Als sie alle mit den Fußmagneten an dem grauen, unlackierten Rumpf des fremden Schiffs hafteten und sich gerade vorsichtig aufrichteten, so daß der massige Schiffskörper der Rhabwar wie eine zusammengerollte, weiße Wolkendecke über ihren Köpfen glänzte, meldete sich schon der Captain zu Wort.
„Wenn es nur nicht so viele Möglichkeiten gäbe, eine Tür zu öffnen“, klagte er. „Es kann sein, daß so ein Ding nach innen oder außen geschwenkt werden muß, sich in horizontaler oder vertikaler Richtung aufschieben läßt oder im beziehungsweise gegen den Uhrzeigersinn aufgedreht wird. Wenn die Erbauer auf dem Gebiet der Molekulartechnik ausreichende Kenntnisse besitzen, könnte sich natürlich auch ein Einstieg in massivem Metall öffnen lassen. Eine Spezies, die dazu imstande wäre, haben wir allerdings noch nie entdeckt, und falls uns das je gelingen sollte, müssen wir uns wirklich sehr in acht nehmen und dürfen nicht vergessen, sie mit „Sir“ anzureden.“
Bevor Fletcher ins Monitorkorps eingetreten war, so hatte Cha Thrat erfahren, war er Herrscher an einer Universität und einer der führenden und zweifellos jüngsten Experten des Planten Erde auf dem Gebiet vergleichender ET-Technologie gewesen, und alte Gewohnheiten legt man nur schwer ab. Selbst auf der Außenhaut eines Alienschiffs, das jeden Moment Schub geben konnte, hielt er Vorträge und vergaß nicht, hin und wieder einen kleinen, trockenen Witz einzustreuen. Das alles erklärte er allerdings auch für die mitlaufenden Aufnahmegeräte, falls plötzlich ein Unglück passieren sollte.
„Wir befinden uns gerade auf einer großen Tür oder Luke, die eine rechteckige Form mit abgerundeten Ecken aufweist und sich von daher wahrscheinlich nach innen oder außen schwenken läßt“, fuhr er fort. „Den Sensoren zufolge liegt dahinter ein großer, leerer Raum, es muß sich also eher um eine Fracht- oder Besatzungsschleuse als um eine Inspektionsoder Ladeluke für Ausrüstungsgegenstände handeln. Die Luke ist absolut glatt und eben, so daß der äußere Öffnungsmechanismus hinter einer der kleinen Klappen in der Türeinfassung stecken müßte. Cha Thrat, den Scanner bitte!“
Da dieser spezielle Scanner dafür konstruiert war, in die lebenswichtigen Organe von Maschinen mit Metallgehäuse zu sehen und nicht in die durchlässigeren Strukturen aus Fleisch und Blut, war er viel größer und schwerer als sein medizinisches Gegenstück. In ihrem Übereifer, einen schnellen und tüchtigen Eindruck zu machen, verschätzte sich Cha Thrat in der Massenträgheit und ließ den Scanner gegen die Luke krachen, in der er eine lange, tiefe Beule hinterließ, bevor ihn der Captain zum Stillstand brachte.
„Danke schön fürs Anklopfen“, sagte Fletcher trocken und fügte hinzu: „Natürlich machen wir aus unserer Anwesenheit kein Geheimnis. Wenn wir uns heimlich Zugang verschaffen und wie aus dem Nichts im Schiff auftauchen würden, könnten wir die Überlebenden ja erschrecken, falls es welche gibt.“
Chen stieß einen unübersetzbaren Laut aus und fügte hinzu: „Allerdings wäre es dann noch besser gewesen, mit einem Vorschlaghammer auf den Rumpf zu schlagen.“
„Tut mir leid“, entschuldigte sich Cha Thrat.
Hinter zwei der kleinen Klappen verbargen sich versenkbare Positionslichter, und die dritte stellte sich als ein mit der Außenhaut bündig abschließender Kippschalter heraus. Fletcher riet Chen und Cha Thrat, Abstand zu halten, und drückte dann mit dem Handballen abwechselnd auf beide Enden des Schalters. Er mußte sehr fest drücken, so fest, daß er schon die Arm- und Fußmagneten vom Rumpf gerissen hatte, bevor irgend etwas passierte.
Dann wurde Fletcher durch einen plötzlichen Luftstoß aus dem Spalt der sich langsam öffnenden Luke davongewirbelt. Cha Thrat, die den Vorteil hatte, von vier Fußmagneten am. Rumpf gehalten zu werden, ergriff ihn an einem Bein und brachte ihn wieder auf die Außenhaut zurück.
„Danke“, sagte der Captain, während sich der Dunst entweichender Luft auflöste. „Alles nach drinnen! Doktor Prilicla, kommen Sie schnell! Das Öffnen der Luke wird ganz bestimmt auf dem Kommandodeck angezeigt, falls es da oben irgendwelche Überlebenden gibt, ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, wo sie am ehesten nervös werden und Schub geben.“
„Es gibt Überlebende, Freund Fletcher“, fiel ihm der Empath ins Wort. „Einer ist vorne, wahrscheinlich auf dem Kommandodeck, und weiter hinten befinden sich sogar mehrere Gruppen, allerdings nicht in Ihrer unmittelbaren Nähe. Hier draußen bin ich zwar zu weit von den Ausstrahlungsquellen entfernt, um individuelle Emotionen feststellen zu können, aber die allgemein vorherrschenden Gefühle sind Angst, Schmerz und Zorn. Die Stärke dieses Zorns beunruhigt mich, Freund Fletcher, seien Sie also vorsichtig. Ich kehre zu meinen Leuten auf die Rhabwar zurück.“
Mit dem Scanner waren sie in der Lage, die Verkabelung des Öffnungsmechanismus zu erkennen und zu einem Paar Kippschalter zu verfolgen. Der erste der beiden war in seiner Position arretiert, und als sie auf den zweiten drückten, schloß sich hinter ihnen die Außenluke der Schleuse, woraufhin sich der erste Schalter ungehindert betätigen ließ und gleichzeitig die Innenluke öffnete und die Beleuchtung einschaltete.
Fletcher sprach ein paar Worte über das grelle, grünlich gelbe Licht auf Band, die für die spätere Analyse wertvolle Informationen über die Sehorgane der Besatzung und Hinweise auf den Typ und die Nähe der Sonne zu dem Heimatplaneten der Spezies liefern würden. Dann ging er den anderen von der Schleuse aus in den dahinterliegenden Gang voran.
„Der Gang ist etwa vier Meter hoch, von quadratischem Querschnitt, hell erleuchtet, ungestrichen und gravitationsfrei“, fuhr der Captain fort. „Wir gehen von einem künstlichen Schwerkraftsystem aus, das im Moment schlecht funktioniert oder womöglich abgeschaltet ist, da an Wänden, Decke und Boden keine Leitern, Kletternetze oder Handgriffe angebracht sind, die die Besatzung zur Fortbewegung in der Schwerelosigkeit benötigen würde. Auf dieser Höhe folgt der uns sichtbare Abschnitt des Gangs der seitlichen Krümmung der Innenhaut, und gegenüber vom Schleuseneingang befindet sich eine breite Öffnung, hinter der wir zwei Rampen erkennen können, von denen eine nach oben und eine nach unten führt und über die man vermutlich auf andere Decks gelangt. Wir nehmen die nach oben.“
Der Captain warf einen kurzen Blick auf den an seinem rechten Unterarm festgeschnallten Analysator. „Keine giftigen Substanzen in der Luft, Druck niedrig, aber für die Atmung noch ausreichend, Temperatur normal“, berichtete er weiter. „Öffnen Sie Ihre Visiere, damit wir uns unterhalten können, ohne die Anzugfrequenz zu blockieren.“
Fletcher und Chen katapultierten sich in die Luft über die nach oben führende Rampe. Mit sehr viel weniger Geschick ahmte Cha Thrat ihre Kollegen nach und hatte erst den halben Weg nach oben zurückgelegt, als die beiden anderen bereits oben ankamen — und plötzlich mit einem gedämpften Knallen von den Geräten und einer viel weniger leisen Salve von Kraftausdrücken auf den Boden stürzten. Durch diesen Vorfall war Cha Thrat genügend vorgewarnt, um weich auf den Füßen zu landen.
„In diesem Bereich funktioniert das künstliche Schwerkraftsystem noch“, stellte der Captain fest, nachdem er sich wieder aufgerappelt hatte. „Also bitte, Bewegung, wir suchen nach Überlebenden!“
Der vor ihnen liegende Gang war von großen, nach innen aufgehenden Türen mit einfachen Klinken und Schnappschlössern gesäumt, und unter Fletchers Anleitung entwickelte sich die Suche zur Routine. Als erstes waren die Türen aufzuklinken, dann weit aufzustoßen — wobei ein gewisser Sicherheitsabstand zu wahren war, für den Fall, daß irgend etwas Gefährliches herausgestürmt kam —, und schließlich mußte der Raum rasch nach Besatzungsmitgliedern durchsucht werden. Doch befanden sich in sämtlichen Räumen nur Geräteschränke oder Container verschiedenster Formen und Größen, deren Beschriftung man nicht entziffern konnte, aber nichts, das irgendeine Ähnlichkeit mit Möbeln, Wandschmuck oder Kleidungsstücken gehabt hätte.
Bisher, berichtete Fletcher, rufe die Innenausstattung des Schiffs einen äußerst spartanischen und auf Zweckmäßigkeit ausgerichteten Eindruck hervor, und er mache sich allmählich Sorgen über die Art von Lebewesen, die ein solches Schiff bauen und bemannen würden.
Oben auf der nächsten Rampe, in einem neuen, wieder gravitationsfreien Abschnitt des Gangs, entdeckten sie ein Besatzungsmitglied. Es schwebte schwerelos in der Luft, drehte sich langsam um die eigene Achse und stieß hin und wieder gegen die Decke.
„Vorsicht!“ warnte Fletcher, als sich Cha Thrat dem Alien näherte, um sich ihn genauer anzusehen. Aber es bestand keine Gefahr, denn Cha Thrat erkannte eine Leiche sofort, wenn sie eine sah, egal welcher Spezies diese angehörte. Ihre auf den dicken, stark geäderten Hals des Aliens gelegte Hand bestätigte das Fehlen des Pulsschlags und stellte eine Körpertemperatur fest, die für einen lebenden warmblütigen Sauerstoffatmer viel zu niedrig war.
Der Captain gesellte sich zu ihr und sagte: „Das sind ja riesige Wesen! Fast doppelt so groß wie die Tralthaner. Physiologische Klassifikation FGHL.“
„FGHJ“, korrigierte ihn Cha Thrat.
Fletcher verstummte, holte tief Luft und atmete langsam durch die Nase aus. Als er weitersprach, wußte Cha Thrat nicht mit Sicherheit, ob der Captain das war, was Terrestrier gern „sarkastisch“ nannten, oder ob er bloß eine Frage an eine Untergebene richtete, die auf einem speziellen Gebiet offenbar mehr Kenntnisse hatte als er.
„Technikerin Cha Thrat!“ sagte er, wobei er das erste Wort besonders stark betonte. „Möchten Sie gerne weitermachen?“
„Ja“, antwortete Cha Thrat dienstbeflissen und fuhr sogleich fort: „Der Alien hat sechs Gliedmaßen, vier Beine und zwei Arme, alle sehr muskulös, und ist bis auf einen schmalen Streifen steifer Borsten, der von der Schädeldecke am Rückgrat entlang zum Schwanz verläuft, vollkommen unbehaart. Der Schwanz ist offenbar in jungen Jahren operativ verkürzt worden. Der Körper ist zwischen den Vorder- und Hinterbeinen wie ein dicker Zylinder von gleichmäßigem Umfang gebaut, der vordere Teil
verjüngt sich hingegen zu den Schultern hin und wird aufrecht getragen. Der Hals ist sehr dick und der Kopf relativ klein. Der Alien verfügt zudem über zwei tiefliegende, nach vorne gerichtete Augen, einen Mund mit sehr großen Zähnen und über andere Öffnungen, bei denen es sich wahrscheinlich um Hör- oder Geruchsorgane handelt. Die Beine sind.“
„Freund Fletcher“, meldete sich Prilicla. „Würden Sie bitte Ihre Kamera und den Scheinwerfer einschalten und beides ganz ruhig auf den Alien halten? Wir möchten das, was Cha Thrat da gerade beschreibt, gerne sehen.“
Plötzlich wurde jede äußere Einzelheit des toten FGHJ von einem Licht erhellt, das noch gleißender als das des Gangs war.
„Sie werden wahrscheinlich kein sehr gutes Bild empfangen“, bedauerte der Captain. „Die abschirmende Wirkung des Schiffsrumpfs wird einige Unscharfen und Verzerrungen hervorrufen.“
„Verstanden“, erwiderte der Empath. „Freundin Naydrad bereitet bereits die große Drucktrage vor. Wir werden schon sehr bald bei Ihnen sein. Bitte fahren Sie fort, Cha Thrat.“
„An den Beinenden befinden sich große, rötlich braune Hufe“, setzte Cha Thrat ihren Bericht fort, „von denen drei in dicken, stark gepolsterten Säcken stecken, die oben fest zugebunden sind, wahrscheinlich um die Geräusche abzudämpfen, die die Füße auf dem Metallboden hervorrufen. Alle vier Beine sind direkt unter der Höhe des Knies von Metallzylindern mit Innenfutter umschlossen, an denen kurze Ketten befestigt sind. Die Endglieder sind auseinandergebrochen oder — gerissen worden.
Die Hände des Aliens sind groß, weisen vier Finger auf und erwecken nicht gerade den Eindruck von Geschicklichkeit. Rings um den Oberkörper ist ein komplizierter Harnisch gebunden, der auch über die Flanken reicht und an dem verschieden große Beutel hängen. Einer von ihnen ist offen, und rings um das tote Wesen schweben kleine Werkzeuge in der Luft.“
„Cha Thrat, Sie bleiben hier, bis das medizinische Team eintrifft, und folgen uns dann später nach“, befahl Fletcher. „Wir sollen schließlich die Überlebenden finden, um ihnen helfen und.“
„Nein!“ erwiderte Cha Thrat, ohne nachzudenken. Dann fügte sie entschuldigend hinzu: „Tut mir leid, Captain. Ich meine nur, daß Sie besonders vorsichtig sein müssen.“
Chen entfernte sich bereits den Gang entlang, als der Captain, der ihm gerade folgen wollte, plötzlich innehielt.
„Ich bin immer vorsichtig, Cha Thrat“, sagte er ruhig. „Aber wieso meinten Sie eben, wir sollten besonders vorsichtig sein?“
„Eigentlich habe ich keinen besonderen Grund, sondern lediglich einen Verdacht“, antwortete sie, wobei sie mit drei Augen die Leiche und mit einem den Terrestrier ansah. „Auf Sommaradva gibt es gewisse Leute — sowohl Krieger als auch Sklaven —, die sich gegenüber ihren Mitbürgern schlecht und ehrlos verhalten und sie, wenn auch nur selten, schwer verletzen oder sogar töten. Diese Rechtsbrecher werden auf einer Insel ausgesetzt, von der es kein Entkommen gibt. Bei allem Respekt, aber die Parallelen zum gegenwärtigen Fall liegen auf der Hand.“
Fletcher schwieg einen Moment lang und sagte dann: „Spielen wir Ihren Verdacht doch noch etwas weiter durch. Sie vermuten, dies könnte ein Gefangenenschiff sein, das nicht aufgrund einer technischen Funktionsstörung in Not geraten ist, sondern weil die Gefangenen ausgebrochen sind und vielleicht die ganze Besatzung oder einen Teil getötet oder verwundet haben, bevor ihnen klargeworden ist, daß sie das Schiff selbst gar nicht manövrieren können. Möglicherweise sind irgendwo Besatzungsmitglieder eingesperrt, die dringend medizinisch behandelt werden müssen, nachdem sie den Flüchtlingen schwere Verluste beigebracht haben.“
Fletcher warf einen kurzen Blick auf die Leiche und blickte dann wieder auf Cha Thrat.
„Das scheint mir tatsächlich eine einleuchtende Theorie zu sein. Falls sie zutrifft, stehen wir vor der Aufgabe, die Schiffsbesatzung und eine Horde aufsässiger Gefangener, die alles andere als ein freundschaftliches Verhältnis zueinander haben, davon zu überzeugen, daß wir ihnen allen gerne helfen würden, ohne selbst Opfer zu werden. Aber trifft sie auch wirklich zu? Die Beinfesseln untermauern Ihre Theorie zwar, aber der Harnisch mit den Werkzeugbeuteln deutet doch eher auf ein Besatzungsmitglied als auf einen Gefangenen hin.
Danke, Cha Thrat“, fügte er noch hinzu und wandte sich ab, um Chen zu folgen. „Ich nehme mir Ihre Befürchtungen zu Herzen und werde besonders vorsichtig sein.“
Als der Captain fertig war, sagte Prilicla schnell: „Freundin Cha Thrat, wir können überall an der Leiche Verletzungen erkennen, aber die Einzelheiten sind zu verschwommen. Beschreiben Sie uns die Wunden bitte genauer. Erhärten die Ihre Theorie? Gehören sie zu der Art, die durch das gewaltsame Umherschleudern eines Körpers in einem trudelnden Schiff hervorgerufen werden kann, oder könnten sie vorsätzlich von einem anderen Angehörigen derselben Spezies beigebracht worden sein?“
„Von Ihrer Antwort hängt es ab, ob ich nicht doch lieber umkehre, um mir einen schweren Raumanzug anzuziehen“, ergänzte Murchison.
„Und ich auch“, fügte Naydrad rasch hinzu.
Danalta, der einer körperlich unverwundbaren Spezies angehörte, verzichtete auf einen Kommentar.
Einen Moment lang musterte Cha Thrat die hell beleuchteten Wand—, Boden- und Deckenoberflächen des Gangs genau und drehte dann behutsam die Leiche ein Stück herum, bis die Kamera den ganzen Körper erfassen konnte. Sie bemühte sich, wie eine Chirurgin für Krieger zu denken, und erinnerte sich gleichzeitig an eins der Videos über die Grundelemente der Physik, das sie als auszubildende Wartungstechnikerin gesehen hatte.
„Der Körper weist eine große Anzahl oberflächlicher Quetschungen und Abschürfungen auf, insbesondere an den Körperseiten, den Knien und den Ellbogen. Anscheinend sind sie durch das Entlangschürfen an den Metallwänden des Gangs verursacht worden, doch die Verletzung, die zum Tod geführt hat, ist eine große, eingedrückte Fraktur, die sich über die gesamte Schädeldecke erstreckt. Dabei sieht sie nicht so aus, als ob sie durch irgendein Metallwerkzeug oder — instrument hervorgerufen worden wäre, sondern eher durch einen heftigen Stoß gegen die Korridorwand. Zudem befindet sich an der Wand, auf die ich jetzt die Kamera richte, ein geronnener Blutfleck, der von der Größe her zur Wunde paßt.
Da sich der Leichnam ungefähr in der Mitte des Schiffs befindet“, fuhr sie fort, wobei sie sich fragte, ob es sich bei der Vortragssucht des Captains um ein ansteckendes psychisches Leiden handelte, „ist wahrscheinlich das Trudeln des Schiffs für eine derart schwere Schädelverletzung verantwortlich. Meine Schlußfolgerung lautet: Der Alien, der ja über sehr kräftige Beine verfügt, hat sich bei einem Sprung in der Schwerelosigkeit verschätzt und ist mit dem Kopf gegen die Wand geprallt. Die geringfügigeren Verletzungen könnte er sich dann zugezogen haben, als er bereits bewußtlos war und sterbend im trudelnden Schiff umhergeschleudert worden ist.“
„Sie wollen uns also damit sagen, daß der Alien einen Unfall hatte und ihm kein asozialer Zeitgenosse den Schädel eingeschlagen hat, stimmt's?“ erkundigte sich Murchison erleichtert.
„Ja“, bestätigte Cha Thrat.
„Ich bin in ein paar Minuten bei Ihnen“, sagte die Pathologin.
„Freundin Murchison, ich weiß nicht, ob.“, begann Prilicla sie besorgt.
„Keine Angst, Doktor“, besänftigte ihn die Terrestrierin. „Falls uns durch irgend jemand oder irgendwas Gefahr droht, wird uns Danalta schon beschützen.“
„Selbstverständlich“, versicherte der Gestaltwandler.
Während Cha Thrat auf die Ankunft des medizinischen Teams wartete, fuhr sie mit der Untersuchung der Leiche fort und hörte dem Gespräch zwischen Prilicla, Fletcher und dem Kommunikationsoffizier der Rhabwar zu. Mit seinen empathischen Fähigkeiten hatte der Cinrussker die ungefähre Lage der Überlebenden ermittelt, die sich, abgesehen von dem einzelnen Besatzungsmitglied auf dem Kommandodeck, zu drei kleinen Gruppen von jeweils vier oder fünf Individuen pro Deck zusammengeschlossen hatten. Doch der Captain hatte entschieden, daß es besser wäre, zuerst mit dem einzelnen Besatzungsmitglied in Verbindung zu treten, bevor man sich einer der Gruppen näherte, und steuerte nun direkt auf den Überlebenden auf dem Kommandodeck zu.
Cha Thrat hielt den toten Alien fest und umfaßte mit zwei ihrer oberen Gliedmaßen eine seiner großen, kräftigen Hände. Die Finger waren kurz und dick und ließen sich nicht ineinander verschränken. An der Spitze befanden sich kurzgeschnittene Krallen. Cha Thrat konnte sich gut vorstellen, daß diese krallenbewehrten Hände in der Vorgeschichte der Spezies frisch gerissene Beutetiere zum Maul geführt hatten, in dem selbst heute noch lange und sehr gefährlich wirkende Zähne saßen. Ihrer Meinung nach sah der Alien nicht gerade wie der Angehörige einer Spezies aus, die Schiffe für den interstellaren Raumflug bauen konnte.
Dieses Wesen machte einfach keinen, nun ja, zivilisierten Eindruck.
„Sie können nicht immer nach dem äußeren Erscheinungsbild urteilen“, sagte Murchison und machte Cha Thrat dadurch bewußt, daß sie wieder einmal laut gedacht hatte. „Gegen Ihren chalderischen Freund auf der AUGL-Station sieht dieser hier wie ein kleines Schoßtier aus.“
Dicht hinter der Pathologin folgten die übrigen Mitglieder des medizinischen Teams: Naydrad führte die Trage, Prilicla trippelte mit seinen sechs mit Saugnäpfen versehenen Beinen an der Decke entlang, und Danalta stülpte vor Cha Thrats Augen eine eigene, dickere Gliedmaße mit Saugnapf hervor und heftete sich damit wie eine wachsame, fremdartige Pflanze an die Wand.
Rasch hängte Murchison ihre Instrumententasche mit Hilfe von Magnetscheiben an die Wand und befestigte mit größeren Magneten und Gurten die Leiche. „Unser Freund hier hat Pech gehabt, aber so hilft er wenigstens noch den anderen“, sagte die Pathologin. „Mit ihm kann ich Sachen anstellen, an die ich bei lebenden Unfallopfern gar nicht zu denken wagen würde, und das, ohne wertvolle Zeit mit.“ „Verdammt, das ist doch geradezu lachhaft!“ fluchte plötzlich eine Stimme in sämtlichen Kopfhörern, die vor Überraschung und Ungläubigkeit so entstellt war, daß sie zunächst von niemandem als die des Captains identifiziert werden konnte. „Wir befinden uns jetzt auf dem Kommandodeck und haben ein zweites, diesmal lebendes Besatzungsmitglied entdeckt, das offensichtlich unverletzt ist und einen der fünf Kommandoplätze einnimmt. Die übrigen vier Plätze sind leer. Aber der Überlebende trägt an allen vier Beinen Fesseln und ist an seine Steuerungsliege festgekettet!“
Cha Thrat wandte sich von der Leiche ab und entfernte sich ohne ein Wort. Der Captain hatte ihr aufgetragen, Chen und ihm gleich nach der Ankunft des medizinischen Teams zu folgen, und genau das wollte sie jetzt tun, bevor Fletcher eine Chance haben würde, den früheren Befehl zu widerrufen. Ihre Neugier auf diesen eigentümlichen angeketteten Schiffsoffizier war so unerträglich, daß sie ihr beinahe physische Schmerzen bereitete.
Erst als sie schon zwei Decks weiter oben war, bemerkte sie, daß ihr Prilicla leise folgte.
„Ich habe versucht, mich mit dem Allen per Translator und durch die gebräuchlichen freundschaftlichen Handzeichen zu verständigen“, berichtete Fletcher gerade. „Der Übersetzungscomputer der Rhabwar ist imstande, einfache Mitteilungen in jede erdenkliche Sprache zu übertragen, die auf einem Lautsystem basiert. Der Allen knurrt und bellt mich zwar an, aber diese Laute werden nicht übersetzt. Sobald ich mich ihm nähere, benimmt er sich, als wolle er mir den Kopf abreißen. Ein anderes Mal vollführt er dann wieder ziellose und unkoordinierte Bewegungen mit dem Körper und den Gliedern, obwohl unser Freund ganz scharf darauf zu sein scheint, die Fußfesseln loszuwerden.“
In diesem Moment trafen Prilicla und Cha Thrat ein, und der Captain fügte hinzu: „Sehen Sie selbst.“
Der Cinrussker hatte an der Decke direkt über dem Eingang Stellung bezogen, weit entfernt von den wild fuchtelnden Armen des Besatzungsmitglieds, und sagte: „Freund Fletcher, die emotionale Ausstrahlung beunruhigt mich. Ich nehme Wut, Angst, Hunger und blinde, bedenkenlose Feindschaft wahr. Diese Gefühle sind von solch einer Grobschlächtigkeit und Intensität, wie man sie normalerweise nicht bei Wesen vorfindet, die über höhere Intelligenz verfügen.“
„Der Meinung bin ich auch, Doktor“, stimmte der Captain zu und sprang instinktiv zurück, als der Alien mit den gestutzten Krallen an den Händen nach seinem Gesicht stieß. „Aber die Liegen sind speziell für diese Lebensform konstruiert worden, und auch die Bedienungselemente, Schalter und Türgriffe, die wir bisher gesehen haben, sind auf genau diese Hände abgestimmt. Im Moment beachtet der Alien das Steuerpult allerdings überhaupt nicht, und die plötzliche Verstärkung der Schiffsdrehung, die wir bei unserem Anflug beobachtet haben, ist wahrscheinlich zufällig durch einen versehentlichen Schlag auf die entsprechenden Knöpfe verursacht worden.
Die Liege dieses Aliens ist, wie die anderen vier, auf Laufschienen befestigt und bis zum hinteren Anschlag zurückgeschoben“, fuhr Fletcher fort. „Dadurch ist es für den Alien sehr schwierig, mit der Hand die Steuerpulte zu erreichen. Doktor Prilicla, haben Sie irgendwelche Ideen? Mir fällt dazu nämlich nichts mehr ein.“
„Nein, mein Freund“, antwortete der Empath. „Aber wir sollten lieber auf ein tieferes Deck gehen, wo uns der Alien nicht hören und vor allem nicht sehen kann.“
Ein paar Minuten später fuhr er fort: „Die Angst, der Zorn und die feindschaftlichen Gefühle des Aliens haben sich jetzt verringert; der Hunger ist gleich stark geblieben. Aus Gründen, die ich im Moment nicht durchschaue, verhält sich das Besatzungsmitglied unlogisch und befindet sich in einem Wechselbad der Gefühle. Aber dort, wo der Alien jetzt ist, schwebt er nicht in unmittelbarer Gefahr und hat auch keinerlei Schmerzen. Freundin Murchison?“
„Ja?“
„Wenn Sie die Leiche untersuchen, achten Sie besonders auf den Kopf“, riet der Empath. „Mir ist der Gedanke gekommen, daß der Schädelbruch vielleicht doch nicht durch einen Unfall hervorgerufen wurde, sondern sich von dem Toten als Reaktion auf heftige und anhaltende Kopfschmerzen womöglich selbst beigebracht worden ist. Sie sollten nach Anzeichen einer Infektion oder Gewebsentartung der Gehirnzellen suchen, die die höher entwickelten Denkzentren und den Bereich der Gefühlsbeherrschung in Mitleidenschaft gezogen oder zerstört haben könnte.
Freund Fletcher“, fuhr Prilicla fort, ohne eine Antwort abzuwarten, „wir müssen schleunigst die restlichen Überlebenden aufspüren und ihren Zustand überprüfen. Aber vorsichtig, falls sie sich genauso verhalten wie unser Freund auf dem Kommandodeck.“
Unter der Führung von Priliclas empathischen Fähigkeiten machten sie rasch die drei großen Schlafsäle mit den übrigen Überlebenden ausfindig, die allesamt bei Bewußtsein waren und von denen sich fünf in dem einen Raum und je vier in den beiden anderen aufhielten. Den Aliens war es nicht gelungen herauszukommen, obwohl die Türen nicht verriegelt waren und sie einfach nur die Klinken hätten herunterdrücken müssen, um sie von innen zu öffnen. Das künstliche Schwerkraftsystem war in Betrieb, und der kurze Blick, den Prilicla und seine Begleiter erhaschen konnten, bevor die FGHJs sie entdeckten und angriffen, zeigte ihnen schmucklose Metallwände und einen von unordentlich hingeworfenem Bettzeug und zerschlagenen sanitären Anlagen übersäten Boden. Die Luft stank derart, daß man sie mit dem Messer hätte schneiden können.
„Freund Fletcher“, sagte Prilicla, als sie den letzten Schlafsaal verließen, „sämtliche Besatzungsmitglieder sind körperlich aktiv und schmerzfrei. Wäre da nicht die Tatsache, daß sie ganz offensichtlich nicht mehr in der Lage sind, ihr Schiff zu führen, würde ich sagen, sie sind kerngesund. Solange Freundin Murchison keine medizinische Ursache für ihr abnormes Verhalten gefunden hat, können wir nichts für sie tun.
Ich bin mir bewußt, daß ich sowohl feige als auch selbstsüchtig bin“, fuhr er fort, „aber ich möchte nicht die Ausrüstung unseres Unfalldecks gefährden und Freundin Khone in Angst und Schrecken versetzen, indem ich fast zwanzig riesige, hyperaktive und momentan nicht gerade mit Intelligenz brillierende Aliens aufs Schiff schaffe, die.“
„Der Meinung bin ich allerdings auch“, pflichtete ihm Fletcher in entschiedenem Ton bei. „Wenn dieser Haufen ausbrechen würde, könnten die nicht nur das Unfalldeck, sondern mein ganzes Schiff zerstören. Die Alternative ist, sie hierzubehalten, die Hyperraumhülle der Rhabwar auszudehnen und mit beiden Schiffen zum Orbit Hospital zu springen.“
„Das war auch mein Gedanke, Freund Fletcher“, stimmte Prilicla ihm in seltener Einigkeit zu. „Zudem schlage ich vor, Sie bringen den Bordtunnel an, damit wir schneller zu den Überlebenden gelangen können, und wir entnehmen aus allen Paketen und Containern, die wahrscheinlich die Nahrung oder ein Nahrungskonzentrat für diese Lebensform enthalten, Proben. Das einzige Symptom, das die Aliens zeigen, ist großer Hunger, und den würde ich gerne so bald wie möglich stillen, damit sie sich nicht noch gegenseitig auffressen.“
„Und ich soll bestimmt die Proben analysieren, damit ich Ihnen sagen kann, in welchen Containern sich Farbe und in welchen sich Suppe befindet, richtig?“ meldete sich die Pathologin zu Wort.
„Das wäre sehr angebracht, meine Freundin“, bedankte sich der Empath. „Würden Sie neben der Untersuchung des Schädels auch den allgemeinen Stoffwechsel der Leiche unter die Lupe nehmen, um ein sicheres Betäubungsmittel für die Aliens zu entwickeln, etwas Schnellwirkendes, das wir aus sicherer Entfernung auf sie abschießen können? Die Aliens müssen alle schleunigst narkotisiert werden, weil ich.“
„Für eine derart schnelle Arbeit brauche ich das Labor auf der Rhabwar, nicht einen tragbaren Analysator wie diesen hier“, unterbrach ihn Murchison. „Außerdem benötige ich die Hilfe des gesamten medizinischen Teams.“
„.weil ich das Gefühl habe“, fuhr Prilicla in ruhigem Ton fort, „daß noch ein weiterer Überlebender an Bord ist, der gar nicht gesund, aktiv und hungrig ist. Dessen emotionale Ausstrahlung ist allerdings äußerst schwach und ganz typisch für jemanden, der in tiefer Bewußtlosigkeit und vielleicht sogar im Sterben liegt. Aber wegen der stärkeren, sich in den Vordergrund drängenden Gefühle der wachen Überlebenden kann ich sie nicht lokalisieren. Aus diesem Grund möchte ich, daß, sobald die Proben für Freundin Murchison entnommen worden sind, jedes Schlupfloch, jeder Winkel und jeder Raum, in dem von der Größe her ein FGHJ stecken könnte, durchsucht wird.
Das muß sehr schnell geschehen, weil die emotionale Ausstrahlung wirklich äußerst schwach ist“, schloß der Cinrussker.
„Ich verstehe, Doktor, aber da gibt es ein Problem“, gab Fletcher leicht verlegen zu bedenken. „Pathologin Murchison benötigt das gesamte medizinische Team, und für die Ausdehnung der Hyperraumhülle der Rhabwar, die Nachjustierung der Traktorstrahlen für den Sprung und die Montage des Bordtunnels sind alle Schiffsoffiziere erforderlich.“
„Bleibe ich als einzige übrig, die nichts zu tun hat“, schlug Cha Thrat leise vor.
„Was soll also Vorrang haben?“ fragte der Captain, der sie anscheinend nicht gehört hatte. „Die Suche nach dem bewußtlosen FGHJ oder der schnellstmögliche Transport von ihm und der restlichen Besatzung zum Orbit Hospital?“
„Ich werde das Schiff durchsuchen“, sagte Cha Thrat, dieses Mal lauter.
„Danke, Cha Thrat, ich hatte schon gespürt, daß Sie sich freiwillig melden wollten“, gab Prilicla zu verstehen. „Aber überlegen Sie es sich ganz genau, bevor Sie sich entscheiden. Der Überlebende wird, falls Sie ihn finden, zu schwach sein, um Sie zu verletzen, jedoch drohen noch andere Gefahren. Dieses Schiff ist riesig und uns genauso unbekannt wie Ihnen.“
„Ja, Cha Thrat, Prilicla hat vollkommen recht“, mischte sich der Captain ein. „Das hier ist etwas anderes als die Wartungsschächte im Orbit Hospital. Die Farbmarkierungen haben hier, falls überhaupt vorhanden, eine völlig andere Bedeutung. Bei nichts, was Ihnen vor die Augen kommt, können Sie von irgendeiner Ihnen bekannten Voraussetzung ausgehen, und wenn Sie sich aus Versehen in den Steuerungsgestängen oder Kabelsträngen verfangen, dann gute Nacht. Na schön, Sie dürfen auf die Suche gehen, aber machen Sie keine Dummheiten!“
Dann blickte Fletcher Prilicla an und fügte wehmütig hinzu: „Also, ich habe bei der immer das Gefühl, in den Wind zu reden. Spüren Sie das, Doktor?“