20. Kapitel

Cha Thrat erschien zu ihrer Verabredung mit dem Chefpsychologen pünktlich auf die Sekunde, weil sie gehört hatte, daß O'Mara zu frühes Erscheinen für eine ebensolche Zeitverschwendung hielt wie zu spätes. Doch diesmal war der Chefpsychologe derjenige, der unpünktlich war, obwohl daran indirekt wieder einmal Cha Thrat schuld hatte. Der Terrestrier Braithwaite, der einzige Anwesende in dem riesigen Vorzimmer, erklärte es ihr.

„Tut mir leid wegen der Verzögerung, Cha Thrat“, sagte er und neigte den Kopf in Richtung O'Maras Tür, „aber die Besprechung ist noch voll im Gange. Bei ihm sind Chefarzt Cresk-Sar und, absteigend nach Dienstgrad geordnet, Colonel Skempton, Major Fletcher und Lieutenant Timmins. Die Tür soll eigentlich schalldicht sein, aber hin und wieder bekomme ich trotzdem etwas mit. Jedenfalls unterhalten die sich gerade über Sie.“

Er setzte ein wohlwollendes Lächeln auf, deutete auf den nächsten der drei unbesetzten Computertische neben sich und fuhr fort: „Setzen Sie sich dort hin, während wir auf den Urteilsspruch warten. Den Platz müßten Sie eigentlich ziemlich gemütlich finden. Jetzt machen Sie sich mal keine Sorgen, Cha Thrat. Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich gern mit meiner Arbeit weitermachen.“

Cha Thrat entgegnete, daß es ihr nichts ausmache, und war überrascht, als auf dem Bildschirm, der vor ihr stand, plötzlich Braithwaites Arbeit zu sehen war. Sie hatte zwar keine Ahnung, womit der Terrestrier beschäftigt war, doch noch während sie dies zu verstehen versuchte, wurde ihr klar, daß er ihr absiehtlich etwas vorsetzte, damit sie sich mit den Gedanken mit anderen Dingen beschäftigte, als mit denen, die man wahrscheinlich im Nebenraum gerade über sie sagte.

Als einer der wichtigsten Assistenten des Zauberers war Braithwaite offenbar befähigt, selbst einige hilfreiche Beschwörungen in die Tat umzusetzen.

Seit ihrer Rückkehr zum Orbit Hospital hatte man Cha Thrat in eine Art verwaltungstechnischen Hyperraum verbannt. Der Wartungsdienst wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben, der Herrscher vom Monitorkorps, den sie auf der Rhabwar so schwer beleidigt hatte, schien einfach ihre Existenz vergessen zu haben, und die medizinischen Ausbilder behandelten sie mit Mitgefühl und großer Aufmerksamkeit, fast so wie eine Patientin, von der man annahm, daß sie nicht mehr lange unter den Lebenden weilte.

Offiziell gab es nichts mehr für sie zu tun, aber inoffiziell war sie in ihrem ganzen Leben nicht beschäftigter gewesen.

Diagnostiker Conway war mit ihrer Arbeit auf Goglesk sehr zufrieden gewesen und hatte sie gebeten, Khone so häufig wie möglich zu besuchen, weil Cha Thrat und er selbst noch immer die einzigen Lebewesen waren, die die FOKT bis auf Berührungsreichweite an sich heranließ, obwohl sich dieser Zustand langsam zum Besseren wandte. Mit Unterstützung des Chefpsychologen und von Prilicla, die sich dezent im Hintergrund hielten, kam man mit der Überwindung der geistig-seelischen Ausrichtung der gogleskanischen Spezies voran, und Ees-Tawn arbeitete an einem ständig am Körper zu tragenden Klangverfälscher im Miniaturformat, der sich automatisch innerhalb der ersten Millisekunden eines Notrufs einschalten konnte und den Träger daran hindern würde, einen dieser selbstmörderischen Gruppenzusammenschlüsse herbeizuführen.

O'Mara hatte die Beteiligten immer wieder daraufhingewiesen, daß die endgültige Lösung des gogleskanischen Problems noch viele Generationen auf sich warten lassen könne und sich Khone bei der Annäherung oder der Berührung durch ein anderes Wesen, egal von welcher Spezies, nie ganz behaglich fühlen würde, wohingegen ihr Sohn bereits erste Anzeichen für ein ziemliches Wohlbefinden unter Fremden erkennen lasse.

Thornnastor und Murchison war es gelungen, ein spezifisches Heilmittel gegen den Krankheitserreger zu isolieren und zu finden, von dem Crelyarrel befallen war, obwohl sie Cha Thrat gegenüber eingestanden, daß der DTRC auf dem Schiff der Rhiim hauptsächlich wegen des hohen Maßes an natürlicher Widerstandskraft überlebt habe. Mittlerweile erzielte der kleine Symbiont einen Fortschritt nach dem anderen und machte sich langsam um die Gesundheit und das Wohlergehen der FGHJ-Wirte Sorgen. Er wollte wissen, wie schnell neue Rhiim ins Orbit Hospital gebracht werden könnten, um die Kontrolle über die FGHJs zu übernehmen.

Ähnliche Fragen wurden Cha Thrat auch von einer Gruppe Korpsoffiziere gestellt, die das Hospital besuchten und anscheinend nichts von ihrer kürzlichen Gehorsamsverweigerung auf der Rhabwar erfahren hatten oder sich nicht dafür interessierten. Bei ihnen handelte es sich um Kontaktspezialisten, die das Schiff der Rhiim untersuchten, um vor der offiziellen, im Namen der Galaktischen Föderation stattfindenden Kontaktaufnahme mit dieser Spezies so viele Informationen wie möglich über die Wesen, die den Bau veranlaßt hatten, zu sammeln, wozu auch die Erkundung der Position des Heimatplaneten gehörte. Schon deshalb wollten sie unbedingt mit dem Überlebenden sprechen.

Crelyarrel war sehr auf Zusammenarbeit bedacht, das Problem war nur, daß sich die DTRCs durch eine Kombination aus Berührungen und Telepathie verständigten, die sich auf die eigene Spezies beschränkte. Zudem ging es Crelyarrel noch nicht gut genug, um die vollständige Kontrolle über einen FGHJ von seinem Schiff zu übernehmen, und bevor er dazu nicht imstande war, konnte der Übersetzungscomputer nicht mit der Sprache programmiert werden, der sich die Rhiim mittels ihrer FGHJ-Wirte bedienten.

Obwohl die parasitären Rhiim inzwischen allgemein als äußerst intelligente und kultivierte Spezies anerkannt waren, riß sich kein Mitarbeiter des Hospitals besonders darum, den eigenen Körper, für wie kurze Zeit auch immer, der Kontrolle eines DTRC preiszugeben, was allerdings auf Gegenseitigkeit beruhte. Die einzige, bei der sich Crelyarrel einverstanden erklärte, mit ihrer Erlaubnis die Kontrolle zu übernehmen und durch sie zu sprechen, war natürlich Cha Thrat.

Aufgrund dieser wiederholten inoffiziellen Inanspruchnahme ihrer Zeit hatte Cha Thrat nur wenig Muße gehabt, sich um die eigenen Probleme Sorgen zu machen.

Bis jetzt.

Die gedämpften Stimmen im Innenraum waren inzwischen nicht mehr zu vernehmen, was nach Cha Thrats Vermutung bedeutete, daß sich die Beteiligten entweder leise miteinander unterhielten oder gerade schwiegen. Doch sie irrte sich; die Besprechung war vorüber.

Die aus dem Raum kommenden Teilnehmer wurden vom Chefarzt Cresk-Sar angeführt, der keinen Ton sagte und aus dessen von dichtem Haar bedeckten Gesicht nichts herauszulesen war. Ihm folgte Colonel Skempton, der einen unübersetzbaren Laut ausstieß. Hinter ihm kam der Herrscher der Rhabwar, der Cha Thrat weder eines Blicks noch eines Worts würdigte, und schließlich schlenderte Lieutenant Timmins heraus, der sie einen Moment lang mit einem zugekniffenen Auge musterte, bevor er sich entfernte. Sie erhob sich von ihrem Platz, um ins Büro zu gehen, als O'Mara herauskam.

„Bleiben Sie sitzen, es wird nicht lange dauern“, sagte er. „Sie ebenfalls, Braithwaite. Sommaradvanerinnen haben nichts dagegen, wenn man ihre Probleme vor Beteiligten bespricht, und diese hier hat wirklich eins. Ist der verbogene Vogelkäfig, auf dem Sie da sitzen, auch bequem?

Das Problem ist“, fuhr er fort, bevor sie etwas entgegnen konnte, „daß Sie sozusagen ein eigenartig geformter Dübel sind, der nicht so recht in eines unserer netten kleinen Löcher paßt. Sie sind intelligent, tüchtig, willensstark, aber dennoch in gewisser Weise anpassungsfähig, und haben anscheinend ohne nachteilige Langzeitfolgen die verschiedenen Stufen des seelischen Schocks und der Desorientierung durchlaufen, die bei vielen anderen zu schweren psychischen Schäden geführt hätten. Von einigen sehr wichtigen Leuten im Hospital werden Sie mit Wohlwollen, ja mit Hochachtung betrachtet, von vielen mit Unvoreingenommenheit und von einigen wenigen mit offener Abneigung. Die letzteren, hauptsächlich Mitarbeiter des Monitorkorps und ein paar Angehörige des medizinischen Personals, sind sich sehr unsicher, wer oder was Sie sind und wer bei der Zusammenarbeit mit Ihnen die höhere Position bekleidet.“

„Manchmal bin ich mir selbst nicht ganz sicher, wer oder was ich bin“, verteidigte sich Cha Thrat. „Wenn ich wie ein Vorgesetzter denke, kann ich nun mal nicht anders handeln als ein.“ Sie hielt lieber den Mund, bevor sie wieder einmal zu viel sagte.

„.als ein Diagnostiker“, ergänzte O'Mara trocken. „Das wollten Sie doch sagen, nicht wahr? Oh, keine Angst, aus diesen heiligen Hallen dringt nie eins der tiefen, dunklen und, wie in Ihrem Fall, seltsamen Geheimnisse nach draußen. Als mir Prilicla einmal nicht von Ihrem Verhalten kurz vor und während Khones Niederkunft und auf dem Schiff der Rhiim vorgeschwärmt hat, hat er mir von dem Zusammenschluß erzählt, zu dem es nach seinem Gefühlseindruck mit Ihnen auf Goglesk gekommen ist. Da er nun einmal Prilicla ist, liegt ihm sehr viel daran, jeden schmerzlichen und peinlichen Vorfall zwischen seinen Freunden Conway, Murchison und Ihnen selbst zu vermeiden, und das möchten wir auch.

Doch die Tatsache bleibt“, fuhr der Chefpsychologe fort, „daß Sie eine geistige Vereinigung mit Khone hatten, durch die Sie nicht nur die Kenntnisse und Erfahrungen einer gogleskanischen Ärztin erlangt haben, sondern aufgrund einer früheren Geistesverschmelzung Khones mit Conway auch die eines Diagnostikers des Orbit Hospitals. Zudem sind Sie auf geistiger Ebene tief mit einem der Rhiim-Parasiten verbunden, ganz zu schweigen von den Gedanken ihres chalderischen Freundes, in die Sie damals Ihre sommaradvanische Nase gesteckt hatten. Da überrascht es mich gar nicht, daß Sie sich manchmal über Ihre Identität nicht ganz sicher sind. Bestehen darüber im Moment irgendwelche Zweifel?“

„Nein, nein, Sie sprechen lediglich mit Cha Thrat“, versicherte sie.

„Gut, schließlich ist es Cha Thrats Ungewisse Zukunft, über die wir uns jetzt Gedanken machen müssen. Seit der Sache auf der Rhabwar, wo Sie nicht nur den Gehorsam verweigert haben, sondern auch noch vollkommen recht damit hatten, ist die Möglichkeit einer Laufbahn beim Wartungsdienst, auch wenn Timmins sich sehr lobend über Sie geäußert hat, gestorben, genauso wie jede Hoffnung, die Sie sich womöglich auf den Dienst als Schiffsärztin beim Monitorkorps gemacht haben. Die Disziplin an Bord eines Schiffs ist zwar nicht zu sehen, aber trotzdem vorhanden, und sie ist streng. Kein Schiffskommandant würde das Risiko eingehen, eine Ärztin mit einem Vermerk einer erwiesener Gehorsamsverweigerung in der Akte an Bord zu nehmen.

Die Kontaktspezialisten, denen Sie bei dem Rhiim helfen, sind weniger auf Disziplin ausgerichtet als die anderen“, fuhr er fort. „Sie sind von Ihnen beeindruckt und so dankbar, daß sie Ihnen eine Stelle auf Ihrem Heimatplaneten anbieten, natürlich erst, wenn der Staub, der durch diese ganzen disziplinarische Geschichte aufgewirbelt worden ist, Gelegenheit gehabt hat, sich zu legen. Was halten Sie davon, nach Sommaradva zurückzukehren?“

Cha Thrat stieß nur einen unübersetzbaren Laut aus.

„Ich verstehe“, reagierte O'Mara auf seine trockene Art. „Aber die medizinischen und chirurgischen Möglichkeiten stehen Ihnen auch nicht mehr offen. Trotz der Achtung, die Sie bei vielen Mitarbeitern in hohen Positionen genießen, will niemand eine besserwisserische Schwesternschülerin auf seiner Station haben, die höchstwahrscheinlich durch irgendeine Äußerung oder Handlung zu verstehen gibt, daß die diensthabende Oberschwester oder der Arzt in medizinischer Hinsicht sowieso auf dem Holzweg sind. Auch wenn Sie Einfluß bei Leuten in hohen Positionen haben, könnte sich der schnell verflüchtigen, falls die Wahrheit über Ihren gogleskanischen Gedankenaustausch allgemein bekannt werden sollte.“

Cha Thrat fragte sich, ob sie irgend etwas sagen oder tun könnte, um dieses unbarmherzige Zuschlagen sämtlicher Türen, hinter denen sich für sie noch Möglichkeiten befunden hatten, aufzuhalten, als Braithwaite von seinem Tisch aufblickte.

„Entschuldigen Sie, Sir“, sagte er. „Aber nach meiner Kenntnis der Beteiligten ist es unwahrscheinlich, daß Conway, Khone und Prilicla die Angelegenheit außer untereinander noch mit jemand anderem besprechen, und Murchison, die ja ein wirklich sehr intelligentes Wesen ist, wird sich genauso verhalten, wenn sie entweder selbst hinter die Wahrheit kommt oder sie von ihrem Lebensgefährten erfährt. Das psychologische Persönlichkeitsdiagramm der Pathologin läßt einen gut entwickelten Sinn für Humor erkennen, und deshalb könnte es durchaus sein, daß sie die Vorstellung, von einem Lebewesen einer fremden Spezies, das ebenfalls weiblich ist, mit dem gleichen sexuellen Verlangen wie von dem eigenen Lebensgefährten, Conway, betrachtet zu werden, eher belustigend als unangenehm finden würde. Natürlich möchte ich nicht empfehlen, auch nur eins dieser fehlgeleiteten Gefühle in die Tat umzusetzen, aber es könnten sich gewisse amüsante sexuelle Phantasien ergeben, die den gesamten Bereich der Beziehungen zwischen verschiedenen Spezies in einem neuen Licht erscheinen.“

„Ach, Braithwaite“, unterbrach ihn O'Mara in ruhigem Ton, „genau durch solches Gerede erhalten die Leute einen falschen Eindruck von ET-Psychologen.

Was Sie angeht, Cha Thrat“, fuhr er fort, „bin ich schon vor langer Zeit zu dem Schluß gekommen, daß es hier im Hospital nur eine Position gibt, die ihren besonderen Talenten gerecht wird. Sie werden noch einmal ganz unten als Auszubildende anfangen und nur langsam aufsteigen, weil Ihr Chef sehr schwer zufriedenzustellen ist. Es handelt sich um eine schwierige und oftmals undankbare Aufgabe, mit der Sie die meisten anderen verärgern werden, aber daran sind Sie ja inzwischen gewöhnt. Außerdem gibt es ein paar Dinge, die Sie dafür entschädigen werden, beispielsweise die Möglichkeit, Ihr Geruchsorgan in andrer Leute Angelegenheiten zu stecken, wann immer Sie es für nötig halten. Nehmen Sie die Stelle an?“

Auf einmal konnte Cha Thrat deutlich ihren Puls hören und hatte Schwierigkeiten zu atmen. „Ich. ich verstehe nicht ganz.“

O'Mara holte tief Luft, atmete durch die Nase aus und entgegnete: „Sie verstehen sehr gut, Cha Thrat. Stellen Sie sich doch nicht dümmer als Sie sind.“

„Ich verstehe“, bestätigte sie, „und ich bin Ihnen äußerst dankbar. Das hat bei mir nur etwas gedauert, weil ich es erst nicht glauben konnte und über die ganze Tragweite nachdenken mußte. Sie meinen, ich soll die Kunstfertigkeit der nichtkörperlichen Heilung und die Anwendung von Beschwörungen lernen und eine Art Zauberlehrling werden.“

„So in etwa“, entgegnete der Chefpsychologe. Er warf einen kurzen Blick auf den Computer auf ihrem Tisch und fügte hinzu: „Wie ich sehe, sitzen Sie bereits vor dem Aktualisierungsprogramm der psychologischen Persönlichkeitsdiagramme des höheren Personals. Das ist reine Routinesache. Eine nicht besonders aufregende, aber notwendige Tätigkeit. Braithwaite versucht schon seit Monaten, die Arbeit auf jemand anderen abzuwälzen.“

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