Die Zeit strich dahin, und Cha Thrat hatte das Gefühl, keinerlei Fortschritte zu machen, bis ihr eines Tages auffiel, daß sie mittlerweile selbst die schwierigen Aufgaben routiniert erledigte, die sie bis vor kurzem niemals bewältigt hätte. Zwar bestand ein Großteil ihrer Tätigkeit aus reinster Sklavenarbeit, aber seltsamerweise wuchs ihr Interesse daran immer mehr, und sie war stolz, wenn sie dabei gute Ergebnisse erzielte. Hin und wieder sorgte die morgendliche Arbeitsverteilung allerdings für eine unangenehme Überraschung.
„Heute werden Sie damit anfangen, Energiezellen und andere Gebrauchsgüter auf das Ambulanzschiff Rhabwar zu schaffen“, trug ihr Timmins auf, wobei er auf seinen Arbeitsplan schaute. „Aber ich möchte, daß Sie vorher noch eine Kleinigkeit erledigen, und zwar sollen Sie auf der AUGL-Station die neuen Dekorationspflanzen anbringen. Lesen Sie aber die Befestigungsanleitung durch, bevor Sie gehen, damit die Ärzte glauben, Sie verstünden was von Ihrer Arbeit. Gibt es ein Problem, Cha Thrat?“
In ihrer Gruppe waren noch andere und ranghöhere Techniker — drei Kelgianer, ein Ianer und ein Orligianer —, die auf die Arbeitsverteilung für den heutigen Tag warteten. Cha Thrat bezweifelte zwar, ob sie die Befähigung besaß, eine der Aufgaben ihrer Kollegen zu übernehmen, aber versuchen mußte sie es trotzdem, auch wenn ihr eigener Auftrag wahrscheinlich viel zu leicht war, als daß der Lieutenant einem Tausch zustimmen würde.
Vielleicht könnte sie den Terrestrier dazu bringen, ihr wie früher eine Art Sonderbehandlung zuteil werden zu lassen, in deren Genuß sie, seit sie im Wartungsdienst beschäftigt war, aus irgendeinem Grund nie wieder gekommen war.
„Ja, es gibt ein Problem“, antwortete Cha Thrat leise, wobei sie hoffte, daß der flehende Unterton in ihrer Stimme bei der Übersetzung verlorenging. „Wie Sie wissen, bin ich bei Oberschwester Hredlichli nicht besonders gut angesehen“, fuhr sie fort, „und wahrscheinlich wird meine Anwesenheit auf der AUGL-Station zumindest verbale Unfreundlichkeiten hervorrufen. Vielleicht legt sich mit der Zeit die Verstimmung, an der zum großen Teil ich schuld bin, aber im Moment halte ich es für besser, jemand anders dorthin zu schicken.“
Timmins betrachtete sie einen Augenblick lang schweigend, lächelte dann und erwiderte: „Gerade im Moment will ich niemand anders als Sie auf die AUGL-Station schicken. Machen Sie sich mal keine Sorgen.
Krachlan“, fuhr er forsch fort, „Sie begeben sich auf Ebene dreiundachtzig. Von dort ist uns schon wieder eine Störung im Stromgleichrichter auf Station vierzehn B gemeldet worden. Vielleicht müssen wir mal das Gerät komplett austauschen.“
Auf dem ganzen Weg zur Ebene der Chalder schäumte Cha Thrat vor Wut, während sie sich fragte, wie ein derart dummer und gefühlloser Mischling aus verschiedenen Spezies wie Timmins zu einem so hohen Rang mit einer solch großen Verantwortung aufgestiegen war, ohne von den Händen, Scheren oder Tentakeln eines Untergebenen tödliche Wunden davongetragen zu haben. Nachdem sie bei der AUGL-Station eingetroffen und unauffällig durch die Wartungstunnelschleuse hineingelangt war, hatte sie sich genügend beruhigt, um sich an einige wenige — sehr wenige — gute Eigenschaften von Timmins zu erinnern.
Als sie sich an die Arbeit machte und sich ihr niemand näherte, war sie erleichtert. Sämtliche Patienten und Schwestern schienen sich am anderen Ende der Station versammelt zu haben, und durch das trübe grüne Wasser hindurch konnte sie verschwommen den charakteristischen Overall eines Mitglieds des Transportteams erkennen. Ganz offensichtlich ging dort hinten etwas sehr Wichtiges vor, was bedeutete, daß sie mit etwas Glück ihre Arbeit ungestört und vor allem unbemerkt zu Ende bringen könnte.
Aber anscheinend sollte es doch nicht ihr Glückstag werden.
„Sie schon wieder“, begrüßte sie die vertraute, spöttische Stimme von Hredlichli, die sich Cha Thrat leise von hinten genähert hatte. „Wie lange werden Sie brauchen, um dieses scheußliche Zeug anzubringen?“ „Fast den ganzen Morgen, Oberschwester“, antwortete Cha Thrat höflich.
Sie wollte mit der Chloratmerin keinen Streit, allerdings hatte es ganz den Anschein, daß eine von ihnen beiden kurz davor war, damit anzufangen. Sie fragte sich, ob es möglich wäre, einer Auseinandersetzung vorzubeugen, indem sie einen Monolog über ein Thema hielt, in dem ihr Hredlichli nicht widersprechen konnte — nämlich über das gesteigerte Wohlbefinden der Patienten.
„Es dauert deshalb so lange, die Pflanzen anzubringen, Oberschwester“, sagte sie schnell, „weil das hier nicht die üblichen Plastiknachahmungen sind. Wie ich gehört habe, sind sie frisch aus Chalderescol eingetroffen. Es handelt sich um eine einheimische Unterwasserpflanze, die sehr robust ist und nur minimalste Pflege benötigt. Sie setzt einen angenehmen Duft frei, der sich im Wasser ausbreitet und auf Patienten, die sich auf dem Weg der Genesung befinden, eine wohltuende psychologische Wirkung haben soll.
Der Wartungsdienst wird den Wuchs und den allgemeinen Zustand der Pflanzen in regelmäßigen Abständen überprüfen und die Nährstoffe bereitstellen“, fuhr sie rasch fort, bevor die Chloratmerin etwas sagen konnte. „Aber mit der Pflege der Pflanzen könnte man ja die Patienten betrauen, um ihrer Langeweile abzuhelfen und ihnen eine interessante Abwechslung zu verschaffen und den Schwestern freie Hand zur Pflege.“
„Cha Thrat“, fiel ihr Hredlichli in scharfem Ton ins Wort, „wollen Sie mir etwa vorschreiben, wie ich meine Station zu führen habe?“
„Nein“, antwortete Cha Thrat und wünschte sich nicht zum ersten Mal in ihrem Leben, daß ihr Mundwerk nicht immer so viel schneller als ihre Gedanken wäre. „Entschuldigung, Oberschwester. Natürlich habe ich mit der Patientenpflege überhaupt nichts mehr zu tun und wollte keineswegs das Gegenteil andeuten. Solange ich mich hier aufhalte, werde ich kein einziges Wort mit einem Patienten wechseln.“
Hredlichli stieß einen unübersetzbaren Laut aus und erwiderte: „Zumindest mit einem Patienten werden Sie heute doch noch sprechen.
Schließlich habe ich Timmins deshalb gebeten, Sie heute hierherzuschicken. Ihr Freund, AUGL-Eins-Sechzehn, fliegt nach Hause, und ich dachte, Sie möchten ihm vielleicht alles Gute wünschen — wie es offenbar gerade alle anderen auf der Station schon machen. Lassen Sie dieses ekelhafte Zeug, mit dem Sie uns beglücken wollen, doch einfach liegen, und erledigen Sie den Kram später.“
Einen Moment lang bekam Cha Thrat kein Wort heraus. Seit dem Wechsel zum Wartungsdienst hatte sie den Kontakt zu ihrem Freund von Chalderescol II verloren und wußte nur, daß er immer noch auf der Liste der im Hospital behandelten Patienten stand. Das höchste, was sie für heute zu hoffen gewagt hatte — und dabei hatte es sich nur um eine reichlich schwache Hoffnung gehandelt —, war, daß ihr Hredlichli gestatten würde, während der Arbeit ein paar Worte mit dem Chalder zu wechseln. Aber diese neue Entwicklung der Dinge kam für sie vollkommen überraschend.
„Danke schön, Oberschwester, das ist wirklich sehr nett von Ihnen.“
Die Chloratmerin gab erneut einen unübersetzbaren Laut von sich. „Seit meiner Ernennung zur Oberschwester habe ich mich dafür stark gemacht, dieses antiquierte Unterwasserverlies renovieren, neu ausstatten und zu etwas umbauen zu lassen, das Ähnlichkeit mit einer richtigen Station hat. Dank Ihnen wird das jetzt endlich durchgeführt, und als ich mich erst einmal von dem anfänglichen Schock über die Zerstörung meiner Station erholt hatte, bin ich zu dem Schluß gekommen, daß ich Ihnen einen Gefallen schulde.
Trotzdem“, fügte sie hinzu, „würde ich keine endlosen Seelenqualen erleiden, falls ich Sie heute zum letztenmal sehen sollte.“
AUGL-Eins-Sechzehn war bereits in den Transportbehälter geschoben worden. Nur noch die Luke über seinem Kopf war zu schließen, und danach sollte er durch die Schleuse in der Außenwand hindurch bis zum wartenden Chalderschiff gebracht werden. Eine Gruppe, die sich aus alles Gute wünschenden Schwestern, sichtlich ungeduldigen Mitgliedern des Transportteams und dem Terrestrier O'Mara zusammensetzte, hing wie ein Schwarm unbeholfener Fische rings um die Öffnung, aber durch das laute Sprudeln der Wasserfilterungsanlage im Behälter war es schwierig, das Gespräch zu verstehen. Als sich Cha Thrat näherte, winkte der Chefpsychologe die anderen zurück.
„Fassen Sie sich kurz, Cha Thrat, das Team ist schon im Verzug“, sagte O'Mara. Dann entfernte er sich und ließ sie mit dem ehemaligen Patienten allein.
Scheinbar eine ganze Ewigkeit blickte sie schweigend in das gewaltige Auge und auf die riesigen Zähne an dem Teil des Kopfes, der durch die offenstehende Luke sichtbar war, und brachte einfach nicht die Worte heraus, die sie sagen wollte. „Der Behälter sieht sehr klein aus. Haben Sie es darin auch bequem?“ fragte sie schließlich.
„Hier drinnen ist es richtig gemütlich, Cha Thrat“, antwortete der Chalder. „Der Behälter ist eigentlich nicht viel kleiner als mein späteres Quartier auf dem Schiff, aber diese beengten Verhältnisse sind ja nur von vorübergehender Dauer. Schließlich habe ich bald einen ganzen Planeten zum Schwimmen.
Und bevor Sie mich danach fragen“, fuhr der AUGL fort, „mir geht es gut, sogar ganz ausgezeichnet, Sie brauchen diesen schmerzfreien und vor Gesundheit strotzenden Körper also gar nicht erst mit Fragen zu durchlöchern, um meine Lebensfunktionen zu überprüfen.“
„Solche Fragen stelle ich nicht mehr“, entgegnete Cha Thrat und wünschte sich plötzlich, wie die Terrestrier lachen zu können, um zu verbergen, daß ihr nicht zum Lachen zumute war. „Ich bin jetzt beim Wartungsdienst, deshalb sind meine Instrumente viel größer und würden ein ganzes Stück unangenehmer sein.“
„O'Mara hat mir schon davon erzählt. Ist die Arbeit wenigstens interessant?“
Keiner von ihnen, dessen war sich Cha Thrat sicher, sagte das, was er eigentlich sagen wollte.
„Hochinteressant sogar“, antwortete sie. „Ich lerne eine Menge darüber, wie das Hospital im Innern funktioniert, und bekomme dafür vom Monitorkorps auch noch Gehalt, allerdings nicht sehr viel. Sobald ich genügend gespart habe, um Urlaub auf Chalderescol II zu machen, werde ich nachsehen, wie es Ihnen so geht.“
„Wenn Sie mich besuchen, Cha Thrat“, unterbrach sie der AUGL, „werden wir es nicht zulassen, daß Sie auf Chalderescol Ihren schwerverdienten Korpssold ausgeben. Da Sie meinen Namen gebrauchen dürfen und somit praktisch ein außerplanetarisches Mitglied meiner Familie sind, wären meine Verwandten zutiefst gekränkt und würden Sie wahrscheinlich zum Mittagessen verspeisen, falls Sie es trotzdem versuchen sollten.“
„In dem Fall werde ich Sie vermutlich schon bald besuchen kommen“, versprach Cha Thrat fröhlich.
„Wenn Sie jetzt nicht wegschwimmen, wertes Wesen“, sagte einer der Terrestrier im Overall des Transportteams, der neben ihr aufgetaucht war, „schließen wir Sie mit im Behälter ein. Dann können Sie gleich mit Ihrem Freund zusammen nach Chalderescol II fliegen!“
„Muromeshomon.“, sagte sie leise, als sich die Luke schloß, „. mach's gut!“
Während sie zu den noch nicht befestigten Pflanzen zurückschwamm, beschäftigte sich Cha Thrat in Gedanken so sehr mit ihrem Freund von Chalderescol II, daß sie nicht die Ungehörigkeit der Bemerkung bedachte, die sie als eine einfache Technikerin zweiter Klasse gegenüber dern terrestrischen Major des Monitorkorps fallenließ, als sie an ihm vorbeikam.
„O'Mara, ich gratuliere Ihnen zu dieser äußerst erfolgreichen Beschwörung“, sagte sie dankbar.
O'Mara reagierte zwar, indem er den Mund öffnete, doch brachte er nicht einmal einen unübersetzbaren Laut über die Lippen.
Die folgenden drei Tage verbrachte Cha Thrat mit dem Auffüllen der Schiffsvorräte der Rhabwar. Sie schaffte Nahrungsmittel und Gebrauchsgüter für die Besatzung an Bord und brachte überholungsbedürftige Geräte zu den zumeist terrestrischen Wartungstechnikern, die damit betraut waren, das Ambulanzschiff zur höchstmöglichen betrieblichen Leistungsfähigkeit zu bringen. Hin und wieder durfte sie auch beim Einbau einfacherer Gegenstände helfen. Beim nächsten Flug der Rhabwar sollte Diagnostiker Conway, der ehemalige Leiter des medizinischen Teams des Ambulanzschiffs, mit an Bord sein, und die jetzige Besatzung wollte ihm keinen Grund zur Klage geben.
Am vierten Tag bat Timmins Cha Thrat, sich während der Arbeitsverteilung ein wenig zu gedulden, da sie ausnahmsweise mal als letzte an der Reihe sei.
„Sie scheinen an unserem Ambulanzschiff sehr interessiert zu sein“, sagte der Lieutenant, als sie allein waren. „Wie ich gehört habe, sollen Sie andauernd und überall auf und in dem Schiff herumklettern, und zwar meistens dann, wenn niemand mehr an Bord ist und Sie eigentlich dienstfrei haben. Stimmt das?“
„Das stimmt allerdings, Lieutenant“, antwortete Cha Thrat voller Begeisterung. „Und nach dem zu urteilen, was ich dort schon alles gehört und gesehen habe, ist das ein unglaublich komplexes und herrlich funktionelles Schiff, fast eine Miniaturausgabe des Hospitals selbst. Besonders die Vorrichtungen zur Behandlung der Unfallopfer und die Ausrüstung zur Schaffung der geeigneten Umweltbedingungen für fremde Spezies sind.“ Sie brach mitten im Satz ab, um vorsichtig hinzuzufügen: „Selbstverständlich würde ich nie auf die Idee kommen, irgendeins dieser Geräte ohne Erlaubnis auszuprobieren oder gar zu benutzen.“
„Das will ich auch nicht hoffen!“ ermahnte sie der Lieutenant. „Also schön. Ich habe eine neue Aufgabe für Sie, und zwar auf der Rhabwar, wenn Sie sich das zutrauen. Kommen Sie mit.“
Kurz darauf befanden sie sich in einer kleinen Kammer, die vor dem Umbau ein postoperativer Erholungsraum gewesen war und immer noch die direkte Verbindung zum ELNT-Operationssaal besaß. Die Zimmerdecke war abgesenkt worden, was darauf hindeutete, daß der zukünftige Bewohner entweder auf dem Boden kroch oder im Stehen nicht besonders groß war. Die Rohr- und Energieversorgungsleitungen, die man hinter der noch unvollständigen Wandverkleidung aus Holz sehen konnte, trugen die Farbmarkierungen für einen warmblütigen Sauerstoffatmer, der mittlere Schwerkraft- und Druckverhältnisse benötigte.
Die bereits angebrachten Wandverkleidungsplatten waren so gefertigt, daß sie wie eine grobe Verschalung mit eigenartiger Oberflächenstruktur aussahen, die eher der Faserung eines Minerals als der Maserung von Holz ähnelte. Auf dem Boden lag ein unordentlicher Haufen Dekorationspflanzen, die noch aufgehängt werden mußten, und daneben stand eine riesige Landschaftsaufnahme, die von jedem x-beliebigen bewaldeten Seengebiet auf Sommaradva hätte stammen können, wenn die Anordnung der Bäume nicht feine Unterschiede aufgewiesen hätte.
An der Wand gegenüber dem Eingang befand sich das Gestell eines kleinen, niedrigen Betts mit Matratze. Doch die bemerkenswerteste Besonderheit des Raums — mit der Cha Thrat auf schmerzhafte Weise Bekanntschaft machte — war die durchsichtige Wand, die den Raum in zwei Hälften teilte. An der linken Seite der Wand befand sich eine Tür, die durch eine rote Umrandung gekennzeichnet war, und genau in der Mitte eine kleinere Öffnung, die eine ferngesteuerte Greif- und Untersuchungsvorrichtung enthielt, die bis zum Bett der anderen Seite reichte.
„Dieser Raum ist für eine ganz besondere Patientin vorbereitet worden“, erklärte Timmins. „Und zwar handelt es sich bei ihr um eine Gogleskanerin der physiologischen Klassifikation FOKT, eine persönliche Freundin von Diagnostiker Conway. Die Patientin, eigentlich die ganze Spezies, hat ernste Probleme, über die Sie sich informieren können, wenn Sie mehr Zeit haben. Die Gogleskanerin ist schwanger und nähert sich langsam der Geburt. Aufgrund gewisser psychologischer Umstände muß ihr ständig zugeredet werden, und Conway will seine momentane Arbeit noch im Laufe der nächsten Woche erledigen, damit er Zeit für den Flug nach Goglesk hat, um dort die Patientin an Bord zu nehmen und rechtzeitig vor der Geburt mit ihr zum Orbit Hospital zurückkehren zu können.“
„Ich verstehe“, warf Cha Thrat ein.
„Für Sie habe ich nun folgenden Auftrag“, fuhr Timmins fort. „Ich möchte, daß Sie eine kleinere und einfachere Version dieser Unterkunft auf dem Unfalldeck der Rhabwar einrichten. Die Einzelteile besorgen Sie sich im Lager, und von uns erhalten Sie die vollständige Montageanleitung. Diese Arbeit geht zwar ein wenig über Ehre derzeitigen technischen Fähigkeiten hinaus, aber falls sie es nicht schaffen sollten, bleibt noch für jemand anders Zeit genug, den Zusammenbau zu beenden. Wollen Sie es versuchen?“
„Gerne sogar!“ stimmte Cha Thrat begeistert zu.
„Gut. Sehen Sie sich dieses Zimmer genau an. Achten Sie besonders auf die Befestigungsbeschläge der durchsichtigen Wand. Über die ferngesteuerten Greifvorrichtüngen machen Sie sich mal nicht allzu viele Gedanken, das Schiff hat dafür eigene Geräte an Bord. Die Gurte zur Ruhigstellung der Patientin müssen getestet werden, aber nur unter Aufsicht eines Mitglieds des medizinischen Teams, von dem Sie von Zeit zu Zeit Besuch erhalten werden.
Anders als bei diesem Zimmer hier wird die Einrichtung auf dem Unfalldeck nur für die Dauer des Flugs von Goglesk zum Hospital benutzt, deshalb wird die Wandverkleidung lediglich aus einer Kunststoffolie bestehen, die mit der Maserung der Holztäfelung in diesem Raum bedruckt ist und auf die Innenhaut und Schotten des Schiffes gespannt wird. Das spart beim Einbau Zeit, und Captain Fletcher wäre sowieso nicht damit einverstanden, daß wir überflüssige Löcher in sein Schiff bohren. Wenn Sie glauben, verstanden zu haben, was Sie tun sollen, holen Sie sich das Material aus dem Lager, und bringen Sie es aufs Schiff. Ich werde Sie noch heute dort aufsuchen, bevor Sie Feierabend machen, um Ihnen alle.“
„Wozu dienen die transparente Wand und die ferngesteuerte Greifvorrichtung?“ unterbrach ihn Cha Thrat schnell, bevor sich der Lieutenant zum Gehen wandte. „Die Klassifikation FOKT klingt nicht gerade nach einer besonders großen oder gefährlichen Lebensform.“
„.um Ihnen dann alle Fragen zu beantworten, die nicht auf Ihrem Informationsband behandelt werden“, schloß er in bestimmtem Ton. „Viel Vergnügen, Cha Thrat.“
Die folgenden Tage sollten sich allerdings alles andere als vergnüglich erweisen, höchstens rückblickend betrachtet. Den ganzen ersten Tag und die erste Nacht hindurch bereiteten die dreidimensionalen Zeichnungen und Montageanleitungen Cha Thrat gewaltige Kopfschmerzen, aber von da an wurden Timmins Besuche, um ihre Fortschritte zu kontrollieren, immer seltener. Dreimal schaute auch Oberschwester Naydrad, die kelgianische Mitarbeiterin des medizinischen Teams, vorbei, die, wie Tarsedth mal erwähnt hatte, eine Spezialistin für Bergungstechniken unter erschwerten Bedingungen war.
Cha Thrat verhielt sich ihr gegenüber sehr freundlich, ohne unterwürfig zu sein, und Naydrad legte wie alle Kelgianer ein unhöfliches, fast unverschämtes Benehmen an den Tag. Doch hatte sie an Cha Thrats Arbeit nichts auszusetzen und beantwortete alle Fragen, die sie nicht für dumm oder zu belanglos hielt.
„Ich verstehe nicht ganz den Grund für die transparente Trennwand in diesem Raum“, sagte Cha Thrat bei einem der Besuche Naydrads. „Der Lieutenant hat mir erklärt, das habe psychologische Gründe, damit sich die Patientin geschützt fühle. Aber hinter einer undurchsichtigen Wand mit einem kleinen Fenster würde sie sich doch bestimmt noch sicherer vorkommen. Braucht die FOKT neben einem Geburtshelfer auch einen Zauberer?“
„Einen Zauberer?“ wiederholte die Kelgianerin verwundert und fuhr dann fort: „Ach ja! Sie müssen diese ehemalige Schwesternschülerin sein, die hier noch immer in aller Munde ist und die O'Mara für einen Medizinmann hält, stimmt's? Ich persönlich glaube ja, daß Sie, was O'Mara angeht, recht haben. Aber es ist nicht nur diese Patientin namens Khone, die einen Zauberer braucht, sondern die gesamte Bevölkerung von Goglesk. Khone ist entweder eine sehr mutige oder eine sehr dumme FOKT, die sich freiwillig als Versuchspatientin zur Verfügung gestellt hat.“ „Ich kann Ihnen immer noch nicht ganz folgen, Oberschwester. Könnten Sie mir das bitte genauer erklären?“
„Nein. Ich habe einfach keine Zeit, all die verzwickten Probleme dieses Falls zu erläutern und schon gar nicht einer Wartungstechnikerin, die krankhaft neugierig, aber nicht einmal direkt betroffen ist, oder die sich einsam fühlt und lieber plaudern, als arbeiten will. Seien Sie froh, daß Sie keine Verantwortung tragen, dieser Fall ist nämlich sehr heikel.
Jedenfalls“, fuhr sie fort und deutete dabei auf das Videogerät und das Regal mit den Videobändern am anderen Ende des Raums, „ist unsere Kopie des Bands mit der Krankengeschichte über zwei Stunden lang, falls Sie an diesem Fall wirklich so interessiert sind. Nehmen Sie dieses Band bitte nur nicht mit von Bord.“
Trotz der ständigen Versuchung, eine Pause zu machen und einen raschen Blick in das FOKT-Video zu werfen, setzte Cha Thrat ihre Arbeit fort, bis der Wartungsingenieur, der das Kommandodeck überprüft hatte, den Kopf zum Unfalldeck hereinsteckte.
„Zeit zum Mittagessen“, sagte er. „Ich gehe jetzt in die Kantine. Kommen Sie mit?“
„Nein danke“, antwortete Cha Thrat. „Ich muß hier noch etwas erledigen.“
„Das ist das zweitemal in drei Tagen, daß Sie das Mittagessen verpassen“, ermahnte sie der Terrestrier. „Sind alle Sommaradvaner so verrückt nach Arbeit? Haben Sie keinen Hunger oder nur eine verständliche Abneigung gegen das Kantinenessen?“
„Nein, sehr großen und manchmal“, beantwortete Cha Thrat die drei Fragen der Reihe nach.
„Ich habe einen Packen Sandwiches dabei“, fuhr der Wartungsingenieur fort. „Garantiert nahrhaft und ungiftig für alle Sauerstoffatmer, und wenn Sie sich den Belag nicht allzu genau ansehen, müßten Sie es eigentlich schaffen, das Zeug im Magen zu behalten. Interessiert?“
„Ja, sehr sogar“, bedankte sich Cha Thrat, wobei sie den Hintergedanken hegte, jetzt gleichzeitig ihren knurrenden Magen befriedigen und sich die ganze Mittagspause hindurch das FOKT-Video ansehen zu können.
Das gedämpfte, aber hartnäckige Heulen der Alarmsirene lenkte ihre Gedanken vom Planeten Goglesk und seinen eigenartigen Problemen auf die Erkenntnis, daß sie sich mit dem Video schon viel länger beschäftigt hatte, als die festgesetzte Mittagspause dauerte, und sich das Schiff plötzlich mit Leben füllte.
Sie sah drei Terrestrier in den grünen Uniformen des Monitorkorps am Eingang zum Unfalldeck vorbei in Richtung Kontrollraum rennen, und ein paar Minuten später kam der unförmige, grüne Ball, der Körper Danaltas, aufs Unfalldeck gerollt. Direkt hinter ihm folgte eine weißgekleidete Terrestrierin mit dem Abzeichen der pathologischen Abteilung, bei der sich um die DBDG Murchison handeln mußte. Danach erschienen auch Naydrad und Prilicla: Die Kelgianerin schlängelte sich in schnellen Wellenbewegungen über den Boden, und der insektenartige Empath huschte die Decke entlang. Die Oberschwester begab sich direkt zum Videorecoder, in dem noch das FOKT-Video lief, und schaltete das Gerät ab, als noch zwei Terrestrier an Deck stürmten.
Einer der beiden war Timmins, und bei dem zweiten handelte es sich, nach dem Abzeichen auf der Uniform und seinem gebieterischen Auftreten zu urteilen, um den Herrscher des Schiffs, Major Fletcher. Der Lieutenant ergriff als erster das Wort.
„Wie lange brauchen Sie noch, bis Sie hier fertig sind?“ fragte er Cha Thrat ungeduldig.
„Den Rest des Tages und den Großteil der Nacht“, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen.
Fletcher schüttelte den Kopf.
„Ich könnte noch mehr Leute darauf ansetzen, Sir“, schlug Timmins vor. „Natürlich müßte man sie kurz in ihre Tätigkeit einweisen, was ein bißchen Zeit kosten würde. Aber ich bin mir sicher, daß man damit die Arbeitsdauer allenfalls auf vier, vielleicht auch drei Stunden reduzieren könnte.“
Der Herrscher des Schiffs schüttelte abermals den Kopf.
„Dann bleibt uns wohl nur noch eine Alternative“, meinte der Lieutenant.
Zum erstenmal blickte Fletcher Cha Thrat direkt an. „Nach Aussage des Lieutenants sind Sie imstande, diese Einrichtung selbständig fertigzustellen und zu testen. Ist das richtig?“
„Ja“, antwortete Cha Thrat.
„Haben Sie irgend etwas dagegen, das auf einem dreitägigen Flug nach Goglesk zu erledigen?“
„Nein“, erwiderte sie mit fester Stimme.
Der Captain blickte nach oben auf Prilicla, den Leiter des medizinischen Teams des Schiffs, ohne etwas sagen zu müssen.
„Ich kann bei meinen Kolleginnen und Kollegen keine besonders ausgeprägte Abneigung gegen die Begleitung dieses Wesens feststellen, Freund Fletcher“, berichtete der Empath. „Schließlich handelt es sich um einen Notfall.“
„Wenn das so ist, starten wir in fünfzehn Minuten“, teilte Fletcher mit, während er sich zum Gehen wandte.
Timmins blickte Cha Thrat an, als ob er ihr irgend etwas sagen wollte — möglicherweise einen Rat zur Vorsicht oder eine Empfehlung oder ein beruhigendes Wort. Doch schließlich hielt er nur eine locker geballte Faust hoch, über der der abgespreizte Daumen senkrecht nach oben ragte; eine Geste, die sie noch nie bei ihm gesehen hatte. Dann war auch er verschwunden. Cha Thrat hörte das Stapfen seiner Füße auf dem Metallboden des Bordtunnels, und auf einmal kam sie sich trotz der vier höchst unterschiedlichen Lebensformen, von denen sie dicht umringt war, sehr einsam vor.
„Haben Sie keine Angst, Cha Thrat“, tröstete Prilicla sie, wobei die übersetzte Stimme von den rollenden Schnalzlauten seiner melodischen cinrusskischen Sprache untermalt wurde. „Sie befinden sich unter Freunden.“
„Es gibt da ein Problem“, meldete sich Naydrad zu Wort. „Wir haben für Ihre blöde Körperform keine passende Beschleunigungsliege, Cha Thrat. Legen Sie sich auf eine Trage, dann schnalle ich sie darauf fest.“