15. Kapitel

Als man die Gogleskanerin mit ihrem Kind von der Landefähre in die spezielle FOKT-Unterkunft auf dem Unfalldeck der Rhabwar gebracht hatte, waren beide Patienten bei vollem Bewußtsein und gaben geräuschvolle, zischende Laute von sich. Die Laute des Neugeborenen übersetzte der Translator nicht, aber Khones teilten sich in wiederholte Dankbarkeitsbekundungen für ihr Überleben und leise, aber sehr nachdrückliche Vergewisserungen über ihre körperliche Verfassung auf. Die Selbstdiagnose der Ärztin wurde von den Biosensoren untermauert und von den weniger handgreiflichen, dafür aber genaueren Befunden des für Emotionen empfänglichen Prilicla bestätigt. Da sie jetzt durch eine dicke, durchsichtige Trennwand von den freundlichen außerplanetarischen Ungeheuern getrennt war und sich somit auch von ihren unterbewußten Ängsten befreit hatte, war es Khone ein regelrechtes Vergnügen, sich jederzeit mit jedem zu unterhalten.

Das schloß auch die nichtmedizinischen Besatzungsmitglieder ein, die mit Captain Fletchers Erlaubnis kurz ihre Posten im Kontroll- und Maschinenraum verließen, um der Patientin zu gratulieren und mit Lügen über die deutlich erkennbare Intelligenz des Neuankömmlings, dessen Ähnlichkeit mit der Mutter und große Schönheit zu schmeicheln, eines Jungen von überdurchschnittlichem Gewicht. Trotz Priliclas eindringlichen Bitten, die Patientin ausruhen und sich von der übermäßigen Aufregung erholen zu lassen, erinnerte die Atmosphäre rings um Khones Zimmer mehr an eine Geburtstagsfeier als an das Unfalldeck eines Ambulanzschiffs.

Als jetzt Captain Fletcher eintraf, brauchte niemand die empathischen Fähigkeiten Priliclas zu besitzen, um den allgemeinen Stimmungsumschwung wahrzunehmen. An Khone richtete der Terrestrier die flüchtige Frage nach ihrem eigenen Befinden und dem des Kleinen, dann wandte er sich schnell Prilicla zu.

„In einer bestimmten Angelegenheit, Doktor, muß eine Entscheidung getroffen werden, zu der nur Sie und Ihr Team in der Lage sind. Vor ein paar Minuten hat uns das Hospital per Funk gemeldet, daß in diesem Sektor eine Notsignalbake entdeckt worden ist. Das verunglückte Schiff befindet sich ungefähr fünf Subraumflugstunden von uns entfernt. Die Bake gehört nicht zu dem von der Föderation benutzten Typ, deshalb sind die Opfer womöglich Mitglieder einer uns unbekannten Spezies. Das macht es natürlich schwierig, die für die Bergung benötigte Zeit zu schätzen, da nach unseren Erfahrungen so etwas ein paar Stunden oder aber auch einige Tage dauern kann.

Die Frage ist, ob die Patientin ins Hospital eingeliefert werden muß, bevor oder nachdem wir dem Notruf nachgegangen sind.“

Das war keine leichte Entscheidung, weil die Patientin, auch wenn ihr Zustand stabil war und sie nicht dringend behandelt werden mußte, zu einer Lebensform gehörte, über die klinisch nur wenig bekannt war, so daß jederzeit unerwartete Komplikationen auftreten konnten. Überraschenderweise wurde die lebhafte, aber zwangsläufig kurze Diskussion von Khone selbst beendet.

„Bitte, meine Freunde!“ mischte sie sich in einer der seltenen Gesprächspausen ein. „Gogleskanerinnen erholen sich schnell, wenn sie erst einmal das Geburtstrauma überstanden haben. Ich kann Ihnen sowohl als Ärztin als auch als Patientin versichern, daß eine derartige Verzögerung weder mich noch mein Kind gefährdet. Nebenbei, hier auf dem Schiff erfahren wir viel mehr Zuwendung, als es irgendwo auf Goglesk möglich wäre.“

„Sie vergessen dabei etwas“, gab Murchison zu bedenken. „Wir gelangen vielleicht an den Schauplatz einer Katastrophe, an der möglicherweise eine für uns völlig neue Lebensform beteiligt ist. Es ist denkbar, daß diese Wesen selbst uns mit Schrecken oder Abscheu erfüllen, ganz zu schweigen von einer Gogleskanerin, die zum erstenmal ihren Planeten verlassen hat.“

„Das mag ja sein“, räumte Khone ein, „aber die Opfer werden sich höchstwahrscheinlich in viel schlechterer Verfassung befinden als ich.“

„Na schön“, beendete Prilicla schließlich die Debatte und wandte sich wieder an den Captain. „Allem Anschein nach hat uns Khone an die Prioritäten und an unsere ärztliche Pflicht erinnert. Teilen Sie dem Hospital mit, daß die Rhabwar dem Notruf Folge leistet.“

Fletcher verschwand in Richtung Kontrollraum, und der Cinrussker fuhr fort: „Jetzt sollten wir erst einmal essen und dann schlafen, da wir in nächster Zeit womöglich weder zu dem einen noch zu dem anderen Gelegenheit haben werden. Die Biosensoren der Patientin werden automatisch überwacht, und jede Veränderung ihres Zustands wird mir sofort gemeldet. Auch Khone und ihr Kind brauchen Ruhe, und die würden sie nicht bekommen, wenn ich hier ein Mitglied des Teams zum Dienst zurücklassen würde. Also, alle raus hier! Schlafen Sie gut, Freundin Khone.“

Der Empath flog in seiner anmutigen Art in den gravitationsfreien Hauptverbindungsschacht und weiter in Richtung Speise- und Freizeitdeck. Naydrad, Danalta, Murchison und Cha Thrat folgten ihm auf konventionellere Weise. Doch kurz bevor sie ihre Kletterpartie in der Schwerelosigkeit begannen, hielt sich Murchison mit einer Hand an der Leiter fest und legte Cha Thrat die zweite auf eine der mittleren Gliedmaßen.

„Warten Sie bitte“, sagte sie. „Ich würde mich gern mit Ihnen unterhalten.“

Cha Thrat verharrte in ihrer Position, sagte aber nichts. Das Gefühl dieser zarten Alienfinger, die sanft ihren Arm umfaßten, und der Anblick des schwammigen, rosa Terrestriergesichts, das sie von unten anblickte, ließen Empfindungen aufkommen, auf die kein Sommaradvaner — und erst recht kein weiblicher — ein Recht hatte. Langsam, um die Terrestrierin nicht zu kränken, befreite sie ihre Gliedmaße aus Murchisons Griff und bemühte sich, ihre Gefühle unter Kontrolle zu bekommen.

„Mir macht diese Rettungsaktion zu schaffen, Cha Thrat, und auch der Eindruck, den die Verletzten, die wir vielleicht behandeln müssen, auf Sie machen werden“, sagte sie leise. „Unfallverletzungen können ganz schön schlimm sein. Zum größten Teil handelt es sich dabei um durch Aufpralle verursachte Frakturen und durch explosionsartigen Druckverlust hervorgerufene Wunden, und in der Regel gibt es nur sehr wenige Überlebende. Sie sind offenbar nicht in der Lage, Ihre sommaradvanische Nase aus dem medizinischen Gebiet herauszuhalten, aber diesmal müssen Sie versuchen — wirklich mit allen Mitteln versuchen —, sich nicht mit den Unfallopfern einzulassen.“

Bevor Cha Thrat etwas entgegnen konnte, fuhr sie fort: „Bei Khone haben Sie wirklich sehr gute Arbeit geleistet, obwohl ich mir immer noch nicht ganz sicher bin, was da genau passiert ist, aber auf jeden Fall hatten Sie Glück. Wie hätten Sie sich gefühlt, wenn Khone oder das Kind oder beide gestorben wären? Und was noch wichtiger ist, was hätten Sie sich dann selbst angetan?“

„Nichts“, antwortete Cha Thrat und hielt sich verzweifelt vor Augen, daß der Ausdruck auf dem rosa Gesicht unter ihr nur wohlwollende Sorge um eine Untergebene von einer anderen Spezies und nichts Persönlicheres bedeutete. Schnell fuhr sie fort: „Ich hätte mich zwar sehr schlecht gefühlt, aber mich nicht noch einmal selbst verletzt. Die ethischen Grundsätze einer Chirurgin für Krieger sind streng, und selbst auf Sommaradva hat es Kollegen gegeben, die sie nicht so strikt befolgt haben wie ich und mich deswegen beneidet haben und mich nicht leiden konnten. Für mich behalten diese Grundsätze zwar ihre Gültigkeit, aber im Orbit Hospital und auf Goglesk gelten andere, die genauso ihre Berechtigung haben. Diesbezüglich haben sich meine Standpunkte durchaus verändert…“

Sie brach ab, da sie befürchtete, schon zu viel gesagt zu haben, aber der Pathologin war anscheinend nicht aufgefallen, daß sie den Plural benutzt hatte, als sie gleich von mehreren Standpunkten sprach.

„Wir nennen so etwas „seinen Horizont erweitern““, entgegnete Murchison. „Mir fällt ein Stein vom Herzen, und ich freue mich für Sie, Cha Thrat. Es ist wirklich schade, daß Sie. Na ja, was ich vorhin gesagt habe, daß Ihr Wechsel für den Wartungsdienst ein Gewinn und für uns ein Verlust ist, war ernstgemeint. Ihre Vorgesetzten finden den Umgang mit Ihnen manchmal ein bißchen schwierig, und nach den Vorfällen mit dem Chalder und dem Hudlarer kann ich mir nicht vorstellen, daß Sie noch von irgend jemandem zur Ausbildung auf einer Station angenommen werden. Aber wenn Sie warten, bis sich die Aufregung gelegt hat, und nichts mehr anstellen, um aufzufallen, könnte ich mit ein paar Leuten darüber reden, Sie wieder zum medizinischen Personal zurückversetzen zu lassen. Was halten Sie davon?“

„Ich wäre Ihnen dafür sehr dankbar“, antwortete Cha Thrat und suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, dieses Gespräch mit einem Wesen zu beenden, das nicht nur ein mitfühlendes und verständnisvolles Naturell hatte, sondern dessen körperliche Seiten in ihr noch ganz andere Gefühle hervorriefen, die normalerweise mit dem Geschlechtstrieb in Zusammenhang standen. Nach ihrem Dafürhalten handelte es sich hierbei ganz eindeutig um ein Problem, das nur durch eine von O'Maras Beschwörungen gelöst werden konnte, und um auf ein anderes Thema zu kommen, fügte sie hinzu: „Außerdem habe ich Hunger.“

„Hunger?“ rief Murchison erstaunt. Als sich die Terrestrierin wieder der Leiter zuwandte, um weiter in Richtung Kantine zu klettern, lachte sie plötzlich und sagte: „Wissen Sie, Cha Thrat, manchmal erinnern Sie mich an meinen Lebensgefährten.“

Cha Thrat erstarrte für einen Augenblick, dann faßte sie entschlossen nach der Leiter.

Nach dem Essen war Cha Thrat zwar in der Lage, sich auszuruhen, aber es gelang ihr nicht, zu schlafen, und nachdem sie sich drei Stunden lang vergeblich abgemüht hatte, brach sie weitere Versuche unter dem Vorwand ab, Khones Lebenserhaltungs- und Nahrungsversorgungssysteme überprüfen zu müssen. Sie traf die Gogleskanerin ebenfalls wach an, und während Khone liebevoll ihr Kind fütterte, unterhielten sie sich leise. Kurz darauf waren beide FOKTs eingeschlafen, und Cha Thrat blieb sich allein überlassen. Eine ganze Weile starrte sie schweigend auf die Formenvielfalt der Geräte auf dem Unfalldeck, die in der Nachtbeleuchtung wie unheimliche, mechanische Trugbilder aussahen, bis auf einmal Prilicla angeflogen kam.

„Konnten Sie sich schon mit Freundin Khone unterhalten?“ erkundigte sich Cinrussker, der über den beiden FOKTs schwebte.

„Ja“, antwortete Cha Thrat. „Sie wird Ihrem Vorschlag folgen, uns nicht in Verlegenheit zu bringen.“

„Danke, meine Freundin. Ich spüre, daß die anderen jetzt auch aufwachen und sich gleich zu uns gesellen werden. Wir müßten jeden Moment am Unglücksort.“

Er wurde von einem doppelten Gongton unterbrochen, der den Wiedereintritt des Schiffs in den Normalraum ankündigte, und ein paar Minuten später folgte die Stimme von Lieutenant Haslam aus dem Kontrollraum.

„Unsere weitreichenden Sensoren haben Kontakt mit einem großen Schiff“, meldete der Kommunikationsoffizier. „Es gibt keine Anzeichen für abnorme Strahlungswerte, keine sich ausbreitenden Trümmerwolken und auch keine Spur von einer Fehl&nktion, die durch ein Unglück herbeigeführt worden sein könnte. Das Schiff dreht sich sowohl um die Längsachse als auch langsam um die Querachse. Wir stellen das Teleskop auf die Sensorpeilung ein und übertragen das Bild auf Ihren Repeaterschirm.“

In der Mitte des Bildschirms erschien ein schmales, verschwommenes Dreieck, das schärfer wurde, als Haslam die Brennweite richtig einstellte.

„Halten Sie sich für maximalen Schub in zehn Minuten bereit“, fuhr Haslam fort. „Schwerkraftkompensatoren auf drei Ge eingestellt. Wir müßten das Schiff in weniger als zwei Stunden erreicht haben.“

Cha Thrat und Khone betrachteten den Bildschirm zusammen mit dem medizinischen Team, dessen große Ungeduld Prilicla zum Zittern brachte. Sie hatten alles so weit vorbereitet, wie es unter diesen Umständen möglich war; die mehr ins Detail gehenden Vorkehrungen mußten warten, bis man eine ungefähre Vorstellung von der physiologischen Klassifikation der Aliens hatte, die womöglich demnächst gerettet werden könnten. Doch dem Captain des Schiffs war es bereits jetzt möglich, erste Schlußfolgerungen zu ziehen, selbst aus dieser großer Entfernung.

„Unserem Astronavigationscomputer zufolge liegt die nächste Sonne elf Lichtjahre entfernt, und die hat keine Planeten, also kann das Schiff nicht von dort gekommen sein“, folgerte Fletcher. „Trotz seiner Größe ist es viel zu klein, um ein Generationsschiff zu sein, von daher benutzt es höchstwahrscheinlich eine Hyperantriebsart, die unserer gleicht. Ansonsten weist es aber keinerlei Ähnlichkeit mit irgendeinem der außer oder in Betrieb genommenen oder noch im Bau befindlichen Schiffe im Flottenverzeichnis der Föderation auf.

Trotz der enormen Größe besitzt es die aerodynamisch günstige Dreiecksform, die typisch für ein Schiff ist, das in einer Planetenatmosphäre manövrieren muß“, fuhr der Captain fort. „Die meisten uns bekannten Spezies, die durch den Raum reisen können, ziehen es aber aus technischen und wirtschaftlichen Gründen vor, ihre gleichermaßen für den Atmosphäre- als auch für den Raumflug konstruierten Schiffe möglichst klein zu halten. Die größeren Schiffe, die nicht zum Landen vorgesehen sind, werden im Orbit gebaut, wo die stromlinienförmige Gestaltung überflüssig ist. Bei den zwei Ausnahmen, von denen ich weiß, handelt es sich um Lebensformen, die ihre kombinierten Raum-Atmosphäreschiffe groß anlegen müssen, weil die zum Flug benötigte Besatzung selbst in riesigen Körpern steckt.“

„Na prima!“ freute sich Naydrad. „Also retten wir einen Haufen Riesen!“

„Das ist im Augenblick pure Spekulation“, gab der Captain zu bedenken. „Auf Ihrem Schirm ist das zwar nicht zu sehen, aber wir sind gerade dabei, ein paar Einzelheiten der Konstruktion zu analysieren. Dieses Schiff ist nicht gerade von Uhrmachern zusammengesetzt worden. Die Konstruktionsphilosophie scheint allgemein eher auf Einfachheit und Stabilität ausgerichtet gewesen zu sein als auf Raffiniertheit. Wir können jetzt langsam kleine Einstiegs- und Inspektionsluken sowie zwei sehr große Umrisse ausmachen, bei denen es sich um Einlaßschleusen handeln muß. Obwohl das natürlich auch Frachtschleusen sein können, die nur nebenbei körperlich kleinen Besatzungsmitgliedern zum Einsteigen dienen. Dennoch ist es wahrscheinlicher, daß die Insassen zu einer sehr großen und massiven Lebensform gehören.“

„Haben Sie keine Angst, Freundin Khone“, warf Prilicla schnell ein. „Selbst ein verrückt gewordener Hudlarer könnte die Trennwand, die Cha Thrat um Sie herumgestellt hat, nicht durchbrechen, und die Unfallopfer werden sowieso bewußtlos sein. Sie und Ihr Kind sind völlig sicher.“

„Das ist wirklich sehr beruhigend“, entgegnete die Gogleskanerin. Mit sichtlicher Überwindung fügte sie persönlicher hinzu: „Ich danke Ihnen.“

„Freund Fletcher“, wandte sich der Empath an den Captain, „können Sie noch weitere Vermutungen über diese Lebensform anstellen, außer daß sie groß ist und wahrscheinlich keine besonders ausgeprägte Fingerfertigkeit besitzt?“

„Das hatte ich ja gerade vor“, grummelte der Captain ungehalten. „Nach der Analyse der entwichenen Innenatmosphäre zu urteilen, ist.“

„Dann hat der Rumpf Löcher bekommen!“ rief Cha Thrat aufgeregt dazwischen. „Von innen oder außen?“

„Technikerin Cha Thrat!“ zischte der Captain und hielt ihr allein mit dieser Anrede ihre Anmaßung vor Augen. „Nur zu Ihrer Information: Es ist äußerst schwierig, kostspielig und vollkommen überflüssig, ein großes Raumschiff absolut luftdicht zu machen. Es ist viel praktischer, den Innendruck auf dem Sollwert zu halten und die geringfügige Menge entweichender Luft zu ersetzen. Hätten wir im gegenwärtigen Fall keine austretende Luft entdeckt, hätte das fast mit Sicherheit bedeutet, daß das Schiff ganz und gar aufgerissen und luftleer ist.

Aber es gibt keinerlei Anzeichen für einen Zusammenstoß oder Rumpfschäden, und nach den Sensordaten und der Analyse der ausgetretenen Atmosphäre zu schließen, besteht die Besatzung aus warmblütigen Sauerstoffatmern, die eine ähnliche Umgebungstemperatur und annähernd den gleichen Druck brauchen wie wir.“

„Danke, Freund Fletcher“, sagte Prilicla und gesellte sich zu den anderen, die schweigend den Repeaterschirm betrachteten.

Das Bild des langsam schlingernden und rotierenden Schiffs war allmählich immer größer geworden, bis es den Bildschirmrand berührte, als Murchison sagte: „Das Schiff ist unbeschädigt und führerlos. Zudem tritt den Sensoren zufolge keine übermäßige Strahlung aus dem Hauptreaktor aus. Das Problem der Besatzung besteht demnach wahrscheinlich eher in einer Krankheit als in Verletzungen, die durch einen Unfall hervorgerufen worden sind. Vermutlich handelt es sich dabei um ein Leiden, von dem die gesamte Crew befallen worden ist und das sie arbeitsunfähig gemacht oder gar getötet hat. Darunter verstehe ich auch das Einatmen giftiger Gase, die durch einen technischen Defekt freigesetzt worden sind, beispielsweise aus dem.“

„Nein, Murchison“, widersprach Fletcher, der die Sprechverbindung zwischen Unfalldeck und Kontrollraum aufrechterhalten hatte. „Eine derart starke Verseuchung durch giftige Gase im Luftversorgungssystem wäre durch unsere Analysen nachgewiesen worden. Mit der Luft ist auf dem Schiff alles in Ordnung.“

„Dann hat vielleicht eine giftige Substanz die Getränke- oder Lebensmittelvorräte verseucht und ist auf diesem Wege aufgenommen worden“, fuhr Murchison unbeirrt fort. „So oder so, womöglich gibt es keine Überlebenden, und uns bleibt hier nichts zu tun, als Nachuntersuchungen anzustellen, die Physiologie einer neuen Lebensform aufzuzeichnen und dem Monitorkorps den Rest zu überlassen.“

Der Rest würde, wie Cha Thrat wußte, bedeuten, eine eingehende Untersuchung der Energie, der Lebenserhaltung und der Navigationssysteme des Schiffes mit dem Ziel durchzuführen, den technischen Entwicklungsstand der Spezies zu beurteilen. Daraus könnten sich die Informationen ergeben, die man brauchte, um die einzelnen Abschnitte der Flugbahn des Schiffs vor dem Unfall zu berechnen und den Kurs zum Herkunftsplaneten zurückzuverfolgen. Gleichzeitig würde man eine noch sorgfältigere Bewertung der nichttechnischen Ausstattung des Schiffs — der Besatzungsunterkünfte und deren Einrichtung, der Kunst- und Dekorationsgegenstände, der persönlichen Habseligkeiten, der Bücher,

Bänder und der Geräte zum persönlichen Zeitvertreib — vornehmen, damit man nach geglückter Entdeckung des Heimatplaneten, die letzten Endes nicht ausbleiben kann, wüßte, mit welchen Lebewesen man es zu tun bekommen würde.

Und zu guter Letzt würde dieser Planet von den Kontaktspezialisten des Monitorkorps aufgesucht werden und, genau wie Sommaradva, nie wieder so sein wie vorher.

„Wenn es auf dem Schiff keine Überlebenden gibt, Murchison, dann ist das hier keine Aufgabe für die Rhabwar“, meinte Fletcher mit Bedauern. „Aber das können wir nur herausfinden, wenn wir uns aufs Schiff begeben und nachsehen. Prilicla, möchten Sie irgendein Mitglied Ihres Teams mit mir mitschicken? Obwohl, zu diesem Zeitpunkt ist es eher ein mechanisches als ein medizinisches Problem, sich Zugang zum Schiff zu verschaffen. Lieutenant Chen und Technikerin Cha Thrat, Sie werden mir helfen hineinzukommen. Moment mal! Mit dem Schiff geht irgend etwas vor!“

Cha Thrat war völlig überrascht, daß sie Fletcher bei einer derart wichtigen Aufgabe helfen sollte, äußerst beunruhigt, weil sie vielleicht nicht imstande sein würde, seine Erwartungen zu erfüllen, und mehr als ein bißchen ängstlich, wenn sie daran dachte, was sie möglicherweise erwartete, nachdem sie in das verunglückte Schiff eingedrungen waren. Doch diese Gefühle wurden einstweilen durch den Anblick der Vorgänge auf dem Bildschirm verdrängt.

Während alle wie gebannt auf den Schirm starrten, erhöhte sich die Geschwindigkeit, mit der das Schiff schlingerte und rotierte, und der vordere und hintere Teil des Rumpfs und die Spitzen der breiten dreieckigen Flügel wurden durch unregelmäßige Dampfstrahle in Nebel eingehüllt. Einen Moment lang glaubte Cha Thrat, die Übelkeit eines jeden Wesens, das sich gerade auf diesem Schiff befand und bei Bewußtsein war, gut nachempfinden zu können, dann meldete sich erneut Fletcher.

„Das sind die Steuerungsdüsen!“ rief er aufgeregt. „Offenbar versucht jemand, die Drehung zu stoppen, macht aber alles nur noch schlimmer! Vielleicht geht es dem Überlebenden körperlich nicht gut, oder er ist verletzt oder nicht mit der Steuerung vertraut. Aber immerhin wissen wir jetzt, daß im Schiff noch jemand am Leben ist. Dodds, sobald wir in Reichweite sind, stoppen Sie die Drehung und koppeln mit allen verfügbaren Traktorstrahlen an. Doktor Prilicla, es gibt wieder etwas für Sie zu tun.“

„Manchmal ist es doch wirklich schön, wenn man Lügen gestraft wird“, sagte Murchison, ohne irgend jemanden direkt anzusprechen.

Während sich Cha Thrat ihren Anzug anlegte, verfolgte sie mit Spannung das Gespräch zwischen dem medizinischen Team und Fletcher, das sich schnell zu einem erbitterten Streit ausgeweitet hätte, wäre nicht der sanfte kleine Empath zugegen gewesen.

Aus dem Wortwechsel ergab sich deutlich, daß der Captain der alleinige Herrscher über die Rhabwar war, soweit es sämtliche Schiffsoperationen betraf, doch am Schauplatz einer Katastrophe mußte er seine Befehlsgewalt an den ranghöchsten Arzt an Bord abtreten, der dazu ermächtigt war, die Fähigkeiten des Schiffs und seiner Offiziere nach eigenem Gutdünken einzusetzen. Der eigentliche Streit schien sich genau um den Punkt zu drehen, an dem Fletchers Verantwortung aufhörte und Priliclas anfing.

Der Captain beanspruchte, daß sich das medizinische Team, weil es sich nicht um ein beschädigtes Schiff handle, erst dann am Unglücksort befände, wenn er es ins Schiff hineingebracht habe, und bis dahin müsse es weiterhin seine Anweisungen oder wenigstens seine Ratschläge befolgen. Der Rat des Captains an das medizinische Team lautete, auf der Rhabwar zu bleiben, bis er, Fletcher, sich Zugang zum fremden Schiff verschafft habe. Andernfalls riskiere man, selbst zu Opfern eines Unfalls zu werden, falls sich der verletzte oder kranke Überlebende — der ja bereits den Versuch, die Rotation des Schiffs mit den Steuerungsdüsen zu stoppen, verpatzt hatte — entschließen sollte, mit den Haupttriebwerken ein gleichermaßen fruchtloses wie verheerenderes Unterfangen zu veranstalten.

Wenn das medizinische Team vor der Einlaßschleuse des verunglückten Schiffs wartete, während gerade Schub gegeben wurde, würde man entweder gegen die Außenhaut geschleudert oder vom Heckfeuer verbrannt werden, und die Rettungsaktion müßte wegen des plötzlichen Mangels an Rettern abgebrochen werden.

Nach Cha Thrats Auffassung klangen Fletchers Gründe für den Wunsch, das medizinische Team erst einmal auf der Rhabwar warten zu lassen, vernünftig, auch wenn er ihr durch seine Ausführungen eine neue Gefahr bewußt gemacht hatte, die ihr nun Sorgen bereitete. Aber das medizinische Team war für die schnellstmögliche Bergung und Behandlung Schiffbrüchiger ausgebildet worden und war besonders in diesem Fall, wo es vielleicht nur einen Überlebenden gab, darauf bedacht, keine Zeit zu verlieren. Als sich Cha Thrat schließlich zur Luftschleuse aufmachte, hatte man einen Kompromiß ausgehandelt.

Prilicla sollte Fletcher, Chen und Cha Thrat zum fremden Schiff begleiten. Während sich die letzten drei bemühten hineinzukommen, würde der Empath sich an der Außenhaut entlangbewegen, um auf diese Weise zu versuchen, die Aufenthaltsorte etwaiger Überlebender durch deren emotionale Ausstrahlung ausfindig zu machen. Der Rest des medizinischen Teams sollte sich bereithalten, um die Opfer schnell zu bergen, sobald der Weg frei wäre.

Cha Thrat hatte erst ein paar Minuten in der Schleusenvorkammer gewartet, als Lieutenant Chen hereinkam.

„Prima, Sie sind ja schon da!“ begrüßte sie der Terrestrier lächelnd. „Helfen Sie mir bitte, unsere Ausrüstung in die Schleuse zu schaffen. Der Captain mag es nämlich überhaupt nicht, wenn man ihn warten läßt.“

Ohne den Eindruck zu erwecken, einen Vortrag halten zu wollen, erklärte ihr Chen den Verwendungszweck der Geräte, die sie gemeinsam von dem nahegelegenen Laderaum in die Schleuse brachten, und schloß auf diese Weise Cha Thrats Wissenslücken, ohne daß sie sich dabei dumm oder minderwertig vorkam, wie es bei derartigen Vorgängen so häufig der Fall ist. Cha Thrat schloß aus Chens Verhalten, daß es sich bei diesem Terrestrier trotz seines hohen Dienstgrads um ein umsichtiges und äußerst hilfsbereites Wesen handeln mußte, eins, bei dem sie es auf eine kleine Anmaßung ankommen lassen konnte.

„Das soll keinesfalls eine Kritik am Herrscher des Schiffs sein“, setzte sie vorsichtig an, „aber ich mache mir Sorgen, weil mir Captain Fletcher mehr technische Kenntnisse zutraut, als ich sie in Wirklichkeit besitze. Ehrlich, ich bin überrascht, daß er mich dabeihaben will.“

Chen stieß einen unübersetzbaren Laut aus und sagte dann: „Sie brauchen deswegen weder überrascht noch beunruhigt zu sein, Technikerin Cha Thrat.“

„Leider bin ich aber beides“, entgegnete Cha Thrat.

Die nächsten Minuten sprach der Lieutenant über die einzelnen Elemente der transportablen Luftschleuse, die sie gerade trugen. Wenn diese Teile zusammengebaut und mit einem schnell bindenden Dichtungsmittel um die Einlaßschleuse des fremden Schiffs herum befestigt wurden, konnte man mit Hilfe des Bordtunnels der Rhabwar die beiden Schiffe miteinander verbinden, und die Ärzte waren so in der Lage, ihre Arbeit ohne die hinderlichen Raumanzüge zu verrichten.

„Aber machen Sie sich mal keine Gedanken, Cha Thrat“, fuhr Chen fort. „Ihr Chef vom Wartungsdienst, dieser Timmins, hat sich mit dem Captain über sie unterhalten. Er hat gesagt, Sie seien ziemlich gescheit, würden rasch lernen, und wir sollten Ihnen soviel Arbeit wie möglich aufhalsen, weil Sie nach der Fertigstellung des FOKT-Quartiers vorläufig nichts mehr zu tun hätten und unruhig werden könnten. Weiterhin meinte er, daß das medizinische Team Sie auf keinen Fall in die Nähe eines der Patienten lassen würde, weil Sie sich in der Vergangenheit im Hospital so merkwürdig aufgeführt hätten.“

Auf einmal lachte er und fuhr fort: „Jetzt wissen wir jedenfalls, wie sehr sich Timmins diesbezüglich geirrt hat. Aber wir haben trotzdem vor, Sie weiterhin mit Aufgaben zu betrauen. Sie haben viermal so viele Hände wie ich, und ich könnte mir keine bessere Werkzeughalterin vorstellen als Sie. Habe ich Sie jetzt etwa beleidigt, Technikerin Cha Thrat?“

Diese Frage war an die auszubildende Wartungstechnikerin und nicht an die stolze Chirurgin für Krieger, die sie einmal gewesen war, gerichtet, deshalb mußte sie mit Nein antworten.

„Das ist gut“, entgegnete Chen. „Schließen und versiegeln Sie jetzt Ihren Helm, und überprüfen Sie zweimal die Verschlüsse, mit denen Sie an der Sicherheitsleine befestigt sind. Der Captain ist schon auf dem Weg.“

Und dann war sie, von oben bis unten mit Geräten behängt, draußen und trieb mit den beiden Terrestriern die kurze Strecke zum fremden Schiff hinüber, das mittlerweile von den starren, unsichtbaren Traktorstrahlen der Rhabwar zum Stillstand gebracht worden war. Bei diesem Vorgang hatte sich ein Teil der Rotation auf die Rhabwar übertragen. Doch die unzähligen Sterne, die ununterbrochen um die beiden scheinbar reglosen Schiffe kreisten, riefen keine Übelkeit, sondern allenfalls Staunen hervor.

Als sie das fremde Schiff erreichten, war Prilicla, der die Rhabwar durch die Luftschleuse des Unfalldecks hindurch verlassen hatte, bereits da und flog den Rumpf auf der Suche nach emotionaler Ausstrahlung ab, die ihm das Vorhandensein von Überlebenden verraten würde.

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