18. Kapitel

Cha Thrat hatte keine Ahnung, wie lange sie damit verbracht hatte, den wie irrsinnig auf der Liege zappelnden FGHJ und dessen kräftige Hände mit den Stummelfingern, die das große Schiff auf dem Flug durch den Raum gesteuert hatten, zu betrachten, bevor sie das Kommandodeck deprimiert und verärgert über die eigene Unfähigkeit, einen einzigen, konstruktiven Gedanken zu fassen, verließ, um Nahrungsmittel für die übrigen, immer noch hungrigen Besatzungsmitglieder zusammenzusammeln. Doch als sie ein paar Minuten später den nächstgelegenen Lebensmittelvorratsraum betrat, stellte sie verblüfft fest, daß Prilicla bereits dort war.

„Meine Freundin, wir haben den Plan geändert.“, begrüßte sie der Empath.

Das Betäubungsmittel, das Murchison gerade herstellte, sollte zunächst am FGHJ auf dem Kommandodeck in winzigen, aber allmählich steigenden Dosen getestet werden. Erst nach dem Abschluß dieser Testreihe, die bis zu drei Tage dauern könnte, wäre die Pathologin in der Lage, die Anwendung des Mittels für unbedenklich zu erklären. Jedoch war sich Prilicla sicher, daß der noch nicht gefundene Alien keine drei Tage mehr zu leben habe, und deshalb müsse man eine andere Methode, die Besatzungsmitglieder ruhigzustellen, ausprobieren; eine, die nicht so wirksam wie Narkotika sei. Das eigene Beruhigungsmittel der Besatzung stünde in ausreichender Menge zur Verfügung und würde den Speisen und Getränken der Aliens in hohen Dosen beigemengt werden, da man hoffe, die Intensität der emotionalen Ausstrahlung der stark beruhigten und gesättigten Aliens auf diese Weise auf ein Niveau zu reduzieren, bei dem der Empath den fehlenden und schwerkranken oder verletzten Überlebenden wahrnehmen und lokalisieren könne.

„Ich möchte so schnell wie möglich sämtliche Besatzungsmitglieder mit Essen und Beruhigungsmitteln versorgt haben“, fuhr Prilicla fort. „Die Art der emotionalen Ausstrahlung unseres Freunds deutet im Gegensatz zu den übrigen Besatzungsmitgliedern eher auf einen Verstand mit hoher Intelligenz hin, die im Moment allerdings durch Schmerzen beeinträchtigt wird. Doch die Ausstrahlung wird immer schwächer. Ich fürchte um sein Leben.“

Auf Priliclas Anweisung hin mischte Cha Thrat hohe Dosen Beruhigungsmittel in die flüssige Nahrung und das Wasser und verteilte das Ganze schnell auf die Schlafsäle, während der Cinrussker von Deck zu Deck flog und sich anstrengte, mit seinen empathischen Fähigkeiten auch eine schwache und weit entfernte Ausstrahlung wahrzunehmen. Durch die vollen Mägen und benommenen Köpfe drang die emotionale Ausstrahlung der Besatzungsmitglieder — von denen einige sogar einschliefen — zwar weniger in den Vordergrund, doch ansonsten blieben die Ergebnisse negativ.

„Ich kann den Alien immer noch nicht orten“, berichtete Prilicla, der sowohl wegen seiner eigenen als auch aufgrund Cha Thrats Enttäuschung heftig zitterte. „Es gibt noch zu viele Störungen von den Überlebenden, die bei Bewußtsein sind. Alles, was wir jetzt tun können, ist, auf die Rhabwar zurückzukehren und zu versuchen, Freundin Murchison zu helfen. Ihre Schützlinge werden für eine Weile keinen Hunger haben. Kommen Sie?“

„Nein“, entgegnete Cha Thrat. „Ich würde lieber die normale, physikalische Suche nach dem sterbenden Alien fortsetzen.“

„Meine Freundin“, sagte Prilicla, „muß ich Sie nochmals daran erinnern, daß ich kein Telepath bin und Ihre Geheimnisse, Ihre innersten Gedanken also immer Ihr Eigentum bleiben? Aber Ihre Gefühle nehme ich ganz deutlich wahr. Sie setzen sich gerade aus mäßiger Aufregung, Freude und Vorsicht zusammen, wobei die Aufregung überwiegt und die Vorsicht kaum zu spüren ist. Das beunruhigt mich. Ich vermute, Sie haben eine Idee gehabt oder sind zu irgendeinem Schluß gekommen und müssen erst ein persönliches Risiko eingehen, bevor sie ihn beweisen oder widerlegen können. Wollen Sie ihn mir mitteilen?“

Die Antwort hätte einfach „nein“ lauten müssen, aber sie brachte es nicht über sich, die überaus feinen Gefühle des Empathen mit einer derart unhöflichen Entgegnung zu verletzen. Statt dessen entgegnete sie: „Kann sein, daß mir der Einfall nur gekommen ist, weil ich nichts über Ihre empathischen Fähigkeiten weiß. Daher auch meine Zurückhaltung, ihn zu erwähnen, weil ich mir erst sicher sein wollte, daß er etwas taugt, und ich die Absicht hatte, Verwirrung zu vermeiden.“

Prilicla schwebte weiterhin schweigend in der Mitte des Raums, und Cha Thrat fuhr fort: „Bei unserer ersten Durchsuchung des Schiffs konnten Sie die Anwesenheit des bewußtlosen Überlebenden zwar spüren, ihn aber wegen der bewußten emotionalen Ausstrahlung der anderen Aliens nicht orten. Jetzt, wo diese fast bis zur Bewußtlosigkeit beruhigt sind, ist die Situation noch immer dieselbe, weil sich der Zustand des Überlebenden verschlechtert hat, und ich fürchte, daß sich das selbst dann nicht ändern wird, wenn das Betäubungsmittel fertig ist und die anderen Aliens ebenfalls tief bewußtlos sind.“

„Diese Befürchtungen teile ich“, stimmte ihr der Empath leise zu. „Aber fahren Sie bitte fort.“

„In meinem Unwissen über die feinere Funktionsweise Ihrer empathischen Fähigkeiten habe ich angenommen, daß eine schwache emotionale Ausstrahlung in der Nähe leichter wahrzunehmen sein müßte als eine stärkere in größerer Entfernung“, erklärte Cha Thrat weiter. „Wären solche Unterschiede in der Stärke der Ausstrahlung aufgetreten, hätten Sie bestimmt etwas davon erwähnt.“

„Das ist allerdings wahr“, bestätigte Prilicla. „In vielen Punkten haben Sie recht. Aber in anderen. nun ja, meinen empathischen Fähigkeiten sind natürliche Grenzen gesetzt. Sie sind sowohl für die Art und Intensität von Gefühlen als auch für deren Nähe empfänglich, aber die Wahrnehmung selbst hängt auch von anderen Faktoren als der Entfernung ab. Dabei spielen der Intelligenzgrad und die emotionale Gemütstiefe, die Intensität der momentanen Empfindungen, die physische Größe und Stärke des Gehirns, von dem die eigentliche Ausstrahlung ausgeht, und natürlich die Bewußtseinslage eine Rolle. Wenn ich nur nach einer Quelle suche und sich meine Freunde, gewöhnlich das medizinische Team, zurückziehen oder sie ihre Gefühle bei der Suche im Zaum halten, kann man diese Grenzen normalerweise vernachlässigen. Das ist hier jedoch nicht der Fall. Aber Sie müssen zu irgendwelchen Schlüssen gekommen sein. Wie lauten die?“

In sorgfältig gewählten Worten antwortete Cha Thrat: „Ich vermute, daß die Ausstrahlung des bewußtlosen Aliens aufgrund seines Aufenthaltsorts undeutlich ist und bleiben wird. Er befindet sich bestimmt in der Nähe oder sogar mitten unter den anderen, die bei Bewußtsein sind. Das schränkt den abzusuchenden Abschnitt auf das Schlafdeck und vielleicht die Decks darüber und darunter ein, und ich werde mich nur auf diese Bereiche konzentrieren. Sie haben doch eben gesagt, daß die physische Größe des Gehirns, von dem die Ausstrahlung ausgeht, eine Rolle spiele. Könnte es sein, daß der Überlebende ein sehr kleiner und junger FGHJ ist, der sich in der Nähe eines vernunftlosen Elternteils versteckt?“

„Das wäre eine Möglichkeit“, pffichtete Prilicla ihr bei. „Aber unabhängig vom Alter oder der Größe befindet sich das Wesen in sehr schlechter Verfassung.“

„Es muß kleine Stauräume, Wartungsbereiche und etliche Löcher und Winkel geben, in die ein Besatzungsmitglied oder Kind normalerweise nicht gehen würde, wo sich jedoch ein Lebewesen, das kaum noch bei Bewußtsein ist und sich aufgrund seiner Verletzungen nicht logisch verhält, versteckt haben könnte“, fuhr sie fort, wobei sie ihre wachsende Aufregung angestrengt unterdrückte. „Ich bin mir sicher, daß ich den Vermißten bald finden werde.“

„Ich weiß“, sagte Prilicla. „Aber da gibt es noch einiges mehr zu bedenken.“

Cha Thrat zögerte und sagte dann: „Bei allem Respekt, Cinrussker sind keine robuste Spezies und deshalb für körperliche Verletzungen anfälliger als beispielsweise meine Lebensform. Ich habe nicht vor, mich, aus welchem Grund auch immer, irgendeiner Gefahr auszusetzen, das kann ich Ihnen versichern. Aber wenn ich Ihnen meinen Plan in allen Einzelheiten auseinandersetzen muß, besteht die Möglichkeit, daß Sie mir die Durchführung verbieten.“

„Würden Sie mir denn gehorchen, wenn ich das täte?“ fragte Prilicla.

Sie gab lieber keine Antwort.

„Meine liebe Freundin“, fuhr Prilicla fort, „Sie verfügen über viele Qualitäten, die ich bewundernswert finde, wozu auch ein gesundes Maß an Feigheit gehört, aber Sie machen mir Sorgen. Sie haben bewiesen, daß Sie nur widerwillig Befehle befolgen, die Sie persönlich als falsch oder ungerechtfertigt empfinden. Sie haben sich im Orbit Hospital, auf diesem Schiff und vermutlich auch auf Ihrem Heimatplaneten ungehorsam oder zumindest starrköpfig verhalten. Das sind nicht unbedingt Qualitäten, die man bei jemandem von untergeordnetem Rang schätzt. Was sollen wir bloß mit Ihnen machen?“

Cha Thrat wollte dem kleinen Empathen gerade mitteilen, wie leid es ihr täte, ihm seelischen Kummer bereitet zu haben, aber dann wurde ihr klar, daß er ja schon genau wußte, was sie ihm gegenüber empfand, und sagte statt dessen: „Bei allem Respekt, Doktor Prilicla, aber Sie könnten mir einfach erlauben weiterzumachen, dann den Captain bitten, die Sensoren auf den von mir bezeichneten eingeschränkten Suchbereich zu konzentrieren, und mir später jede Veränderung sofort berichten.“

„Sie wissen, daß ich das, was ich gesagt habe, langfristiger gemeint habe“, entgegnete Prilicla. „Aber ich bin einverstanden und werde Ihrem Vorschlag folgen. Ich teile Freundin Murchisons Gefühle bezüglich der Situation — hier gibt es etwas höchst Merkwürdiges und möglicherweise Gefährliches, aber wir können nicht einmal vermuten, woher diese Gefahr droht — falls es überhaupt eine gibt. Seien Sie äußerst vorsichtig, meine Freundin, und passen Sie sowohl auf Ihren Verstand als auch auf Ihren Körper auf!“

Kaum hatte Prilicla sie verlassen, nahm Cha Thrat die Suche auf, wobei sie auf dem Deck über den Schlafsälen anfing und sich danach die darunter befindlichen Räume vornahm. Doch ihre eigentliche Absicht war von vornherein gewesen, die Schlafsäle mit den Aliens zu betreten und zu durchsuchen, und sowie sie sich darin befand, wußte sie, daß gleich eine Reaktion von demjenigen Wesen kommen würde, das die Sensordisplays überwachte.

Die Reaktion äußerte sich schließlich durch eine Stimme in ihrem Kopfhörer, die dem Captain höchstpersönlich gehörte.

„Technikerin Cha Thrat!“ schimpfte er aufgebracht. „Die Sensoren zeigen eindeutig einen Körper von Ihrer Größe und Temperatur an, der gerade in einen der Schlafsäle eingedrungen ist. Begeben Sie sich auf der Stelle wieder nach draußen!“

Mit einem einfühlsamen Wesen wie Prilicla konnte man sich ohne Probleme in einem höflichen Ton auseinandersetzen, ohne sich gleich ereifern zu müssen, dachte Cha Thrat betrübt, aber nicht mit diesem Captain. Sie hatte gerade einen unzweideutigen Befehl erhalten, den sie keineswegs zu befolgen beabsichtigte, und deshalb tat sie einfach so, als hätte sie ihn nicht gehört.

„Ich habe gerade einen Schlafsaal betreten und gehe jetzt seitwärts mit dem Rücken zur Wand um ihn herum“, berichtete sie, ohne sich etwas anmerken zu lassen. „Ich bewege mich langsam, um die Aliens, die anscheinend im Halbschlaf liegen, nicht zu stören oder zu erschrecken. Zwei der FGHJs haben mir ihre Gesichter zugewandt, um mich zu beobachten, machen jedoch keine bedrohlichen Bewegungen. In der Wand befindet sich eine genau eingepaßte, bündig abschließende Tür, hinter der wahrscheinlich ein Stauraum liegt, der für einen FGHJ groß genug sein könnte, um sich hineinzuzwängen und sich dort zu verstecken. Ich öffne jetzt die Tür. Im Innern befinden sich.“

„Schalten Sie die Kamera ein!“ befahl Fletcher verärgert. „Und sparen Sie sich Ihre Worte!“

„.Regale, in denen Behälter stehen, die offenbar Reinigungsmittel für die sanitären Anlagen enthalten“, fuhr sie ungerührt fort. „Für den Fall, daß ein schneller Rückzug erforderlich werden sollte, habe ich die schwerere Ausrüstung draußen gelassen. Ich trage nur den Kopfhörer. Jetzt bewege ich mich auf die gegenüber vom Eingang befindliche Wand zu, in der sich eine weitere kleine Tür befindet.“

„Also können Sie mich doch hören“, sagte Fletcher mit eiskalter Stimme. „Und Sie haben auch meinen Befehl mitbekommen.“

„Ich habe die Tür geöffnet“, berichtete Cha Thrat schnell weiter, „und dahinter steckt der Vermißte auch nicht. Neben der Tür, direkt über dem Boden, befindet sich eine kleine, flache, rechteckige Klappe, hinter der sich wahrscheinlich eine versenkte Klinke für eine sich nach oben öffnende Tür verbirgt. Um sie zu untersuchen, muß ich mich flach auf den Boden legen und versuchen, den überall herumliegenden Körperausscheidungen auszuweichen.“

Sie hörte, wie der Captain einen unübersetzbaren, aber wenig mitfühlenden Laut von sich gab, und teilte dann mit: „Es handelt sich um eine genau eingepaßte, an der Oberkante eingehängte Klappe, die sich durch leichten Druck nach innen oder außen bewegen läßt. An den Außenkanten befindet sich eine Schwammschicht, die darauf hindeutet, daß die Klappe nahezu luftdicht ist. Ich bekomme den Kopf nicht weit genug auf den Boden, um hinter die Klappe sehen zu können, aber wenn ich sie öffne, schlägt mir ein starker Geruch entgegen, der mich an eine sommaradvanische Pflanze namens Glytt erinnert.

Oh, Entschuldigung“, fügte sie hinzu, „ganz abgesehen davon, daß Sie ja nicht wissen, wie eine Glytt riecht, erhebt sich natürlich die Frage, ob die Luke den unangenehmen Geruch der FGHJ-Exkremente in dem Schlafsaal zurückhalten oder den anderen Geruch aus dem Schlafsaal heraushalten soll. Vielleicht ist die Klappe aber auch nur eine Zufuhröffnung für eine Art Raumluftverbesserer…“

„Meine Freundin“, unterbrach Prilicla sie. „Ist in der kurzen Zeit, seit Sie den Geruch eingeatmet haben, bei Ihnen irgendeine Reizung der Atemwege, Übelkeit, eine Verminderung des Sehvermögens oder eine Trübung der Sinneswahrnehmung oder des Denkvermögens aufgetreten?“

„Welches Denkvermögen?“ murmelte Fletcher mit verächtlicher Stimme.

„Nein“, antwortete Cha Thrat. „Ich öffne jetzt die Tür zum letzten, noch nicht durchsuchten Stauraum. Er ist größer als die anderen und enthält Regale mit Werkzeugen und Gegenständen, die wie Ersatzteile für die Schlafmöbel aussehen, ist aber ansonsten leer. Die Besatzungsmitglieder nehmen immer noch keine Notiz von mir. Ich verlasse nun den Raum, um mich im nächsten Schlafsaal umzusehen.“

„Cha Thrat“, sagte Fletcher ruhig. „Da Sie in der Lage sind, Prilicla zu antworten, weiß ich, daß Sie mich hören können. Also, ich bin bereit, Ihren Ungehorsam von vorhin als vorübergehende geistige Verirrung, als einen Anfall von Übereifer und als geringfügige disziplinarische Angelegenheit zu betrachten. Aber wenn Sie die Suche fortsetzen und damit meinen Befehlen offen zuwiderhandeln, werden Sie in große Schwierigkeiten geraten. Weder das Monitorkorps noch das Orbit Hospital hat Zeit für verantwortungslose Untergebene.“

„Aber ich übernehme die volle Verantwortung für meine Handlungen, einschließlich der daraus resultierenden Ehre oder Schande“, wehrte sich Cha Thrat. „Ich weiß, daß mir die Ausbildung fehlt, um das Schiff einer fremden Spezies richtig zu untersuchen, aber ich öffne und schließe ja bloß Türen und gehe dabei sehr vorsichtig zu Werke.“

Der Captain erwiderte darauf nichts und schwieg sogar noch, als die Sensoren anzeigen mußten, daß Cha Thrat den zweiten Schlafsaal betrat. Es war Prilicla, der sich als erster zu Wort meldete.

„Freund Fletcher“, sagte der Empath ruhig, „ich stimme Ihnen zu, daß das, was Technikerin Cha Thrat gerade macht, ein kleines bißchen gefährlich ist. Aber sie hat einige ihrer Absichten mit mir besprochen und handelt mit meiner Erlaubnis und, nun ja, auch mit meiner eingeschränkten Zustimmung.“

Da sie die unter Beruhigungsmitteln stehenden FGHJs nicht beachtete und kein einziges Wort sprach, konnte Cha Thrat diesmal den Schlafsaal viel schneller durchsuchen, hatte aber genausowenig Erfolg wie beim erstenmal. In keinem der Stauräume hatte sich der vermißte Überlebende, ob nun Erwachsener oder Kind, versteckt, und auch hinter den schmalen Klappen über dem Boden verbarg sich nichts als der Geruch von Glytt, der nie zu Cha Thrats Lieblingsdüften gehört hatte.

Doch die Versuche des Cinrusskers, den Zorn des Captains auf sie zu zerstreuen, rief bei Cha Thrat plötzlich eine derartige Warmherzigkeit hervor, daß sie hoffte, der Empath würde ihre Dankbarkeit auch so spüren. Ohne sich in das Gespräch einzumischen und in der Hoffnung, daß der Empath nicht ihre wachsende Enttäuschung wahrnehmen konnte, machte sie sich an die Durchsuchung des dritten und letzten Schlafsaals.

„.jedenfalls, Freund Fletcher“, sagte der Empath gerade, „die Verantwortung für alles, was auf dem fremden Schiff passiert, bis die Überlebenden behandelt und geborgen worden sind, tragen nicht Sie, sondern ich.“

„Ich weiß, ich weiß“, gab ihm der Captain verärgert recht. „Am Unglücksort hat der Leiter des medizinischen Teams das Kommando. Unter den momentanen Umständen können Sie einem Kommandanten eines Korpsschiffs wie mir sagen, was er zu tun hat, und Ihre Anordnungen werden befolgt. Sie können sogar einer für das Monitorkorps arbeitenden Wartungstechnikern zweiter Klasse namens Cha Thrat Befehle erteilen, aber ich bezweifle ernsthaft, daß sie auch befolgt werden.“

Es trat erneut ein langes Schweigen ein, das erst von dem Diskussionsgegenstand selbst unterbrochen wurde. „Ich habe jetzt die Durchsuchung der Schlafsäle beendet“, meldete Cha Thrat. „In allen dreien sind die Stauräume für die verschiedenen Ausrüstungsgegenstände in gleicher Weise angeordnet, und in keinem davon steckt der FGHJ, nach dem wir suchen.

Doch der erste und der zweite Schlafsaal haben eine gemeinsame Wand, genau wie der zweite und dritte“, fuhr sie fort, wobei sie versuchte, hoffnungsvoll zu klingen. „Der erste und der dritte sind durch einen kurzen Gang miteinander verbunden, der auch ins Schiffsinnere auf einen Raum zuführt, bei dem es sich um einen weiteren, ziemlich großen Lagerraum handeln muß, den man von allen Schlafsälen aus leicht erreichen kann. Dort könnte der vermißte FGHJ stecken.“

„Das glaube ich nicht“, meldete sich Fletcher. „Den Sensoren zufolge ist das ein leerer Raum von etwa der halben Größe der Schlafsäle mit vielen auf oder in den Wänden verlegten Schaltkreisen und Schwachstromkabeln, die wahrscheinlich als Steuerleitungen für die Klimaanlage der Schlafsäle dienen. Mit „leer“ meinen wir, daß sich in dem Raum keine großen Gegenstände aus Metall befinden, obwohl natürlich organische Substanz vorhanden sein könnte, wenn sie in nichtmetallischen Behältern verstaut wäre. Aber ein Stück organischer Materie von der Körpergröße und Temperatur eines lebenden FGHJ würden die Sensoren, ob er sich nun bewegt oder nicht, ganz deutlich anzeigen.

Allen Anzeichen nach handelt es sich lediglich um einen weiteren Lagerraum“, schloß der Captain. „Aber bestimmt werden Sie ihn sowieso durchsuchen.“

Mit Mühe überhörte Cha Thrat Fletchers beißenden Unterton und sagte: „Bei meiner ersten Suche in dem Abschnitt hier habe ich einen Blick in diesen Gang geworfen und an der kahlen Wand am Ende eine Unregelmäßigkeit entdeckt, die ich irrtümlich für ein schlecht eingepaßtes Stück Wandverkleidung gehalten habe. Diesen Fehler kann ich nur damit entschuldigen, daß von außen kein Griff oder eine Klinke sichtbar gewesen ist. Bei näherer Untersuchung habe ich dann entdeckt, daß es sich nicht um eine schlecht eingepaßte Platte, sondern um eine nach innen aufgehende Tür handelt, die einen ganz kleinen Spalt offensteht und sich dem Scanner zufolge nur von innen verschließen läßt.

Die Kamera ist eingeschaltet“, fügte sie hinzu. „Ich stoße jetzt die Tür auf.“

Wie Cha Thrat sofort erkannte, herrschte im Raum ein heilloses Durcheinander, wobei sich zu der allgemeinen Unordnung noch die Schwerelosigkeit hinzugesellte, so daß man aufgrund des herumschwebenden Gerümpels nur mit Mühe Entfernungen ausmachen konnte, und es roch erneut sehr stark nach Glytt.

„Wir empfangen kein klares Bild“, meldete Fletcher, „und irgend etwas dicht vor der Linse versperrt fast die gesamte Sicht. Haben Sie die Kamera richtig befestigt oder sehen wir einen Teil Ihrer Schulter?“

„Nein, Sir“, antwortete Cha Thrat und versuchte, den einer Untergebenen gebührenden Ton beizubehalten. „Im Raum herrscht keine Schwerkraft, und deshalb fliegen hier allerhand flache, annähernd runde Gegenstände herum. Sie sind anscheinend organisch und weisen eine ziemlich einheitliche Form auf Die eine Seite ist dunkelgrau und die andere heller und gesprenkelt. Meiner Meinung nach könnten das Fladen einer Fertignahrung sein, die aus einer aufgebrochenen Packung stammen, oder auch feste Körperausscheidungen, ähnlich denen, auf die ich in den Schlafsälen gestoßen bin, die getrocknet sind und ihre Farbe verloren haben. Ich versuche jetzt, einen Teil davon aus dem Weg zu schieben.“

Mit einem plötzlich auftauchenden Ekelgefühl räumte sie die sichtbehindernden Gegenstände aus dem Blickfeld der Kamera, wobei sie die Hände der mittleren Gliedmaßen benutzte, weil das die einzigen waren, auf denen sie noch Handschuhe trug. Von der Rhabwar kam keine Reaktion.

„An den Wänden und der Decke sind große, unregelmäßige Klumpen aus einer schwammartigen oder pflanzlichen Substanz befestigt“, setzte Cha Thrat ihren Bericht fort und drehte sich so, daß die anderen durch die Bilder der Kamera, wie undeutlich auch immer, das sehen konnten, was sie zu beschreiben versuchte. „Soweit ich es erkennen kann, hat jeder Klumpen eine andere, wenn auch sehr zarte Farbe, und unter allen befindet sich ein kurzes, gepolstertes Brett.

Dicht über dem Boden sehe ich drei schmale, rechteckige Klappen, deren Größe und Lage denen in den Schlafsälen entspricht“, fuhr sie fort. „Diese Fladen, oder was auch immer, sind im ganzen Raum verteilt, aber ich kann etwas Großes erkennen, das in einer Ecke nahe der Decke schwebt. Es ist der FGHJ!“

„Ich verstehe nicht, warum der nicht von den Sensoren angezeigt wird“, wunderte sich Fletcher. Er gehörte zu jener Sorte Captain, die hartnäckig von der ihr unterstehenden Besatzung und der Ausrüstung Höchstleistungen verlangte und schlechte Arbeit von einer der beiden Seiten als persönliche Beleidigung auffaßte.

„Gute Arbeit, meine Freundin“, lobte Prilicla sie begeistert. „Jetzt schnell! Bringen Sie ihn zur Tür, damit wir ihn auf die Trage legen können. Wir sind gleich bei Ihnen. Wie ist der allgemeine Gesundheitszustand?“ Cha Thrat näherte sich dem Alien und fegte weitere Fladen aus dem Weg. „Ich kann keine einzige körperliche Verletzung entdecken, nicht einmal eine kleine Prellung oder äußere Anzeichen für eine Krankheit“, berichtete sie. „Aber dieser FGHJ ist nicht wie die anderen. Er macht einen viel hagereren und weniger muskulösen Eindruck. Die Haut wirkt dunkler und faltiger, und die Hufe sind ausgeblichen und an mehreren Stellen eingerissen. Die Körperhaare sind grau. Ich. ich glaube, das ist ein viel älterer FGHJ, vielleicht der Herrscher des Schiffs. Womöglich hat er sich hier versteckt, um so dem Schicksal der übrigen Besatzungsmitglieder zu entgehen und.“

Sie brach mitten im Satz ab.

„Meine Freundin, weshalb diese Empfindungen? Was ist Ihnen passiert?“ erkundigte sich Prilicla besorgt.

„Mir ist nichts passiert“, antwortete sie und bemühte sich, ihre Enttäuschung zu zügeln. „Ich habe den FGHJ jetzt. Es gibt keinen Grund zur Eile. Er ist tot.“

„Na bitte! Das erklärt auch, warum ihn meine Sensoren nicht angezeigt haben“, stellte Fletcher fest.

„Freundin Cha Thrat“, sagte Prilicla, ohne den Einwurf des Captains zu beachten, „sind Sie sich dessen auch ganz sicher? Ich kann immer noch die Ausstrahlung eines in tiefer Bewußtlosigkeit schwebenden Verstands wahrnehmen.“

Cha Thrat zog den FGHJ auf sich zu, damit sie die Hände ihrer Oberarme benutzen konnte, und entgegnete dann: „Die Körpertemperatur ist sehr niedrig. Die Augen sind geöffnet und reagieren nicht auf Licht. Die üblichen Lebenszeichen fehlen. Tut mir leid, der FGHJ ist tot und.“ Sie ließ den Satz unvollendet, um einen genaueren Blick auf den Kopf des Aliens zu werfen. „Und ich glaube, ich weiß jetzt, woran er gestorben ist!“ fuhr sie aufgeregt fort. „Sein Nacken! Können Sie den sehen?“

„Nein, jedenfalls nicht deutlich“, antwortete Prilicla schnell, der offenbar Cha Thrats wachsende Aufregung und Angst spürte. „Einer dieser scheibenförmigen Gegenstände ist im Weg.“

„Aber genau der ist ja die Todesursache!“ rief Cha Thrat. „Zuerst dachte ich, eine dieser Scheiben sei gegen die Leiche gestoßen und am Kopf hängengeblieben. Aber das war ein Irrtum. Die Scheibe hat sich absichtlich mit diesen dicken weißen Ranken, die Sie am Rand sehen können, an den FGHJ geheftet. Jetzt, wo ich mich danach umsehe, kann ich die Ranken bei allen Scheiben erkennen, und nach der Länge zu urteilen, müssen sie sehr tief in die Wirbelsäule und den Hinterkopf der Leiche eingedrungen sein. Diese Scheibe ist oder war am Leben und könnte dafür verantwortlich gewesen sein, daß wir.“

„Cha Thrat!“ schnitt ihr Fletcher in scharfem Ton das Wort ab. „Nichts wie raus da!“

„Sofort!“ fügte Prilicla hinzu.

Äußerst behutsam ließ Cha Thrat den toten FGHJ los, nahm ihre Kamera ab und heftete sie mit den Magnethaltern an eine freie Stelle an der Wand. Sie wußte, daß sich das medizinische Team diese sonderbare und abstoßende Lebensform, von dem das Alienschiff heimgesucht worden war, gerne genau ansehen würde, bevor man eine Entscheidung treffen wollte, wie man mit ihr verfahren sollte. Dann wandte sie sich dem Eingang zu, der plötzlich sehr weit entfernt zu sein schien.

Zwischen ihr und der Tür schwebten die Scheiben dicht an dicht wie ein fremdartiges Minenfeld. Einige bewegten sich noch immer langsam in den Luftwirbeln, die Cha Thrats Eintreten oder die Schläge hervorgerufen hatten, mit denen sie von ihr so lässig zur Seite gestoßen worden waren, vielleicht trieben sie sich aber auch durch Eigendrehungen an. Sie boten sich dem Auge von allen Seiten dar: mit der glatten Oberfläche der gesprenkelten Seite, der grauen und faltigen Rückseite und den mit schlaffen, weißen Ranken besetzten Rändern.

Cha Thrat war so mit der Suche nach einem lebenden FGHJ beschäftigt gewesen, daß sie sich die Scheiben, die von ihr irrtümlich für im Raum schwebende Fladen zum Essen oder getrocknete Ausscheidungsstoffe gehalten worden waren, kaum angesehen hatte. Sie wußte immer noch nicht, worum es sich bei ihnen handelte, sondern nur, wozu sie imstande waren — nämlich zur völligen Zerstörung der erstklassig geschulten und intelligenten Gehirne ihrer Opfer, denen sie nichts ließen als die grundlegenden und rein instinktiven Reflexe von Tieren.

Bei der Vorstellung eines Raubtiers, das seine Beute nicht verschlingt und ihr keinen körperlichen Schaden zufügt, sondern sich mit ihrer Intelligenz vollfrißt, hätte sich Cha Thrat am liebsten in den Wahnsinn geflüchtet. Sie hatte rasende Angst, noch einmal eine der Scheiben zu berühren, aber es waren zu viele, als daß sie es hätte verhindern können. Sollte ihr jedoch eine in die Quere kommen, entschloß sich Cha Thrat grimmig, dann würde sie diese mit aller Kraft berühren oder richtiger, sie zerschlagen.

In ihrem Kopfhörer erklang die freundliche, beruhigende Stimme Priliclas. „Sie haben Ihre Angst gut unter Kontrolle, meine Freundin“, lobte er sie. „Bewegen Sie sich jetzt langsam und vorsichtig, und machen Sie keine.“

Als plötzlich ein hoher, durchdringender Ton aus ihrem Kopfhörer gellte, der anzeigte, daß zu viele Leute gleichzeitig zu ihr sprachen und damit den Translator überlasteten, fuhr sie zusammen. Aber die Sprecher mußten sofort gemerkt haben, was geschehen war, denn der Ton wurde wieder schwächer und verhallte schließlich, bis nur noch eine Stimme übrigblieb, die des Captains.

„Cha Thrat, hinter Ihnen!“

Aber da war es schon zu spät.

Ihre gesamte Aufmerksamkeit war nach vorne und zu den Seiten gerichtet gewesen, wo die größte Gefahr lag. Als sie die erstaunlich leichte Berührung spürte, der ein Taubheitsgefühl im Nacken folgte, dachte ein kühler, distanzierter Teil ihres Verstands, daß es sehr rücksichtsvoll von dem Wesen sei, die Stelle vor dem Einführen der Ranken zu betäuben. Sie verdrehte ein Auge nach hinten, um zu sehen, was dort vorging, und hob instinktiv die Hände der Oberarme, um die Scheibe wegzuschieben, die sich vom toten FGHJ gelöst und sich an sie geheftet hatte. Aber ihre Hände tasteten nur schwach umher, die Finger verloren schlagartig alle Kraft, und die Arme fielen schlaff nach unten.

Andere Teile ihres Körpers versagten den Dienst oder fingen an, unkontrolliert und unkoordiniert zu zucken, wie man es allenfalls bei einem Lebewesen mit einem ernsthaften Gehirnschaden beobachten könnte. Dem gelassenen, unbeteiligten Teil ihres Verstands kam der Gedanke, daß ihr Zustand für ihre Freunde kein angenehmer Anblick sein mußte.

„Wehren Sie sich, Cha Thrat!“ schrie Murchisons Stimme aus dem Kopfhörer. „Was es auch mit Ihnen anstellt, wehren Sie sich! Wir sind auf dem Weg!“

Cha Thrat vernahm zwar den besorgten Unterton in der Stimme der Pathologin und war ihr dafür dankbar, doch die Zunge gehörte zu den Organen, die im Moment gerade nicht funktionierten, weil ihr der Mund wie zugeschnürt war. Alles in allem befand sie sich in einem Zustand beträchtlicher physiologischer Verwirrung, da die Muskeln nicht mit dem unkontrollierten Zucken aufhören wollten, der Körper sich in der Schwerelosigkeit in Krümmungen hin und her wand und wahllos verschiedene Bereiche der Haut von Hitze- und Kälteschauern, Schmerz- und Lustgefühlen befallen wurden. Sie wußte, daß das Wesen gerade ihr zentrales Nervensystem erkundete und herauszufinden versuchte, wie ihr sommaradvanischer Körper funktionierte, damit es sie kontrollieren konnte.

Ganz allmählich ließen die Zuckungen und Verrenkungen und selbst die Angst nach und verschwanden schließlich völlig, und plötzlich war Cha Thrats Körper in der Lage, den unterbrochenen Weg fortzusetzen. Die Kameralinse folgte ihr mit einem Schwenk. Als sie die Tür erreichte, schlug sie sie zu und verriegelte sie mit Verschlüssen, die ihr auf einmal vertraut vorkamen.

„Cha Thrat, was machen Sie da?“ fragte Fletcher in scharfem Ton.

Es war doch sonnenklar, daß sie die Tür von innen verschloß, dachte Cha Thrat gereizt. Wahrscheinlich meinte der Captain, warum sie das tat. Sie versuchte zu antworten, doch die Lippen und die Zunge wollten nicht funktionieren. Aber sicherlich würden ihre Handlungen allen klarmachen, daß sie und dieses Etwas, sie beide eben, nicht gestört werden wollten.

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