwei Tage später erhielt Cha Thrat die Mitteilung, rechtzeitig zum Frühdienst in der Geriatrie für FROBs zu erscheinen und sich bei der leitenden DBLF-Schwester zu melden. Cresk-Sar sagte, daß es diesmal nicht notwendig sei, sie auf der Station vorzustellen, da Oberschwester Segroth — wie wahrscheinlich sämtliche Mitarbeiter des Hospitals — mittlerweile alles Wissenswerte über sie erfahren haben dürfte. Das mag auch der Grund gewesen sein, weshalb man Cha Thrat nach ihrem überpünktlichen Eintreffen erst gar nicht zu Wort kommen ließ.
„Das hier ist eine chirurgische Station“, erklärte ihr Segroth beflissen und deutete auf die Monitorreihen, die allein drei Wände des Personalraums einnahmen. „Wir haben siebzig hudlarische Patienten und sind einschließlich Ihnen zweiunddreißig Schwestern und Krankenpfleger. Alle Mitarbeiter sind warmblütige Sauerstoffarmer verschiedener Spezies, und auch Sie brauchen bei den hiesigen Umweltbedingungen keine andere Ausrüstung als einen G-Gürtel und einen Atemschutz. Die FROBs sind in prä- und postoperative Patienten eingeteilt und durch eine licht- und schalldichte Wand voneinander getrennt. Solange Sie hier noch nicht Bescheid wissen, werden Sie sich mit keinem der postoperativen Patienten befassen oder sich ihm auch nur nähern.“
Bevor Cha Thrat Zeit hatte zu sagen, daß sie verstanden habe, fuhr die Kelgianerin schon fort: „Wir haben hier einen FROB-Schüler, einen Klassenkameraden von Ihnen, der Ihnen bestimmt mit Vergnügen all die Fragen beantworten wird, die Sie mir aus Angst nicht zu stellen wagen.“
Das silberne Fell kräuselte sich an den Flanken in unregelmäßigen Wellen, und zwar auf eine Art, die, wie Cha Thrat durch die Beobachtung von Tarsedth in Erfahrung gebracht hatte, nichts anderes als Zorn und Ungeduld bedeuten konnte. „Nach dem, was ich von Ihnen gehört habe, Schwester“, erzählte die DBLF unbeirrt weiter, „sind Sie eine von der Sorte, die sich das über die Hudlarer verfügbare Material längst angeschaut hat und nun ungeduldig darauf wartet, einen eigenen Beitrag zu leisten. Versuchen Sie das gar nicht erst. Bei dieser Station handelt es sich um ein vom Diagnostiker Conway speziell eingerichtetes Projekt, und wir erschließen hier chirurgisches Neuland, deshalb sind Ihre Kenntnisse bereits überholt. Bis auf die wenigen Male, bei denen O'Mara Sie für den Patienten AUGL-Eins-Sechzehn braucht, werden Sie nichts anderes tun als Zusehen und Zuhören und nur hin und wieder auf Anweisung der erfahreneren Schwestern und Pfleger oder von mir ein paar einfache Aufgaben verrichten.
Ich will nämlich nicht gleich am ersten Tag von Ihnen durch eine Wunderheilung in Verlegenheit gebracht werden“, schloß sie.
Es war einfach, ihren FROB-Klassenkameraden unter dem übrigen diensthabenden Personal, das sich teils aus kelgianischen DBLFs und teils aus melfanischen ELNTs zusammensetzte, ausfindig zu machen, und noch einfacher, ihn von all den FROB-Patienten zu unterscheiden. Cha Thrat konnte kaum glauben, daß es solch einen entsetzlichen Unterschied zwischen einem erwachsenen und einem alten Hudlarer gab.
Als sie sich ihm näherte, vibrierte die Sprechmembran ihres Klassenkameraden sanft. „Wie ich sehe, haben Sie Ihr erstes Treffen mit Segroth heil überstanden“, sagte er. „Ärgern Sie sich nicht über die Oberschwester; eine Kelgianerin mit Weisungsbefugnis ist noch schlimmer als eine ohne. Wenn Sie genau das tun, was Sie Ihnen sagt, dann geht schon alles in Ordnung. Ehrlich gesagt, bin ich heilfroh, endlich mal ein freundliches und bekanntes Gesicht hier auf der Station zu sehen.“
Das war eine seltsame Bemerkung, dachte Cha Thrat, weil Hudlarer gar keine Gesichter im eigentlichen Sinne hatten. Aber dieser bemühte sich redlich, sie zu beruhigen, und dafür war sie ihm dankbar. Er hatte sie jedoch nicht mit ihrem Namen angesprochen, und ob er das absichtlich oder aus Versehen unterlassen hatte, wußte sie nicht. Vielleicht besaßen Hudlarer und Chalder außer der enormen Körperkraft noch weitere Gemeinsamkeiten. Bis sie sich sicher war, ihn beim Namen zu nennen, ohne daß er sich beleidigt fühlte, könnten sie sich gegenseitig ja mit „Schwester“, „Pfeger“ oder einfach nur mit „Hallo, Sie!“ ansprechen.
„Ich bin im Moment gerade damit beschäftigt, die Patienten mit dem Schwamm zu waschen und mit dem Nahrungspräparat zu besprühen“, erklärte der hudlarische Krankenpflegeschüler. „Würden Sie sich bitte einen der Behälter mit dem Nahrungspräparat umschnallen und mir auf meiner Runde folgen? Auf diese Weise können Sie gleich einige unserer Patienten kennenlernen.“
Ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr er fort: „Mit diesem Patienten hier können Sie schon deshalb nicht sprechen, weil auf seiner Sprechmembran ein Schalldämpfer sitzt, damit die Laute, die er ausstößt, den übrigen Patienten und dem Personal nicht auf die Nerven gehen. Er hat nämlich erhebliche Beschwerden, und auf die Behandlung mit schmerzstillenden Medikamenten spricht er praktisch nicht an. Im übrigen ist er sowieso nicht in der Lage, sich verständlich auszudrücken.“
Es sprang sofort ins Auge, daß dies kein gesunder Hudlarer war. Seine sechs gewaltigen Tentakel, die den schweren Rumpf normalerweise das ganze Leben hindurch beim Schlafen wie beim Wachen in aufrechter Stellung tragen, hingen wie verfaulte Baumstämme reglos an den Seiten des Stützgestells herab. Die harten Hornhautballen — die Knöchel, auf denen der FROB läuft, während die Finger zum Schutz vor Bodenkontakt nach innen gedreht sind — waren verblaßt, ausgetrocknet und rissig. Die Finger selbst, die sich gewöhnlich mit traumwandlerischer Sicherheit und Präzision bewegten, wurden von unaufhörlichen spastischen Zuckungen heimgesucht.
Große Bereiche des Rückens und der Körperseiten waren von teilweise aufgenommenem Nahrungspräparat bedeckt, das man erst abwaschen mußte, bevor die neue Schicht aufgesprüht werden konnte. Während Cha Thrat den alten Hudlarer betrachtete, bildete sich an dessen Unterseite eine milchige Ausdünstung und tropfte in die Absaugpfanne, die sich unter dem Gestell befand.
„Was fehlt ihm denn?“ fragte Cha Thrat. „Wird er oder kann er überhaupt geheilt werden?“
„Hohes Alter“, antwortete ihr Klassenkamerad barsch. In beherrschterem und sachlicherem Ton fuhr er fort: „Wir Hudlarer sind eine Spezies mit großem Energiebedarf und stark gesteigertem Stoffwechsel. Mit zunehmendem Alter sind insbesondere die Nahrungsaufnahme- und Ausscheidungsmechanismen, die normalerweise beide willkürlich gesteuert werden, als erstes von einer fortschreitenden Degeneration betroffen. Würden Sie bitte diesen Bereich neu besprühen, sobald ich mit dem Abwaschen des eingetrockneten Nahrungspräparats fertig bin?“
„Selbstverständlich“, sagte Cha Thrat.
„Die Degeneration ruft wiederum eine starke Verminderung der Blutzirkulation in den Gliedmaßen hervor, was zu wachsenden Schäden an dem betreffenden Nervensystem und der Muskulatur führt“, fuhr der Hudlarer fort. „Das Endergebnis ist eine allgemeine Lähmung, das Absterben der Enden der Gliedmaßen und schließlich der Exitus.“
Der Hudlarer arbeitete sehr behende mit dem Schwamm und trat schließlich zurück, damit Cha Thrat frisches Nahrungspräparat aufsprühen konnte. Als er seine Ausführungen fortsetzte, hatte seine Stimme ein wenig von der kühlen Gelassenheit verloren.
„Das ernsthafteste Problem für einen hudlarischen Patienten der Geriatrie ist jedoch, daß das Gehirn, das nur einen relativ geringen Teil der vorhandenen Energie verbraucht, vom Degenerationsprozeß noch einige Zeit über den Stillstand des Doppelherzens hinaus organisch unbeeinträchtigt bleibt. Darin liegt auch die eigentliche Tragödie. Daß ein Hudlarer, dessen Körper um ihn herum unter Schmerzen verfällt, verstandesmäßig ruhig und ausgeglichen bleiben kann, gibt es nur selten. Jetzt verstehen Sie bestimmt, warum diese Station, die erst vor kurzem für Conways Projekt vergrößert worden ist, von allen im Hospital diejenige ist, auf der noch am ehesten psychisch gestörte Patienten behandelt werden.
Das galt jedenfalls bis zu jenem Zeitpunkt“, fügte er hinzu und schlug einen unbeschwerteren Ton an, während sie zum nächsten Patienten weitergingen, „an dem Sie angefangen haben, AUGL-Eins-Sechzehn zu analysieren.“
„Erinnern Sie mich jetzt bloß nicht daran“, seufzte Cha Thrat.
Auch auf der Sprechmembran des nächsten Patienten saß ein dicker, zylindrischer Schalldämpfer, aber entweder waren die Laute, die der Hudlarer ausstieß, für das Gerät zu kräftig oder es funktionierte nicht richtig. Vieles von dem, was der Hudlarer von sich gab, war offenbar das Produkt fortgeschrittenen Schwachsinns und starker Schmerzen und wurde von Cha Thrats Translator aufgefangen und übersetzt.
„Ich hätte ein paar Fragen“, sagte Cha Thrat plötzlich. „Aber die könnten Sie kränken oder womöglich die philosophischen Werte oder das Berufsethos der Hudlarer angreifen. Auf Sommaradva ist die Situation innerhalb der Ärzteschaft vielleicht anders gelagert. Ich möchte keinesfalls das Risiko eingehen, Sie zu beleidigen.“
„Fragen Sie nur“, entgegnete der Klassenkamerad. „Ihre Entschuldigung nehme ich, falls überhaupt erforderlich, schon mal im voraus an.“
„Vorhin habe ich gefragt, ob diese Patienten geheilt werden können“, begann Cha Thrat vorsichtig, „und bisher haben Sie mir darauf keine Antwort gegeben. Sind die Patienten unheilbar krank? Und wenn ja, warum rät man ihnen dann nicht, ihr Leben selbst zu beenden, bevor sie dieses Stadium erreichen?“
Mehrere Minuten lang wischte der Hudlarer weiter wortlos eingetrocknetes Nahrungspräparat mit dem Schwamm vom Rücken des zweiten Patienten und antwortete dann: „Sie beleidigen mich nicht, aber Sie überraschen mich, Schwester. Ich selbst kann die medizinische Praxis auf Sommaradva nicht kritisieren, weil die heilende Medizin und die Chirurgie auf meinem Heimatplaneten bis zu unserem Beitritt zur Föderation vor ein paar Generationen unbekannt war. Aber habe ich Sie richtig verstanden, daß Sie unheilbar kranke Patienten auffordern wollen, sich selbst das Leben zu nehmen?“
„Nicht ganz“, erwiderte Cha Thrat. „Wenn ein Heiler für Sklaven, ein Chirurg für Krieger oder ein Zauberer für Herrscher nicht die persönliche Verantwortung für die Heilung eines Patienten übernehmen will, wird dieser Patient nicht behandelt. Ihm wird der gesamte Sachverhalt der Situation erläutert, und zwar knapp und präzise und ohne die gutgemeinten, aber unangebrachten Lügen und trügerischen Aufmunterungsversuche, die unter dem hiesigen Personal so verbreitet sind. Auf Sommaradva versucht man erst gar nicht, in irgendeine Richtung Einfluß auszuüben; die Entscheidung wird voll und ganz dem Patienten überlassen.“
Während Cha Thrats Ausführungen hatte der Hudlarer aufgehört zu arbeiten. „Schwester, Sie dürfen, trotz Ihrer Einstellung zu unseren medizinischen Notlügen, niemals mit einem Patienten in dieser Weise über seinen Fall sprechen“, warnte er sie. „Wenn Sie das tun, halsen Sie sich eine Menge Probleme auf.“
„Das habe ich auch gar nicht vor“, entgegnete Cha Thrat. „Jedenfalls vorläufig nicht. Es sei denn, man gibt mir an diesem Hospital die Chance, wie auf Sommaradva wieder als Chirurgin zu praktizieren.“
„Nicht einmal dann“, widersprach ihr der Hudlarer besorgt.
„Das verstehe ich nicht“, sagte Cha Thrat. „Wenn ich die volle Verantwortung für die Heilung eines Patienten übernehme, dann.“
„Dann sind Sie also zu Hause eine Chirurgin gewesen?“ unterbrach sie ihr Klassenkamerad, der offensichtlich Streit vermeiden wollte. „Ich hoffe ebenfalls, mit der Eignung als Chirurg nach Hause zurückkehren zu können.“
Cha Thrat wollte auch keinen Streit. „Wie viele Jahre wird das dauern?“
„Wenn ich Glück habe, zwei“, antwortete der Hudlarer. „Ich habe nicht vor, die volle chirurgische Qualifikation für fremde Spezies zu erwerben, sondern mache gleichzeitig elementare Krankenpflege und den FROB-Chirurgiekurs. Jedenfalls habe ich mich deshalb Conways Projekt angeschlossen und werde, sobald ich den Abschluß geschafft habe, zu Hause gebraucht.
Und um Ihre Frage von vorhin zu beantworten“, fügte er hinzu. „Ob Sie es glauben oder nicht, Schwester, die Beschwerden der meisten dieser Patienten werden gelindert, wenn nicht sogar geheilt. Die Patienten werden in der Lage sein, ein langes und sinnvolles Leben ohne Schmerzen zu führen, das ihnen gestattet, sich innerhalb gewisser Grenzen geistig und körperlich zu betätigen.“
„Ich bin wirklich beeindruckt“, sagte Cha Thrat, wobei sie versuchte, die Skepsis, die sie empfand, nicht durchklingen zu lassen. „Aber worum geht es bei Conways Projekt eigentlich?“
„Da ich Ihnen das Projekt nur unvollständig und ungenau beschreiben kann, wäre es besser, sich von Conway selbst darüber aufklären zu lassen“, antwortete der Hudlarer. „Conway ist im Hospital der leitende Diagnostiker der Chirurgie und wird noch heute nachmittag die wichtigsten seiner neuen FROB-Operationstechniken erläutern und demonstrieren.
Für mich ist es natürlich dringend erforderlich, daran teilzunehmen“, fuhr er fort. „Aber wir werden in naher Zukunft derart viele Chirurgen benötigen, daß Sie sich nicht einmal dem Projekt anschließen müßten, sondern bloß Ihr Interesse daran äußern brauchten, um zu dieser Demonstration eingeladen zu werden. Außerdem wäre es für mich ganz beruhigend, jemanden bei mir zu haben, der fast genausowenig Ahnung hat wie ich.“
„Alienchirurgie ist mein Hauptinteressengebiet“, sagte Cha Thrat. „Aber ich habe ja gerade erst auf dieser Station angefangen. Würde mich denn die Oberschwester schon so früh vom Dienst befreien?“
„Natürlich“, erwiderte der FROB, während sie sich zum nächsten Patienten begaben. „Solange Sie sich die Oberschwester nicht zur Feindin machen.“
„Das werde ich bestimmt nicht“, versicherte sie und fügte rasch hinzu: „Jedenfalls nicht absichtlich.“ Auf der Sprechmembran des dritten Patienten, den sie aufsuchten, befand sich kein Schalldämpfer, und er hatte noch wenige Minuten zuvor mit einem Patienten auf der anderen Seite der Station ein angeregtes Gespräch über seine Enkel geführt. Cha Thrat sprach ihn mit der traditionellen Begrüßung der Heiler auf Sommaradva an, der sich anscheinend auch jeder Arzt im Hospital bediente. „Wie geht es Ihnen heute?“
„Danke, recht gut, Schwester“, antwortete der Patient, wie sie es von vornherein gewußt hatte.
Ganz offensichtlich ging es dem FROB alles andere als gut. Obwohl er geistig auf der Höhe war und der körperliche Degenerationsprozeß noch nicht das Stadium erreicht hatte, in dem selbst die schmerzstillenden Medikamente nicht mehr wirkten, bekam Cha Thrat von dem bloßen Anblick der Oberflächenbeschaffenheit seiner Körperpanzerung und Tentakel einen Juckreiz. Doch wie so viele der anderen Patienten, die sie behandelt hatte, dachte auch dieser nicht im Traum daran, ihr durch die Antwort, ihm würde es nicht gutgehen, mangelnde Fähigkeiten zu unterstellen.
„Wenn Sie ein bißchen mehr Nahrung aufgenommen haben, werden Sie sich noch besser fühlen“, ermunterte sie ihn, während ihr Kollege mit dem Schwamm beschäftigt war.
Jedenfalls einen Hauch besser, fügte sie in Gedanken hinzu.
„Ich habe Sie hier noch nie gesehen, Schwester“ stellte der Patient fest. „Sie sind neu, oder? Ich finde, Sie haben höchst interessante und optisch äußerst ansprechende Körperformen.“
„Der letzte, der mir so was gesagt hat“, antwortete Cha Thrat, während sie das Nahrungspräparat aufsprühte, „war ein etwas zu leidenschaftlicher junger Sommaradvaner.“
Aus der Sprechmembran des Patienten drangen unübersetzbare Laute, und der riesige, von der Krankheit geschwächte Körper begann in seinem Gestell zu zucken, als er sagte: „Ihre Unschuld ist vor mir vollkommen sicher, Schwester. Leider bin ich zu alt und gebrechlich, um Ihnen gefährlich zu werden.“
Cha Thrat erinnerte sich wieder an Sommaradva, wo schwerverletzte und ruhiggestellte Krieger ihrer Spezies versucht hatten, während der Visite mit ihr zu flirten, und sie wußte nicht, ob sie lachen oder weinen sollte.
„Das ist aber nett von Ihnen“, bedankte sie sich scherzhaft. „Aber vielleicht müssen Sie mir das noch einmal versichern, sobald Sie sich wieder auf dem Wege der Besserung befinden.“
Mit den übrigen Patienten war es genau das gleiche: Während sich Cha Thrat angeregt mit ihnen unterhielt, sagte der hudlarische Klassenkamerad kaum ein Wort. Cha Thrat war neu auf der Station, gehörte einer Spezies von einem Planeten an, über den die Patienten nichts wußten, und wurde deshalb zum Objekt maßloser, aber dennoch höflicher Neugier. Die Patienten hatte keine Lust, über sich selbst oder ihre traurige körperliche Verfassung zu sprechen, sondern nur über Sommaradva und Cha Thrat, der es ihrerseits Vergnügen bereitete, diese verständliche Neugier zu stillen — zumindest was die erfreulicheren Seiten des Lebens auf ihrem Heimatplaneten anging.
Das ständige Reden half ihr dabei, die zunehmende Erschöpfung sowie die Tatsache zu vergessen, daß die Gurte, obwohl der G-Gürtel das Gewicht des schweren Behälters mit dem Nahrungspräparat auf Null reduzierte, in ihrem oberen Brustkorb schmerzhafte und womöglich bleibende Striemen hervorriefen. Dann waren auf einmal nur noch drei Patienten zu säubern und zu besprühen, und hinter Cha Thrat und ihrem Klassenkameraden tauchte wie aus dem Nichts Segroth auf.
„Wenn Sie genauso gut arbeiten, wie Sie reden, Cha Thrat, werde ich mich über Sie nicht beschweren können“, sagte die Oberschwester und fragte dann den Hudlarer: „Wie stellt Sie sich denn an?“
„Sie ist mir wirklich eine große Hilfe, Oberschwester“, antwortete der FROB, „und beklagt sich auch nicht. Den Patienten gegenüber verhält sie sich sehr freundlich und gelöst.“
„Na, prima“, freute sich Segroth, wobei sich ihr Fell anerkennend kräuselte. „Aber Cha Thrat gehört zu einer dieser Spezies, die wenigstens dreimal pro Tag Nahrung aufnehmen müssen, wenn sie bei Laune gehalten werden sollen. Ich will damit sagen, daß das Mittagessen längst überfällig ist. Wären Sie bereit, die Arbeit bei den restlichen Patienten alleine zu beenden?“
„Selbstverständlich“, antwortete der Hudlarer, als sich Segroth zum Gehen wandte.
„Oberschwester!“ rief Cha Thrat ihr schnell hinterher. „Ich weiß, ich habe gerade erst angefangen, aber würden Sie mir vielleicht die Erlaubnis erteilen, heute nachmittag an.“
„.an Conways Vorlesung teilzunehmen?“ beendete Segroth die Frage für sie. „Ihnen ist wohl jedes Mittel recht, um sich vor der anstrengenden Arbeit auf der Station zu drücken, wie? Aber vielleicht tue ich Ihnen unrecht. Nach den Gesprächen zu urteilen, die ich über die Schallsensoren mitgehört habe, haben Sie bei der Unterhaltung mit den Patienten bewiesen, daß Sie Ihre Gefühle sehr gut im Zaum halten können, und in Anbetracht Ihrer chirurgischen Vorbildung dürfte Ihnen der praktische Teil der Vorlesung kaum zu schaffen machen. Falls Sie jedoch irgendeinen Teil der Demonstration nervlich nicht aushaken sollten, ziehen Sie sich von dort sofort und so unauffällig wie möglich zurück.
Normalerweise würde eine Schwesternschülerin wie Sie, die gerade erst auf der Station angefangen hat, nicht solch eine Erlaubnis erhalten“, schloß die Oberschwester, „aber falls Sie es innerhalb der einen Stunde, die Ihnen noch verbleibt, bis zur Kantine und wieder zurück schaffen können, dürfen Sie daran teilnehmen.“
„Das ist sehr nett von Ihnen“, bedankte sich Cha Thrat bei der Kelgianerin, die schon fast außer Hörweite war, und löste dann rasch die Gurte des Behälters.
„Würde es Ihnen etwas ausmachen, Schwester, mir, bevor Sie gehen, auch ein bißchen von dem Präparat aufzusprühen?“ fragte der Hudlarer. „Ich sterbe nämlich vor Hunger!“
Cha Thrat war unter den ersten, die im FROB-Vorlesungssaal eintrafen. Sie stellte sich so dicht wie möglich an das Operationsgestell — Hudlarer benutzen keine Stühle, und andere Sitzgelegenheiten waren dort auch nicht vorhanden — und beobachtete, wie sich der Raum allmählich füllte. Unter den Anwesenden befanden sich zwar vereinzelte Häufchen melfanischer ELNTs, kelgianischer DBLFs und tralthanischer FGLIs, doch die meisten waren Hudlarer, die sich in den verschiedensten Ausbildungsstadien befanden. Cha Thrat war so eng von FROBs eingekesselt, daß sie das Gefühl hatte, den Saal nicht verlassen zu können, selbst wenn sie es hätte wollen, und sie vermutete, daß es sich bei dem neben ihr stehenden Hudlarer — sie konnte die FROBs immer noch nicht auseinanderhalten — um ihren Kollegen handelte, mit dem sie am Vormittag zusammengearbeitet hatte.
Aus den Gesprächen, die rings um sie geführt wurden, ging deutlich hervor, daß der Diagnostiker Conway von allen für eine wirklich höchst bedeutende Persönlichkeit gehalten wurde, wenn nicht gar für einen medizinischen Halbgott, dessen Gehirn durch einen mächtigen Zauberspruch des Chefpsychologen O'Mara und den Einsatz einiger technischer Hilfsmittel die Kenntnisse, Erinnerungen und Instinkte von Persönlichkeiten der unterschiedlichsten Spezies beherbergte. Nachdem Cha Thrat den besorgniserregenden Zustand der noch nicht operierten Patienten auf der FROB-Station gesehen hatte, sah sie mit wachsender Spannung Conways Demonstration entgegen.
Von der äußeren Erscheinung her wirkte Conway auf sie alles andere als beeindruckend: Das Wesen war ein terrestrischer DBDG, lag mit seiner Größe etwas über dem Durchschnitt und hatte einen Kopfpelz, der noch dunklere Grauschattierungen als der von Zauberer O'Mara aufwies.
Conway sprach mit der ruhigen Bestimmtheit eines großen Herrschers und begann die Vorlesung ohne große Einleitung.
„Allen, die noch nicht vollständig über das Hudlarerprojekt informiert sind und denen vielleicht der moralische Aspekt am Herzen liegt, möchte ich versichern, daß sowohl der Patient, den wir heute operieren werden, als auch seine Kollegen auf der FROB-Station und die ganzen anderen geriatrischen und prägeriatrischen Fälle, die in großer Not auf ihrem Heimatplaneten warten, allesamt dringend um eine Operation nachsuchen, bei der eine Vorauswahl getroffen werden muß.
Die Zahl der Fälle ist so groß — tatsächlich handelt es sich um einen beträchtlichen Teil der Gesamtbevölkerung —, daß wir unmöglich alle Hudlarer im Orbit Hospital behandeln können.“
Im Verlauf der Ausführungen des terrestrischen Diagnostikers wurde Cha Thrat durch das bloße Ausmaß des Problems immer mehr entmutigt. Ein Planet, auf dem sich ständig viele Millionen Lebewesen in derselben entsetzlichen Verfassung wie jene Patienten befanden, mit denen sie es bereits zu tun gehabt hatte, war eine Vorstellung, der sie nicht ins Auge blicken wollte. Allerdings wurde schon bald deutlich, daß sich Conway diesem Problem seit langem gewidmet hatte und auf eine endgültige Lösung hinarbeitete — und zwar bildete er, unterstützt von Freiwilligen anderer Spezies, die medizinisch ungeschulten Hudlarer in großer Zahl aus, damit sich diese später selbst helfen konnten.
Anfänglich sollte das Orbit Hospital für den grundlegenden Unterricht in FROB-Physiologie und prä- und postoperativer Krankenpflege sowie für die Ausbildung in nur einer einzigen und sehr einfachen Operationstechnik sorgen. Die erfolgreichen Absolventen sollten nach Hause zurückkehren, um ihre eigenen Ausbildungsinstitute aufzubauen, es sei denn, sie legten eine solch ungewöhnlich hohe Begabung an den Tag, daß es ratsamer wäre, ihnen eine Stelle als Mitarbeiter am Hospital anzubieten. Innerhalb von drei Generationen würde es auf diese Weise genügend auf die eigene Lebensform spezialisierte Chirurgen geben, daß diese furchtbare, aber bislang unausweichliche Geißel der Hudlarer der Vergangenheit angehören dürfte.
Allein die bloße Größenordnung und die anscheinend völlige, ja fast kriminelle Unverantwortlichkeit dieses Projekts bestürzte Cha Thrat und schmeckte ihr überhaupt nicht. Conway bildete keine Chirurgen aus, sondern produzierte gewaltige Mengen gewissenloser, organischer Maschinen! Schon als der Hudlarer die zur Qualifikation benötigte Zeit ihr gegenüber erwähnt hatte, war sie insgeheim aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen, selbst wenn es den Ausbildern an diesem Hospital durchaus zuzutrauen war, in solch einem kurzen Zeitraum die erforderlichen praktischen Kenntnisse zu vermitteln. Aber was war mit der langfristigen Schulung, den geistigen und körperlichen Übungskursen, durch die die Teilnehmer erst darauf vorbereitet werden, Verantwortung zu übernehmen und das Leid zu ertragen, und was war mit der langen, dem Operieren vorausgehenden Lehrzeit? Als der Diagnostiker fortfuhr, erwähnte er all diese Dinge mit keinem Wort.
„Das ist ja unglaublich!“ platzte es plötzlich aus Cha Thrat heraus.
„Ja, allerdings“, flüsterte der Hudlarer neben ihr. „Aber seien Sie jetzt lieber still, und hören Sie gefälligst zu, Schwester!“
„Der Grad und das Ausmaß des Leids der älteren FROBs ist unvorstellbar und unmöglich zu beschreiben“, sagte der Terrestrier gerade. „Wenn die Mehrheit der übrigen Spezies der Föderation vor dasselbe Problem gestellt wäre, würde es für die Betroffenen nur eine einfache, wenn auch völlig unbefriedigende Lösung geben. Aufgrund ihrer Weltanschauung sind die Hudlarer aber glücklicher- oder unglücklicherweise nicht dazu imstande, sich selbst das Leben zu nehmen.
Würden Sie jetzt bitte den Patienten FROB-Elf-Zweiunddreißig hereinbringen?“
Ein fahrbares Operationsgestell, das von einer kelgianischen Schwester hereingeschoben wurde, kam vor dem Diagnostiker zum Stehen. Darin hing der bereits für die Operation vorbereitete Patient, einer der Hudlarer, die Cha Thrat am Vormittag besprüht hatte.
„Das Leiden von Elf-Zweiunddreißig ist schon zu weit fortgeschritten, als daß ein chirurgischer Eingriff den Degenerationsprozeß vollständig rückgängig machen könnte“, erläuterte der Terrestrier. „Die heutige Operation wird jedoch dafür sorgen, daß der Patient den Rest seines Lebens praktisch ohne Schmerzen verbringen kann, was wiederum bedeutet, daß er im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte sein wird und ein sinnvolles, wenn nicht sogar sehr aktives Leben führen kann. Bei Hudlarern, die sich vor Beginn des Leidens für eine solche Operation entscheiden — und in den betreffenden Altersgruppen gibt es nur sehr wenige, die sich nicht dazu entschließen —, sind die Ergebnisse noch sehr viel besser.
Bevor wir beginnen“, fuhr er fort, wobei er den Tiefenscanner aus der Tasche zog, „möchte ich die physiologischen Ursachen erörtern, die hinter dem erschütternden Krankheitsbild stecken, das wir hier vor uns sehen.“
Welche unverantwortliche und verbotene Wunderoperation könnte Elf-Zweiunddreißig wohl wieder gesund machen? fragte sich Cha Thrat angewidert.
Doch wurde ihre Neugier von wachsender Furcht verdrängt; sie wußte nicht, ob sie die Antworten, die dieser furchtbare Terrestrier geben würde, ertragen könnte, ohne dabei den Verstand zu verlieren.
„Genau wie bei den meisten anderen uns bekannten Lebensformen ist die Hauptursache für den als Altern sichtbar werdenden Degenerationsprozeß ein immer stärkeres Nachlassen der Leistungsfähigkeit der lebenswichtigen Organe und das damit zusammenhängende Versagen des Kreislaufs“, setzte der Diagnostiker seine Ausführungen fort.
„Bei den FROBs wird der endgültige Verlust der Funktionsfähigkeit der Gliedmaßen und das abnorme Ausmaß der Verkalkung und die Fissurbildung an den Extremitäten noch durch den Bedarf an Nährstoffen verschlimmert, die der Körper nicht mehr verarbeiten kann.
Aus Ihren Vorlesungen über die Physiologie der FROBs wissen Sie, daß
ein gesunder Erwachsener dieser Spezies einen extrem raschen Stoffwechsel hat, der eine praktisch ununterbrochene Zufuhr von Nährstoffen benötigt, die über den Absorptionsmechanismus umgewandelt werden, um lebenswichtige Organe wie die beiden Herzen, die Absorptionsorgane selbst und natürlich die Gliedmaßen zu versorgen sowie die Gebärmutter, wenn es sich bei dem Individuum um ein weibliches Wesen handelt, das gerade schwanger ist. Diese sechs ungeheuer kräftigen Glieder hier bilden das System des Körpers, das die meiste Energie verbraucht und annähernd achtzig Prozent der insgesamt umgewandelten Nährstoffe benötigt.
Wenn man die Zufuhr dieses unangemessen hohen Bedarfs von der Energieversorgung abtrennt“, erklärte der Diagnostiker langsam und nachdrücklich, „wird die Nährstoffzufuhr zu den Organen mit geringerem Bedarf automatisch bis zum Optimum erhöht.“
Jetzt hatte Cha Thrat über die chirurgischen Absichten des Terrestriers keine Zweifel mehr, doch nach wie vor versuchte sie sich einzureden, daß die Situation nicht ganz so furchtbar sei, wie es den Anschein hatte. „Wachsen die Gliedmaßen dieser Lebensform denn nach?“ erkundigte sie sich bei ihrem Nachbarn mit sanftem Nachdruck.
„Dumme Frage“, erwiderte der Hudlarer. „Natürlich nicht. Wenn das der Fall wäre, hätten die Degenerationserscheinungen der Muskulatur und der Blutzirkulation in den Extremitäten gar nicht erst das derzeitige Ausmaß erreicht. Und jetzt halten Sie endlich den Mund, Schwester, und hören Sie gefälligst zu!“
„Ich habe natürlich die Gliedmaßen des Terrestriers gemeint, nicht die des Patienten“, entgegnete Cha Thrat hartnäckig.
„Nein, die natürlich auch nicht“, erwiderte der Hudlarer ungeduldig, und als Cha Thrat versuchte, eine weitere Frage zu stellen, beachtete er die Sommaradvanerin einfach nicht mehr.
„Das Hauptproblem, das bei einem tiefen chirurgischen Eingriff an jeder unter großer Schwerkraft und hohem atmosphärischen Druck entwickelten Lebensform auftritt, ist natürlich die Verschiebung der inneren Organe und die mögliche Schädigung durch Druckverminderung“, sagte Conway gerade. „Aber bei der Art Operation, die wir heute durchführen werden, gibt es kein echtes Problem. Die Blutung wird mit Klammern unter Kontrolle gehalten, und das Verfahren ist so einfach, daß Sie es als fortgeschrittene Auszubildende alle unter Anleitung durchführen können.
Ich selbst“, fügte der Diagnostiker hinzu und entblößte auf einmal die Zähne, „werde den Patienten übrigens mit keinem Messer berühren. Die Verantwortung für die Operation tragen Sie alle gemeinsam.“
Die letzten Worte des Terrestriers wurden mit ruhiger und höflich zurückhaltender Begeisterung aufgenommen. Die Auszubildenden drängten näher an die Absperrung heran und keilten Cha Thrat zwischen Mauern aus eisenharten Hudlarerkörpern und — tentakeln ein. Es wurden so viele Gespräche gleichzeitig geführt, daß ihr Translator mehrmals überlastet war, doch nach dem, was sie verstehen konnte, schien es, als ob alle Studenten mit diesem höchst schändlichen Akt beruflicher Feigheit nicht nur einverstanden waren, sondern zudem noch so dumm, sich um die Verantwortung für die Operation zu reißen, anstatt davor zurückzuschrecken.
Nicht einmal in ihren wildesten und schrecklichsten Vorstellungen hatte Cha Thrat mit etwas Derartigem gerechnet, noch war ihr jemals in den Sinn gekommen, mit einer solch heimtückischen und entmutigenden Attacke auf ihre Moralvorstellung konfrontiert zu werden. Auf einmal wollte sie nur noch aus diesem Alptraum, in dem diese wahnsinnigen und sittenlosen Hudlarer die Hauptrolle spielten, fliehen. Doch unglücklicherweise waren sie alle viel zu beschäftigt, mit ihren flatternden Sprechmembranen aufeinander einzureden, als daß sie Cha Thrat hätten hören können.
„Ruhe, bitte!“ fuhr Diagnostiker Conway dazwischen, und sofort trat Stille ein. „Ich glaube zwar nicht an Wunder, ob sie nun erfreulich sind oder nicht, aber früher oder später werden die Hudlarer unter Ihnen auf ihrem Heimatplaneten Stunde für Stunde und Tag für Tag Mehrfachamputationen wie diese hier vornehmen, und ich finde, Sie sollten sich lieber zu früh als zu spät mit dieser Vorstellung anfreunden.“
Er schwieg, um einen Blick auf eine weiße Karte zu werfen, die er in der Hand hielt, und sagte dann: „FROB-Dreiundsiebzig, Sie fangen an.“
Cha Thrat verspürte einen fast überwältigenden Drang, aus vollem Hals zu schreien, sie wolle sofort hier raus und weit weg von diesem abscheulichen Geschehen sein. Doch Conway, ein Diagnostiker und einer der hohen Herrscher des Hospitals, hatte um Ruhe gebeten, und die ihr ein Leben lang anerzogene Disziplin konnte nicht einfach durchbrochen werden, auch wenn Cha Thrat weit von Sommaradva entfernt war. Sie drückte zwar behutsam gegen die Wände aus Hudlarerkörpern, die sie von drei Seiten einschlossen, aber ihre Versuche hindurchzukommen wurden ignoriert, falls man sie überhaupt bemerkte. Alle Blicke konzentrierten sich ausschließlich auf das Operationsgestell und den Patienten FROB-Elf-Zweiunddreißig, und obwohl sich Cha Thrat bemühte, woanders hinzusehen, schaute sie doch in dieselbe Richtung.
Von Anfang an war offensichtlich, daß die Probleme von FROB-Dreiundsiebzig eher psychologischer als chirurgischer Natur waren und durch die unmittelbare Nähe von einem der führenden Diagnostiker des Hospitals hervorgerufen wurden, der jede seiner Bewegungen genau beobachtete. Aber Conways kommentierende Bemerkungen zur Operation fielen sowohl taktvoll als auch ermutigend aus. Wann immer der Auszubildende unschlüssig schien, gelang es dem Terrestrier, indirekt die gebotenen Ratschläge und Anweisungen zu erteilen, ohne daß sich der Adressat dumm vorkam oder gar noch mehr verunsichert wurde.
Nach Cha Thrats Dafürhalten hatte dieser Diagnostiker etwas von einem Zauberer an sich, was allerdings keineswegs sein dem Berufsethos zuwiderlaufendes Verhalten entschuldigte.
„Das Messer Nummer drei wird für den ersten Schnitt und zum Entfernen der unter der Haut liegenden Muskelschichten benutzt“, erläuterte Conway. „Aber für die Arbeit an den Venen und Arterien ziehen einige die feinere Nummer fünf vor, da die glatteren Ränder des Schnitts das spätere Vernähen der Wunden viel einfacher gestalten und den Heilungsprozeß beschleunigen.
Die Nervenstränge werden besonders lang gelassen, in Edelmetallhülsen gesteckt und direkt unter der Oberfläche des Stumpfs befestigt. Auf diese Weise wird der Anschluß von Nervenimpulsverstärkern ermöglicht, die später die Prothesen steuern.“
„Was sind Prothesen?“ wollte Cha Thrat von ihrem Nachbarn wissen.
„Künstliche Gliedmaßen“, klärte sie der Hudlarer auf. „Hören und sehen Sie doch einfach zu. Fragen können Sie hinterher immer noch stellen.“
Zu sehen gab es eine ganze Menge, aber zu hören weniger, da FROB-Dreiundsiebzig jetzt viel schneller arbeitete und die diskreten Ratschläge des Diagnostikers nicht mehr zu benötigen schien. Cha Thrat hatte einen direkten Blick auf das Operationsfeld und konnte auch die sorgfältigen und präzisen Bewegungen der Instrumente in der Gliedmaße verfolgen, da das Bild des Innenscanners auf einen großen Bildschirm übertragen wurde, der schräg über dem Patienten an der Decke hing.
Dann war die Gliedmaße plötzlich nicht mehr da — sie war starr wie ein kranker Ast von einem Baum in einen Behälter auf dem Boden gefallen —, und Cha Thrat sah zum erstenmal einen Amputationsstumpf. Verzweifelt kämpfte sie gegen den Drang an, sich übergeben zu müssen oder in Ohnmacht zu fallen.
„Der große Hautlappen wird über den Stumpf geklappt und mit Klammern befestigt, die sich auflösen, sobald der Heilungsprozeß abgeschlossen ist“, erläuterte Conway. „Wegen des erhöhten Innendrucks dieser Lebensform und der extremen Festigkeit der Haut, die man kaum mit einer Nadel durchstechen kann, hat das normale Vernähen keinen Sinn, und deshalb ist es ratsam, lieber großzügigen Gebrauch von den Klammern zu machen.“
Auf Sommaradva hatte es immer wieder unappetitliche Gerüchte über ähnliche Fälle gegeben, bei denen es durch schwere Betriebs- oder Verkehrsunfälle zu gewaltsam herbeigeführten Amputationen gekommen war, die die Opfer überlebt hatten. Die Wunden wurden normalerweise von jungen Chirurgen für Krieger notdürftig versorgt, da sie aufgrund ihrer noch fehlenden Qualifikation keinerlei Verantwortung trugen, oder sogar — wenn gerade niemand anders zur Verfügung stand — von bereitwilligen Heilern für Sklaven. Doch selbst wenn sich die betreffenden Krieger die Verletzungen durch eine tapfere Tat zugezogen hatten, wurde die ganze Geschichte geheimgehalten und so schnell wie möglich vergessen.
Die Unfallopfer begaben sich stets freiwillig ins Exil. Sie würden nie auch nur davon träumen, ihre körperliche Behinderung oder Entstellung den Blicken der Öffentlichkeit preiszugeben, und außerdem war das auch gar nicht erlaubt. Dafür achtete man auf Sommaradva seinen Körper zu sehr. Und daß Leute mit mechanischen Vorrichtungen als Ersatz für die Gliedmaßen umherstolzierten, war verabscheuungswürdig und unvorstellbar.
„Danke schön, FROB-Dreiundsiebzig, gut gemacht“, sagte der Terrestrier und warf erneut einen kurzen Blick auf die weiße Karte. „FROB-Einundsechzig, würden Sie uns jetzt bitte zeigen, was Sie können?“
So widerlich und abstoßend das alles war, Cha Thrat konnte einfach nicht die Augen von dem Operationsgestell abwenden, während der neue FROB seine chirurgischen Fähigkeiten unter Beweis stellte. Die Tiefe und Plazierung jedes Schnitts und Instruments brannte sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis ein, als würde sie bei irgendeiner scheußlichen, aber faszinierenden Perversion zusehen. Auf FROB-Einundsechzig folgten zwei weitere fortgeschrittene Auszubildende, und danach besaß der Patient FROB-Elf-Zweiunddreißig nur noch zwei seiner sechs Tentakel.
„Eine der vorderen Gliedmaßen ist immer noch einigermaßen beweglich“, ergriff Conway erneut das Wort, „und in Anbetracht des fortgeschrittenen Alters und der verringerten geistig-seelischen Anpassungsfähigkeit des Patienten denke ich, daß sie sowohl aus psychologischen als auch aus physiologischen Gründen unangetastet bleiben sollte. Zudem kann es gut sein, daß der Zustand der Muskulatur und die Durchblutung in diesem Glied zum Teil verbessert wird, da sich aufgrund des Fehlens der übrigen Extremitäten sowohl die Blutzufuhr als auch die Versorgung mit den vorhandenen Nährstoffen steigert. Wie Sie sehen, ist dagegen das zweite Vorderglied praktisch abgestorben und muß entfernt werden.
Die Amputation wird die Sommaradvanerin Cha Thrat durchführen“, fügte er hinzu.
Plötzlich waren alle Blicke auf sie gerichtet, und für einen Moment hatte Cha Thrat das alberne Gefühl, im Zentrum eines dreidimensionalen Bildes zu stehen, zu dem dieser Alptraum in alle Ewigkeit erstarrt war. Doch der wahre Alptraum stand ihr erst in wenigen Minuten bevor, wenn sie zu einem beruflichen Entschluß von großer Tragweite gezwungen sein würde.
Die Sprechmembran ihres Kollegen von der Station vibrierte schwach. „Glückwunsch. Das ist ein riesiges Kompliment, Schwester.“
Bevor sie darauf etwas entgegnen konnte, hatte sich der Diagnostiker schon wieder an alle gewandt.
„Cha Thrat stammt von einem neuentdeckten Planeten namens Sommaradva, auf dem sie als ausgebildete Chirurgin gearbeitet hat“, sagte er. „Sie hat bereits Erfahrungen in Alienchirurgie bei einem terrestrischen DBDG sammeln können, einer Lebensform, der sie nur wenige Stunden zuvor zum erstenmal begegnet war. Trotzdem hat sie, wie ich von Chefarzt Edanelt gehört habe, sachgerechte Arbeit geleistet und dem Terrestrier ohne Zweifel das Bein und wahrscheinlich auch das Leben gerettet. Und jetzt kann sie mit einem viel weniger schwierigen Eingriff bei einem FROB ihre Kenntnisse in Alienchirurgie erweitern.
Treten Sie bitte vor, Cha Thrat“, ermutigte sie der Chefarzt. „Sie brauchen keine Angst zu haben. Falls irgend etwas schiefgeht, bin ich ja hier, um Ihnen zu helfen.“
Innerlich packte Cha Thrat die kalte Angst, gemischt mit einer hilflosen Wut darüber, sich der endgültigen Herausforderung ohne angemessene geistigseelische Vorbereitung stellen zu müssen. Doch die abschließenden Worte des Diagnostikers, mit denen er ihr unterstellt hatte, daß sich ihre natürliche Scheu in irgendeiner Weise negativ auf ihr Handeln auswirken könnte, erfüllten sie regelrecht mit Zorn. Er war ein Herrscher des Hospitals, und egal, wie abwegig oder verantwortungslos seine Anweisungen ihr auch vorkommen mochten, würden sie befolgt werden müssen — das war ein unumstößliches Gesetz. Kein Sommaradvaner aus der Klasse der Krieger würde gegenüber jemand anderem seine Angst offenbaren, und das schloß auch eine Gruppe speziesfremder Wesen mit ein. Trotzdem zögerte sie noch.
„Sind Sie in der Lage, diese Operation vorzunehmen?“ erkundigte sich der Terrestrier etwas ungeduldig.
„Ja“, antwortete Cha Thrat gefaßt.
Hätte er sie gefragt, ob sie die Operation vornehmen wolle, dachte Cha Thrat betrübt, als sie auf das Operationsgestell zuging, wäre die Antwort bestimmt anders ausgefallen. Mit dem unglaublich scharfen FROB-Messer Nummer drei in der Hand unternahm sie einen letzten Versuch.
„Wo liegt in diesem Fall meine genaue Verantwortung?“ fragte sie schnell.
Der Terrestrier holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus. Dann antwortete er: „Sie sind für die operative Entfernung des linken Vorderglieds des Patienten verantwortlich.“
„Ist es möglich, dieses Glied zu retten?“ fragte Cha Thrat zögernd. „Kann man die Durchblutung verbessern, vielleicht durch eine operative Erweiterung der Blutgefäße oder durch die Entfer…“
„Nein!“ fiel ihr Conway ins Wort. „Und jetzt fangen Sie bitte an.“
Cha Thrat machte die ersten Schnitte und fuhr dann, ohne ein zweites Mal zu zögern oder die Hilfe des Diagnostikers zu erbitten, genauso fort, wie es die anderen getan hatten. Da sie nun wußte, was ihr bevorstand, unterdrückte sie ihre Angst und faßte den Entschluß, sich erst dann über den auf sie zukommenden Schmerz Gedanken zu machen, wenn es sowieso kein Entrinnen mehr für sie geben würde. Jetzt war sie felsenfest entschlossen, diesem seltsamen und äußerst sachkundigen, aber offenbar völlig verantwortungslosen Arzt zu zeigen, was für ein Verhalten man von einer sommaradvanischen Chirurgin für Krieger, die ihren Beruf von ganzem Herzen liebte, zu erwarten hatte.
Als sie die letzten Klammern in den Hautlappen drückte, der den Stumpf bedeckte, lobte sie der Diagnostiker in freundlichem Ton: „Das war eine schnelle, präzise und ganz vorbildliche Arbeit, Cha Thrat. Besonders beeindruckt bin ich von. Um Himmels willen! Was machen Sie denn da?“
Sie dachte, daß ihre Absicht klar wäre, als sie das Messer Nummer drei in die Hand nahm. Sommaradvanische DCNFs haben zwar keine solchen Vorderglieder wie die FROBs, aber das Abtrennen einer linken Hüftgliedmaße müßte den fachlichen Anforderungen dieser Situation gerecht werden. Ein rascher, sauberer Schnitt genügte, und sie blickte auf ihre abgetrennte Gliedmaße, die nun zwischen denen des Hudlarers im Behälter lag. Dann drückte sie den Amputationsstumpf fest zusammen, um die Blutung einzudämmen.
Ihre letzte bewußte Erinnerung an den Vorfall war, daß Diagnostiker Conway über den allgemeinen Tumult hinweg in den Kommunikator brüllte.
„FROB-Vorlesungssaal, dringender Notfall!“ rief er bestürzt. „Eine DCNF mit einer selbst herbeigeführten Amputation. Bereiten Sie sofort den OP auf Ebene dreiundvierzig vor, und stellen Sie umgehend ein mikrochirurgisches Team zusammen!“