5. Kapitel

Cha Thrat fragte sich allen Ernstes, ob der Dienstplan der AUGL-Station von Oberschwester Hredlichli oder von einem unter einer schweren Betriebsstörung leidenden Computer, den das Wartungspersonal bei der letzten technischen Kontrolle übersehen hatte, aufgestellt worden war. Sich danach zu erkundigen war ihr jedoch nicht möglich, es sei denn, ihr war daran gelegen, das Niveau der geistigen Fähigkeiten von irgendeinem Mitarbeiter in Frage zu stellen. Jedenfalls konnte die- oder derjenige nach ihrem Dafürhalten nicht ganz normal sein, ganz gleich, ob es sich dabei um ein namenloses Wesen vom Wartungsdienst, um Hredlichli oder um den Plan selbst handelte. Nach sechs Tagen und zweieinhalb Nächten, in denen sie wie ein überarbeiteter Aal zwischen den riesengroßen Chaldern hin- und hergeflitzt war, hatte man ihr zwei ganze Tage gewährt, in denen sie tun durfte, was sie wollte — vorausgesetzt, sie verbrachte einen Teil der Freizeit mit Lernen.

Dabei sollte laut ihres unnachgiebigen nidianischen Ausbilders Cresk-Sar der Anteil für das Lernen am besten gleich neunundneunzig Prozent an der Freizeit betragen.

Inzwischen wirkten die Korridore des Orbit Hospitals nicht mehr ganz so furchterregend auf Cha Thrat wie noch vor ein paar Tagen, und sie versuchte gerade, sich zu entscheiden, ob sie auf Erkundung gehen oder lieber weiterlernen sollte, als es an der Tür klingelte.

„Tarsedth? Komm rein!“ rief sie erfreut.

„Ich hoffe, der fragende Ausruf meines Namens bezieht sich auf den Zweck meines Besuchs und ist nicht wieder mal ein Ausdruck des Zweifels an meiner Identität“, murrte die kelgianische Schwesternschülerin, als sie sich in wellenförmigen Bewegungen ins Zimmer hereinschlängelte. „Allmählich müßtest du mich wirklich von den anderen unterscheiden können!“

Wie Cha Thrat wußte, war keine Antwort oft die beste Antwort.

Die DBLF blieb vor dem Bildschirm stehen und fragte dann: „Was ist das denn? Der Unterkieferknochen eines ELNT? Du bist gut dran, Cha Thrat. Diese Sache mit der physiologischen Klassifikation hast du viel schneller kapiert als der Rest von uns. Ist das nur Glück, oder liegt das etwa daran, daß du in jeder freien Minute lernst? Als uns Cresk-Sar diese Abbildung ganze drei Sekunden lang vorgesetzt hat und du sie als Vergrößerung des großen Mittelfußknochens und der Fußwurzel eines FGLIs erkannt hast, noch bevor das Bild vom Schirm verschwunden war, da.“

„Du hast recht, ich habe nur Glück gehabt“, unterbrach Cha Thrat sie. „Zwei Tage vorher war der Diagnostiker Thornnastor bei uns auf der Station gewesen. Als wir damals den Patienten zur Untersuchung vorgeführt haben, hat es ein unbedeutendes Mißverständnis gegeben, ein kleines Mißgeschick meinerseits. Jedenfalls bin ich gestolpert und habe ein paar Augenblicke lang einen tralthanischen Riesenzeh von ganz nahem gesehen, während der Fuß versucht hat, nicht auf mich draufzutreten.“

„Und Hredlichli ist wahrscheinlich mit diesen fünf schwabbeligen Dingern, die sie als Füße bezeichnet und sogar als solche benutzt, direkt auf dich zugesprungen, oder?“

„Sie hat mir gesagt, daß ich.“, begann Cha Thrat, aber Tarsedths Mund und Fell hatten nicht aufgehört, sich zu bewegen.

„Das tut mir leid für dich“, fuhr die Kelgianerin fort.

„Hredlichli ist eine knallharte Chloratmerin. Bevor sie sich um die Arbeit mit anderen Spezies bei den Chaldern beworben hat, war sie Oberschwester auf der PVSJ-Station, auf der ich jetzt bin. Ich habe alles über sie erfahren, auch eine Episode, die sich zwischen ihr und einem PVSJ-Chefarzt auf Ebene dreiundfünfzig abgespielt haben soll. Ich wüßte zu gern, was da wohl passiert ist. Man hat mir das zwar zu erklären versucht, aber wer weiß schon, was bei Chloratmern so etwas wie richtiges, falsches, normales oder völlig empörendes Verhalten ist? Einige der Aliens in diesem Hospital sind mir wirklich äußerst fremd.“

Einen Moment lang starrte Cha Thrat den silbrigen Körper mit den dreißig Gliedmaßen, der wie ein pelziges Fragezeichen vor dem Bildschirm hockte, erstaunt an. „Das ist allerdings wahr“, stimmte sie ihrer Freundin schließlich zu.

„Hast du mit Hredlichli denn Ärger gehabt?“ erkundigte sich Tarsedth neugierig und kam damit auf ihre ursprüngliche Frage zurück. „Ich meine, wegen deines Mißgeschicks, als dieser Diagnostiker auf der Station war. Hat er vor, dich bei Cresk-Sar zu melden?“

„Ich habe keine Ahnung“, antwortete Cha Thrat. „Nachdem wir die abendliche Visite bei den frisch operierten Patienten beendet hatten, sagte sie, daß ich ihr die nächsten zwei Tage lieber aus den Augen gehen solle und diese Maßnahme zweifellos genauso genießen würde wie sie. Habe ich dir schon erzählt, daß sie mir kurz darauf erlaubt hat, bei einigen Operationswunden den Verband zu wechseln? Natürlich unter ihrer Aufsicht und nur bei fast verheilten Wunden.“

„Also, wenn du ihr doch wieder unter die Augen kommen darfst, können die Probleme mit ihr ja nicht allzu groß sein. Was hast du eigentlich mit den beiden freien Tagen vor, Cha Thrat? Willst du lernen?“

„Ja, aber nicht nur. Ich möchte das Hospital erkunden, das heißt die Bereiche, in die ich mit meinem Schutzanzug hineinkomme. Cresk-Sars Hochgeschwindigkeitsführungen und Unterrichtsstunden lassen mir einfach nicht genügend Zeit, um ihm mal in Ruhe ein paar Fragen stellen zu können.“

Die Kelgianerin ließ weitere drei oder vier Beinpaare auf den Boden fallen, ein deutliches Zeichen, daß sie im Begriff war, sich zu verabschieden.

„Das hier wird ein gefährliches Leben für uns, Cha Thrat“, sagte sie. „Mir reicht es völlig, wenn ich über dieses medizinische Tollhaus nach und nach immer mehr erfahre und vor allem alles zu seiner Zeit. Außerdem verringert sich auf dieses Weise die Wahrscheinlichkeit, daß ich hier eines Tages womöglich noch als eins der Unfallopfer ende. Aber wie ich gehört habe, soll der Freizeitbereich unbedingt einen Besuch wert sein. Zu deinen Erkundigungen könntest du ja von dort aus starten. Kommst du mit?“

„Klar!“ stimmte Cha Thrat begeistert zu. „Dort werden sich wohl selbst diese Schwergewichtler mal entspannen und ausruhen und nicht wie bewegliche Katastrophen, die nur darauf warten, über einen hereinzubrechen, die Korridore entlangstürmen.“

Später mußte sich Cha Thrat wundern, wie sie sich dermaßen hatte täuschen können.

Auf den Schildern über dem Eingang stand in den verschiedensten Sprachen und Schriftzeichen:

FREIZEITBEREICH DER SPEZIES

DBDG, DBLF, DBPK, DCNF, EGCL, ELNT, FGLI & FROB.

SPEZIES GKMN & GLNO AUF EIGENE GEFAHR.

Für Personalangehörige, deren Schriftsprache nicht vertreten war, wurde dieselbe Auskunft pausenlos über den Translator wiederholt.

„DCNF“, stellte Tarsedth fest. „Die haben deine Klassifikation schon da oben draufstehen. Wahrscheinlich eine routinemäßige Aktualisierungsmaßnahme vom Personal.“

„Wahrscheinlich“, stimmte Cha Thrat ihr beiläufig zu, doch insgeheim freute sie sich und fühlte sich zum erstenmal wichtig.

Nach Tagen auf überfüllten Krankenhausfluren, in ihrem kleinen Zimmer und den noch beengteren Verhältnissen des Anzugs, den sie in den lauwarmen, grünen Tiefen der AUGL-Station tragen mußte, rief die bloße räumliche Ausdehnung der Freizeitebene bei ihr ein Gefühl der Verunsicherung und Bedrohung hervor. Doch waren die Weite, der offene Himmel und die großen Entfernungen mehr Schein als Sein, wie sie bald feststellen konnte, und der anfängliche Schock ließ schnell nach und wich angenehmer Überraschung.

Die täuschend echt wirkende künstliche Beleuchtung und die wirklich geniale Landschaftsgestaltung des Freizeitbereichs vermittelten einem die Illusion unendlicher Weite. Das Endprodukt war ein kleiner, von Felsen eingerahmter, tropischer Meeresstrand, der zur See hin offen war. Das Wasser erstreckte sich scheinbar bis zum Horizont, der unmerklich in ein Hitzeffimmern überging. Der Himmel war blau und wolkenlos, und das Wasser in der Bucht schimmerte tiefblau mit einem leicht türkisfarbenen Stich und plätscherte in sanften Wellen gegen den goldglänzenden Strand.

Lediglich die künstliche Sonne, die nach Cha Thrats Geschmack ein wenig zu rötlich ausgefallen war, und die fremdartigen Grünpflanzen, die den Strand und die Felsen umsäumten, raubten einem die Illusion, man würde sich in irgendeiner tropischen Bucht auf Sommaradva befinden.

Daß der Platz im Orbit Hospital relativ knapp war, hatte sie schon vor ihrem ersten Kantinenbesuch erfahren, und deshalb mußten die Wesen, die zusammen arbeiteten, auch möglichst miteinander essen. Nun hatte es den Anschein, daß sie sogar ihre Freizeit gemeinsam verbringen mußten.

„Realistische Wolkeneffekte sind nur schwer nachzuahmen“, erklärte Tarsedth unaufgefordert. „Deshalb hat man es lieber erst gar nicht auf einen Versuch ankommen lassen, als das Risiko einzugehen, daß die Wolken unnatürlich aussehen. Das hat mir der Wartungstechniker erzählt, der mir vorgeschlagen hat, hierherzukommen. Er hat auch gesagt, das beste am Freizeitbereich sei, daß hier nur die halbe Schwerkraft des Planeten Erde herrsche, was ziemlich genau der halben Anziehungskraft von Kelgia und Sommaradva entspricht. Diejenigen, die sich lieber durch Bewegung entspannen, können aktiver sein, und für die anderen, die sich nur sonnen wollen, ist der Sand viel weicher. Paß auf!“

Drei Tralthaner mit insgesamt achtzehn gewaltigen Füßen donnerten an ihnen vorbei und hechteten unter weit durch die Luft spritzenden Sand- und Gischtwolken ins seichte Wasser. Die Schwerkraft von einem halben Ge, die es den normalerweise langsamen und schwerfälligen FGLIs ermöglichte, wie Zweifüßer umherzuspringen, ließ allerdings auch den von ihnen aufgewirbelten Sand lange in der Luft schweben, bevor er sich wieder auf dem Strand ablagerte. Einige Körner hatten den Boden noch lange nicht erreicht, und Cha Thrat versuchte immer noch, sie durch Blinzeln aus den Augen zu bekommen.

„Laß uns lieber nach dahinten rübergehen“, schlug Tarsedth vor. „Wir können zwischen dem FROB und den beiden ELNTs Schutz suchen. Die sehen nicht gerade danach aus, als hätten sie es auf einen Aktivurlaub abgesehen.“

Doch Cha Thrat hatte keine Lust, einfach still dazuliegen und nichts anderes zu tun, als das künstliche Sonnenlicht aufzusaugen. Ihr ging viel zuviel im Kopf herum, zu viele Fragen, die man nicht stellen konnte, ohne ernsten Unwillen hervorzurufen. Zudem hatte sie in der Vergangenheit festgestellt, daß sich bei anstrengender körperlicher Betätigung der Geist entspannte — wenigstens hin und wieder.

Sie beobachtete, wie sich ihr eine steile Welle im Zeitlupentempo näherte und sich am Strand brach. Die Wellenaktivität in der Bucht wurde nicht etwa künstlich erzeugt, sondern hing in ihrem Ausmaß von der körperlichen Größe, der Anzahl und der Begeisterung der Badenden ab. Der besonders bei den schwersten und unförmigsten Lebensformen beliebteste Sport bestand offensichtlich darin, von einem der an den Felswänden angebrachten Sprungbrettern in die Bucht zu springen. Zu den Brettern, die Cha Thrat zunächst gefährlich hoch vorkamen, bis sie sich an die verringerte Schwerkraft erinnerte, gelangte man durch im Felsen verborgene Tunnelgänge. Ein Brett, das höchste von allen, war stark versteift und bog sich fast überhaupt nicht, um wahrscheinlich so die Gefahr zu verringern, daß sich ein übereifriger Springer an dem künstlichen Himmel einen Schädelbruch zuzog.

„Hast du Lust zu schwimmen?“ fragte Cha Thrat plötzlich. „Ich meine, das heißt natürlich nur, wenn DBLFs das überhaupt können.“

„Und ob wir das können, aber ich möchte nicht“, antwortete die Kelgianerin, wobei sie die Furche im Sand, die sie sich bereits gegraben hatte, noch tiefer machte. „Nach dem Schwimmen klebt mein Fell immer flach am Körper, und ich kann es den ganzen Tag nicht mehr bewegen. Und falls irgendein fescher Nidianer kommt, könnte ich mich mit ihm nicht richtig unterhalten. Leg dich hin und entspann dich.“

Cha Thrat kreuzte ihre beiden Hinterbeine und ließ sich sanft in die Horizontale fallen. Doch selbst ihre Freundin, die einer völlig anderen Spezies angehörte, konnte ihr sofort ansehen, daß sie alles andere als entspannt war.

„Machst du dir über irgendwas Sorgen?“ fragte Tarsedth, wobei sich ihr Fell besorgt zu Büscheln kräuselte. „Wegen Cresk-Sar vielleicht? Oder ist es wegen Hredlichli oder deiner Station?“

Cha Thrat schwieg eine Weile und überlegte, wie eine sommaradvanische Chirurgin für Krieger einem Wesen, das einer Spezies angehörte, die einen vollkommen anderen kulturellen Hintergrund hatte, und das obendrein vielleicht eine Sklavin war, das Problem erklären könnte. Aber solange sie über Tarsedths genauen Rang keine Gewißheit hatte, wollte sie die Kelgianerin als fachlich ebenbürtig betrachten.

„Ich will wirklich niemanden beleidigen“, begann sie vorsichtig, „aber schließlich erwartet man von uns, daß wir uns,hier weitreichende Kenntnisse aneignen. Und trotz der seltsamen und verschiedenartigen Aliens, die wir versorgen, und all der großartigen Geräte, die wir dazu einsetzen, scheint mir unsere Tätigkeit eher monoton, unwürdig, ohne jede persönliche Verantwortung, nie selbständig und. nun ja, so etwas wie Sklavenarbeit zu sein. Wir sollten mit unserer Zeit, oder zumindest mit einem Großteil davon, etwas Wichtigeres anfangen können, als Exkremente von den Patienten zur Beseitigungsanlage zu befördern.“

„Ach, das ist es also, was dich bedrückt“, sagte Tarsedth, wobei sie sich mit ihrem kegelförmigen Kopf zu Cha Thrat umdrehte. „Man hat dich in deinem Stolz gekränkt, stimmt's?“

Cha Thrat antwortete nicht, und die Kelgianerin fuhr fort: „Bevor ich Kelgia verlassen habe, bin ich Schwesternvorsteherin gewesen und war als solche für die Krankenpflege auf acht Stationen verantwortlich. Natürlich hatte ich nur mit Patienten meiner eigenen Spezies zu tun, aber immerhin bin ich damals über den Pflegedienst bis zu dieser Position aufgestiegen. Einige der anderen Auszubildenden sind, wie du ja auch, früher allerdings Ärzte gewesen, deshalb kann ich mir vorstellen, wie die — und du — sich fühlen müssen. Aber unsere Sklavenarbeit hier ist nur vorübergehend. Sie wird bestimmt abwechslungsreicher werden, sobald oder falls wir unsere Ausbildung zu Cresk-Sars Zufriedenheit abgeschlossen haben. Versuch am besten, dir darüber keine Sorgen zu machen. Du lernst eben die Alienmedizin von der Pike auf, wenn du den Ausdruck entschuldigst.

Du mußt dich einfach bemühen, dich mehr für die andere Seite der Patienten zu interessieren, anstatt dir andauernd den Kopf über deren Exkremente zu zerbrechen“, fügte Tarsedth hinzu. „Unterhalt dich mit den Patienten, und versuch ihre Denkweise zu verstehen.“

Cha Thrat fragte sich, wie sie der Kelgianerin, die einer offenbar hochentwickelten, aber völlig wirren und klassenlosen Gesellschaft angehörte, erklären könnte, daß es Dinge gab, die eine Chirurgin für Krieger tun sollte, und andere, die sie lieber nicht tun sollte. Obwohl es der Ärzteschaft auf Sommaradva vollkommen gleichgültig sein dürfte, was hier mit ihr passierte, so war sie doch durch die Umstände im Orbit Hospital zu einem sowohl im positiven als auch negativen Sinne falschen Verhalten gezwungen worden. Ihre Fähigkeiten wurden durch ihre gegenwärtige Arbeit teils über—, teils unterfordert, und das ärgerte sie.

„Ich habe mich ja mit den Patienten unterhalten“, rechtfertigte sie sich. „Besonders mit einem, und der hat gesagt, er plaudere gerne mit mir. Ich bemühe mich zwar, keinen bestimmten Patienten zu bevorzugen, aber dieser Patient ist noch elender dran als all die anderen. Eigentlich sollte ich nicht mit ihm sprechen, da ich für seine Behandlung nicht qualifiziert genug bin, aber außer mir will oder kann keiner etwas für ihn tun.“

Tarsedths Fell kräuselte sich besorgt. „Ist er etwa unheilbar krank?“

„Keine Ahnung. Ich glaube nicht“, antwortete Cha Thrat. „Er liegt schon sehr lange auf der Station. Manchmal wird er von Chefärzten im Beisein von fortgeschrittenen Auszubildenden untersucht, und als neulich einer der Diagnostiker wegen eines anderen Patienten auf der Station war, hat Thornnastor mit ihm gesprochen, aber nicht, um sich nach seinem Zustand zu erkundigen. Ich habe zwar keinen Zugang zu seiner Krankengeschichte, aber ich bin mir ziemlich sicher, daß die Medikamente, die man ihm verabreicht, eher lindernde als heilende Wirkung haben. Natürlich wird er nicht vernachlässigt oder gar schlecht behandelt, sondern einfach höflich übersehen. Ich bin die einzige, die für die Schilderungen seiner Symptome ein Ohr hat, und deshalb spricht er bei jeder Gelegenheit mit mir. Eigentlich sollte ich mich nicht mit ihm unterhalten, jedenfalls solange ich nicht weiß, was ihm wirklich fehlt. Schließlich bin ich nicht dazu qualifiziert.“

Die Bewegungen von Tarsedths Fell wurden ruhiger und gleichmäßiger. „Das ist doch Unsinn“, widersprach sie. „Gespräche kann schließlich jeder führen, und ein kleines bißchen verbale Zuneigung und Aufmunterung wird deinem Patienten schon nicht schaden. Aber wenn seine Krankheit tatsächlich unheilbar wäre, dann würde es in dem Wasser auf deiner Station von Diagnostikern und Chefärzten nur so wimmeln, da alle ganz versessen darauf wären, das Gegenteil zu beweisen. Hier läuft das nämlich so, daß ein Patient niemals von jemandem aufgegeben wird. Außerdem hast du doch durch das Problem deines Patienten wenigstens etwas, über das du dir bei der Verrichtung der weniger ansprechenden Tätigkeiten Gedanken machen kannst. Oder willst du dich gar nicht mit ihm unterhalten?“

„Doch, natürlich. Mir tut dieser riesige, kranke Alien nur leid, und ich möchte ihm gerne helfen. Aber ich frage mich allmählich, ob er nicht ein Herrscher ist, denn in dem Fall sollte ich mich mit ihm lieber nicht mehr unterhalten.“

„Was immer er auf Chalderescol ist oder war, hat für seine Behandlung als Patient hier im Orbit Hospital keinerlei Bedeutung, oder sollte es zumindest nicht haben“, belehrte Tarsedth sie. „Was kann euch beiden ein wenig Zuneigung und Aufmunterung über den medizinischen Aspekt hinaus schon schaden? Ehrlich gesagt, sehe ich nicht, wo das Problem liegt.“

„Ich bin dazu nicht qualifiziert“, wiederholte Cha Thrat geduldig.

Tarsedths Fell bewegte sich in einer Weise, die Unruhe verriet. „Ich verstehe dich trotzdem nicht. Sprich oder sprich nicht mit ihm. Mach, was du willst.“

„Ich habe mich doch schon mit ihm unterhalten“, sagte Cha Thrat. „Das ist es ja gerade, was mir Sorgen bereitet. Hast du irgendwas?“

„Kann der mich nicht endlich in Ruhe lassen?“ schimpfte Tarsedth mit zu wütenden Stacheln aufgerichtetem Fell. „Ich bin sicher, dieser Cresk-Sar hat unsere Armbinden gesehen und kommt jetzt bestimmt zu uns rüber. Die erste Frage, die er uns stellen wird, ist, warum wir nicht lernen. Ob wir wohl jemals seinem ewigen „Ich hätte da ein paar Fragen an Sie“ entkommen können? Das macht mich noch rasend!“

Der Chefarzt trennte sich gerade von einer Gruppe, die aus zwei weiteren Nidianern und einem Melfaner bestand und dem Wasser zustrebte. Er blieb stehen und blickte auf die beiden Schwesternschülerinnen herab.

„Ich hätte da ein paar Fragen an Sie beide“, sagte er fast zwangsläufig und fuhr dann aber unerwarteterweise fort: „Gelingt es Ihnen, sich hier am Strand auszuruhen? Sind Sie dadurch imstande, Ihre Arbeit völlig zu vergessen? Ihre Oberschwestern? Mich?“

„Wie sollten wir Sie vergessen können, wenn Sie sich hier herumtreiben und uns prompt fragen, warum wir hier sind?“ fragte Tarsedth unwirsch zurück.

Wie Cha Thrat wußte, war die scheinbare Unverschämtheit der Kelgianerin unvermeidlich, aber sie selbst entschloß sich zu einer diplomatischeren Antwort.

„Die Antwort auf alle vier Fragen lautet: Nicht ganz“, sagte sie. „Wir haben uns zwar ausgeruht, dabei aber die ganze Zeit Probleme erörtert, die direkt mit unserer Arbeit zu tun haben.“

„Gut“, sagte Cresk-Sar. „Ich sehe es nämlich nicht gerne, wenn Sie Ihre Arbeit — oder mich — völlig vergessen. Haben Sie ein bestimmtes Problem oder eine spezielle Frage, die ich Ihnen vielleicht beantworten kann, bevor ich wieder zu meinen Freunden gehe?“

Während sich Tarsedth immer tiefer in den künstlichen Sand eingrub und ihren Ausbilder demonstrativ übersah, kam Cha Thrat der Nidianer jetzt, wo er nicht im Dienst war, sehr viel weniger abstoßend vor als sonst. Cresk-Sar verdiente eine freundliche Antwort, obwohl das letzte Gesprächsthema, das sich um die mit der Beseitigung von Exkrementen fremder Lebensformen verbundenen psychologischen und emotionalen Probleme drehte, sicherlich kein Gebiet war, auf dem ein Chefarzt unmittelbare Erfahrung besaß. Vielleicht konnte sie eine allgemeinere Frage stellen, die sowohl den sozialen Erfordernissen der Situation als auch ihrer eigenen Neugier gerecht würde.

„Als Schwesternschülerinnen werden wir auf den Stationen meistens nur mit den am wenigsten angenehmen nichtmedizinischen Aufgaben betraut, insbesondere mit der Entsorgung der anfallenden Körperausscheidungen“, begann Cha Thrat. „Diese Abfallstoffe sind ein unerfreuliches, aber zwangsläufiges Nebenprodukt aller Spezies, die Nahrung aufnehmen, verdauen und die Reste ausscheiden. Dennoch muß es erhebliche Unterschiede in der chemischen Zusammensetzung der verschiedenen Stoffe geben. Da das Hospital weitestgehend so konzipiert worden ist, ein geschlossenes Ökosystem zu bilden, würde es mich interessieren, was mit diesen Stoffen geschieht.“

Cresk-Sar schien einen Moment lang Schwierigkeiten mit dem Atmen zu haben und antwortete dann: „Der Kreislauf ist nicht ganz geschlossen. Wir stellen nicht alle unsere Nahrungsmittel oder Medikamente selbst her, und zudem kann ich Ihnen mit Freuden versichern, daß es keine uns bekannte intelligente Lebensform gibt, die sich von den eigenen Körperausscheidungen oder denen anderer Spezies ernähren kann. Aber was Ihre eigentliche Frage angeht, weiß ich leider keine Antwort, Cha Thrat. Bisher ist über diesen Punkt in meiner Gegenwart noch nie geredet worden.“

Er wandte sich rasch ab und ging zu seinen nidianischen und melfanischen Freunden zurück. Kurz darauf fing der ELNT an, mit seinen Kiefern zu klackern, während die pelzigen DBDGs laut bellten oder möglicherweise lachten. Cha Thrat konnte an ihrer Frage nichts Belustigendes entdecken. Im Gegenteil, denn sie empfand dieses Thema wirklich als ausgesprochen unerfreulich. Aber die lauten, unübersetzbaren Geräusche, die von der Gruppe herüberdrangen, schienen überhaupt nicht aufhören zu wollen — bis sie von der grellen, durchdringenden und noch lauteren Stimme aus der Übertragungsanlage übertönt wurden.

„Notfall“, brüllte die Stimme in den Freizeitbereich und dröhnte gleichzeitig aus Cha Thrats Translator heraus. „Notfall Code Blau, A UGL-Station. Alle genannten Mitarbeiter bestätigen ihren Aufruf am nächsten Kommunikator und begeben sich unverzüglich auf die AUGL-Station. Chefpsychologe O'Mara, Oberschwester Hredlichli, Schwesternschülerin Cha Thrat. Notfall Code Blau. Bestätigen Sie Ihren Aufruf, und begeben Sie sich unverzüglich auf…“

Den Rest hörte Cha Thrat nicht mehr, weil Cresk-Sar zurückgekommen war und zornig auf sie herabstarrte. Der Chefarzt bellte oder lachte jetzt nicht mehr.

„Na los, Bewegung, Cha Thrat!“ befahl er ihr barsch. „Ich bestätige die Nachricht für uns beide und werde Sie begleiten. Schließlich bin ich als Ihr Ausbilder auch für Ihre medizinischen Missetaten verantwortlich. Beeilung!“

Während sie den Freizeitbereich verließen, fuhr er fort: „Code Blau steht für einen Notfall höchster Alarmstufe, der äußerste Gefahr sowohl für die Patienten als auch für das medizinische Personal bedeutet, also treten dabei jene Arten von Problemen auf, bei denen das ungeschulte Personal generell angewiesen wird, sich rauszuhalten. Ich verstehe das nicht. Warum hat man Sie, eine Schwesternschülerin, bloß aufgerufen? Und dann noch unter allen möglichen Lebewesen im Hospital ausgerechnet diesen Chefpsychologen O'Mara!

Was haben Sie bloß angestellt?“

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