4. Kapitel

Der Ausbilder war ein Nidianer, der sich als Chefarzt Cresk-Sar vorgestellt hatte. Beim Sprechen schritt er vor der Reihe der Auszubildenden wie ein kleines, stark behaartes, fleischfressendes Tier auf und ab und kam deshalb andauernd so nahe an Cha Thrat vorbei, daß sie am liebsten abwehrend die Gliedmaßen gekreuzt hätte oder weggelaufen wäre.

„Um beim Zusammentreffen mit Lebewesen anderer Spezies sprachliche Mißverständnisse auf ein Minimum zu reduzieren und um zu vermeiden, unbeabsichtigt anzuecken, ist es unabdingbar, daß alle Mitglieder des Arzt- und Hilfspersonals, auch wenn sie nicht der eigenen Spezies angehören, als Individuen mit eigenen Gefühlen, Sehnsüchten und Ängsten respektiert werden“, erklärte der Nidianer. „Ob Sie nun jemanden direkt ansprechen oder sich in seiner Abwesenheit über ihn unterhalten, Sie werden Ihre Mitarbeiter immer siezen und den entsprechenden Namen gebrauchen. Diese Regel gilt natürlich nicht für den Freundeskreis, private Beziehungen und dergleichen.

Ich bin ein männlicher DBDG von Nidia, aber stellen Sie sich mich bitte niemals als „nidianischen Rotpelz“ oder als „kleines, behaartes Tier“ vor, sondern immer als Cresk-Sar.“

Als sich der abstoßende, stark behaarte Körper Cha Thrat erneut bis auf wenige Schritte näherte, bevor er wieder in die entgegengesetzte Richtung davonschritt, dachte sie, daß sie einige Schwierigkeiten haben würde, den Chefarzt in Gedanken nicht als stark behaarten Fleischfresser zu bezeichnen.

Um jemanden zu finden, der auf sie einen etwas weniger abstoßenden Eindruck machte, richtete sie die Augen auf die neben ihr stehende Schwesternschülerin, die zu den drei am Unterricht teilnehmenden Kelgianerinnen mit silbernem Fell gehörte. Sie empfand es als äußerst merkwürdig, wie ihr innerlich vor der Behaarung des Nidianers schauderte,

während der gleichermaßen fremdartige Pelz der Kelgianerin so beruhigend und entspannend wie ein großes Kunstwerk auf sie wirkte. Das Fell befand sich in ständiger Bewegung, breite Kräuselungen, die gelegentlich von Strudeln und kleinen Wellen durchkreuzt wurden, verliefen langsam vom kegelförmigen Kopf bis zum Schwanz hinab, als ob der unglaublich feine Pelz eine Flüssigkeit wäre, die von einem nicht spürbaren Wind aufgewühlt wurde. Zuerst hielt Cha Thrat diese Bewegungsmuster für zufällig, doch je genauer sie hinsah, desto deutlicher schien sich in den Kräuselungen und Strudeln ein Schema herauszubilden.

„Was starren Sie mich denn so an?“ wollte die Kelgianerin plötzlich wissen, wobei die vom Translator übersetzten Worte von den stöhnenden, und zischenden Lauten ihrer Muttersprache untermalt wurden. „Habe ich irgendwo eine kahle Stelle, oder was?“

„Tut mir leid, ich wollte Sie nicht beleidigen“, entschuldigte sich Cha Thrat. „Ihr Fell ist wirklich wunderschön, und die Art, wie es sich bewegt, fasziniert mich einfach.“

„He, Sie da! Passen Sie gefälligst auf!“ ermahnte Cresk-Sar die beiden in scharfem Ton. Er kam näher, sah sie beide abwechselnd an und schritt die Reihe dann wieder in der anderen Richtung ab.

„Cresk-Sars Fell sieht fürchterlich aus“, flüsterte die Kelgianerin. „Bei diesem Anblick habe ich immer das Gefühl, daß andauernd irgendwelche unsichtbaren Parasiten, die ich mir natürlich nur einbilde, zu mir herübergesprungen kommen. Davon kriege ich ein furchtbares, psychosomatisch bedingtes Jucken.“

Diesmal warf ihnen Cresk-Sar einen zweiten langen Blick zu, stieß ein verärgertes Schnaufen aus, das vom Translator nicht übersetzt wurde, und fuhr mit seinen Ausführungen fort.

„.ein zweiter Punkt ist die Geschlechtszugehörigkeit von Aliens, mit der jede Menge unlogischer Verhaltensweisen verbunden sind. Ich möchte betonen, daß man dieses Thema möglichst ignorieren oder sogar bewußt vermeiden sollte, es sei denn, das Geschlecht eines bestimmten Patienten hat direkten Einfluß auf die Behandlungsmethode. Einige von Ihnen sind vielleicht der Meinung, daß ein solches Wissen über Mitarbeiter einer anderen Spezies hilfreich oder nützlich sein könnte, insbesondere für Gespräche bei Treffen in der Freizeit oder wenn gerade ein besonders interessantes Gerücht kursiert, wie es hier oft vorkommt. Aber glauben Sie mir, auf diesem Gebiet ist Unwissenheit ausnahmsweise eine Tugend.“

In der unteren Hälfte der Reihe meldete sich ein Melfaner zu Wort. „Es gibt doch bestimmt gesellschaftliche Ereignisse, gemeinsame Mahlzeiten oder Vorträge, an denen verschiedene Spezies teilnehmen und wo es eine grobe Verletzung guter Manieren wäre, das Geschlecht eines intelligenten und gesellschaftspolitisch interessierten Lebewesens nicht zu beachten. Ich glaube, es.“

„Und ich glaube“, unterbrach ihn Cresk-Sar mit einem Bellen oder Lachen, „daß Sie das sind, was unsere terrestrischen Freunde einen Kavalier nennen. Sie haben mir nicht zugehört. Übersehen Sie den geschlechtlichen Unterschied. Betrachten Sie jeden, der nicht zu Ihrer Spezies gehört, einfach als Neutrum. Einige unserer Aliens müßten Sie sowieso ganz genau betrachten, um den Unterschied überhaupt festzustellen, und das allein könnte schon große Verlegenheit hervorrufen. Im Fall der Hudlarer, bei denen die Lebensgefährten die männliche und weibliche Rolle wechseln, sind die Verhaltensmuster zum Beispiel äußerst kompliziert.“

„Und was passiert, wenn die zeitliche Abstimmung zwischen den hudlarischen Partnern nur noch teilweise oder gar nicht mehr funktioniert?“ fragte die Kelgianerin neben Cha Thrat.

Aus der Reihe der Auszubildenden kam eine Anzahl Laute, von denen Cha Thrats Translator keinen übersetzte. Der Chefarzt musterte die Kelgianerin, deren Fell sich jetzt aus irgendeinem Grund in raschen und unregelmäßigen Wellenbewegungen kräuselte.

„Ich werde das als eine ernsthafte Frage behandeln“, erwiderte Cresk-Sar, „obwohl ich bezweifle, daß sie so gemeint war. Aber anstatt sie selbst zu beantworten, werde ich einen von Ihnen darum bitten. Würde der hudlarische Schüler bitte so nett sein vorzutreten?“ Das ist also ein Hudlarer, staunte Cha Thrat.

Er war ein untersetztes, kräftiges Wesen mit einer fast konturlosen, dunkelgrauen Lederhaut, die mit Flecken übersät war, die wiederum von der getrockneten Farbe stammten, mit der sich der Hudlarer vor dem Betreten des Unterrichtsraums besprüht hatte. Cha Thrat hatte ihn dabei beobachtet und war zu dem Schluß gelangt, daß er beim Auftragen seiner kosmetischen Mittel ausgesprochen nachlässig war. Der Körper wurde von sechs starken Tentakeln getragen, an deren Spitze jeweils ein biegsames Fingerbüschel saß. Die Tentakel waren nach innen gerollt, damit das Körpergewicht auf den kräftigen Ballen ruhte und die Finger nicht den Boden berührten.

Cha Thrat konnte keine Körperöffnungen entdecken, nicht einmal am Kopf. Dort befand sich aber neben den von harten, durchsichtigen Deckeln geschützten Augen auch eine halbkreisförmige Membran, die durch Vibrieren die Worte des Wesens hörbar machte, als es sich jetzt an die anderen Auszubildenden wandte.

„Das ist ganz einfach, verehrte Kolleginnen und Kollegen“, sagte der Hudlarer. „Während ich momentan männlich bin, sind alle Hudlarer bis zur Pubertät geschlechtslos. Welche Richtung danach eingeschlagen wird, hängt von den Einflüssen des sozialen Umfelds ab, die manchmal sehr subtil sind und bei denen Körperkontakt keine Rolle spielt. Beispielsweise kann das Bild eines attraktiven männlichen Angehörigen unserer Spezies einen geschlechtslosen Hudlarer zum weiblichen Geschlecht drängen oder umgekehrt. Falls für die Laufbahn, die man einzuschlagen beabsichtigt, ein bestimmtes Geschlecht bevorzugt wird, kann man sich auch bewußt entscheiden. Hat man keinen Lebensgefährten, ist das nach der Pubertät gewählte Geschlecht für den Rest des Lebens festgelegt.

Werden aber zwei erwachsene Hudlarer ein Paar, das heißt, verbinden sie sich, um eine Familie zu gründen und nicht nur zum vorübergehenden Vergnügen, dann setzt die Geschlechtsumwandlung kurz nach der Empfängnis ein. Bei der Geburt des Kindes ist das männliche Elternteil schon viel weniger aggressiv und seiner Gefährtin gegenüber aufmerksamer und gefühlvoller geworden, wohingegen diese allmählich die weiblichen Wesenszüge verliert. Nach der Geburt setzt sich der Vorgang fort. Der ehemalige Vater übernimmt nun die Verantwortung für das Kind, während er sich vollkommen in ein weibliches Wesen verwandelt, und die Mutter bildet sämtliche männlichen Eigenschaften aus, die sie dazu befähigen, ein zukünftiger Vater zu werden.

Natürlich gibt es einen Zeitpunkt, zu dem sich beide Lebensgefährten vom Gefühl her als geschlechtslos betrachten“, fügte der Hudlarer hinzu, „aber das ist stets die Phase der Schwangerschaft, in der die körperliche Vereinigung sowieso schädlich erscheint.“

„Ich danke Ihnen“, sagte Cresk-Sar, hob aber eine der kleinen, behaarten Hände, um dem Hudlarer zu signalisieren, er solle es dabei belassen. „Irgendwelche weiteren Anmerkungen oder Fragen?“

Der Chefarzt blickte jetzt zwar die Kelgianerin an, die vorhin die Frage zu diesem Thema gestellt hatte, trotzdem meldete sich die neben ihr stehende Cha Thrat spontan zu Wort.

„Mir scheinen die Hudlarer insofern Glück zu haben, als sie sich nicht darüber ärgern müssen, daß sich die Angehörigen des einen Geschlechts denen des anderen von Natur aus überlegen fühlen, wie es auf Sommaradva der Fall ist.“

„Und auf allzu vielen anderen Planeten der Föderation auch“, warf die Kelgianerin ein, deren Fell sich dabei hinter dem Kopf gleich büschelweise sträubte.

„.jedenfalls danke ich dem Hudlarer für seine Erläuterungen, aber mich hat die Feststellung überrascht, daß er momentan männlich ist“, fuhr Cha Thrat fort. „Wegen der Farbe auf seinem Körper, die ich fälschlicherweise für ein kosmetisches Mittel gehalten habe, dachte ich zuerst, er sei ein weibliches Wesen.“

Die Sprechmembran des Hudlarers begann zu vibrieren, aber Cresk-Sar bat mit einem Handzeichen um Ruhe und fragte: „Und was haben Sie danach gedacht?“

Verdutzt starrte sie den kleinen, behaarten Alien an und fragte sich, was sie sagen sollte.

„Kommen Sie schon“, bellte Cresk-Sar. „Erzählen Sie uns, was Ihnen zu dieser Lebensform sonst noch für Gedanken, Beobachtungen und Vermutungen, ob nun richtig oder falsch, durch Ihren sommaradvanischen Kopf gegangen sind. Denken und sprechen Sie klar und deutlich.“

Cha Thrat richtete all ihre Augen auf den Chefarzt, und das auf eine Art, die auf Sommaradva eine sofortige verbale und körperliche Reaktion ausgelöst hätte. „Meinen ersten Gedanken habe ich Ihnen gerade genannt. Mein zweiter war, daß bei den Hudlarern möglicherweise eher die männlichen als die weiblichen Wesen, vielleicht auch beide Geschlechter, Kosmetika benutzen. Dann habe ich beobachtet, daß sich der Alien sehr vorsichtig bewegt hat, als hätte er Angst, andere Lebewesen oder Geräte in seiner Nähe zu beschädigen oder zu verletzen. Das sind die Bewegungen eines Wesens von ungeheurer Körperkraft. Zusammen mit der gedrungenen, untersetzten Gestalt und der Tatsache, daß er nicht zwei oder vier, sondern sechs Beine hat, deutet das auf den Bewohner eines Planeten mit einer sehr dichten Atmosphäre, hoher Schwerkraft und entsprechendem atmosphärischen Druck hin, wo ein versehentlicher Sturz Verletzungen zur Folge hätte. Die sehr harte, aber biegsame Haut, die nirgends irgendwelche ständigen Körperöffnungen zur Aufnahme oder Ausscheidung von Nahrung aufweist, läßt darauf schließen, daß es sich bei der Farbe, mit der sich der Hudlarer nach meiner Beobachtung besprüht hatte, um so etwas wie ein Nahrungspräparat handelt.“

Die ganze Zeit über waren Cresk-Sars Augen und die mannigfaltigen Sehorgane der anderen auf sie geheftet. Niemand sagte ein Wort.

Zögernd fügte Cha Thrat hinzu: „Ein weiterer interessanter und faszinierender Gedanke, der aber wohl eher auf bloßer Vermutung beruht, ist, daß der Körper dieses unter extremen Schwerkraft- und Druckverhältnissen lebenden Aliens über einen eigenen hohen Innendruck verfügen muß, da er den Umweltbedingungen des Hospitals ohne Schutz standhalten kann und ihm wahrscheinlich sogar noch geringere Druckverhältnisse als hier nicht einmal zu schaffen machen würden.

Vielleicht ist er sogar in der Lage, ohne Schutzanzug im All zu arbeiten“, fuhr sie fort, wobei sie insgeheim schon damit rechnete, von dem nidianischen Chefarzt mit Hohn und Spott überschüttet zu werden. „Und das würde bedeuten, daß er.“

„Demnächst nennen Sie mir auch noch seine physiologische Klassifikation“, unterbrach Cresk-Sar sie mit erhobener Hand, „obwohl wir über das hier gehandhabte System noch kein Wort verloren haben. Ist es eigentlich das erstemal, daß Sie einen Hudlarer gesehen haben?“

„Nein, zwei habe ich schon zuvor in der Kantine gesehen“, antwortete Cha Thrat. „Aber zu der Zeit bin ich noch viel zu verwirrt gewesen, als daß ich meine optischen Eindrücke hätte verarbeiten können.“

„Möge sich Ihre Verwirrung weiterhin verringern, Cha Thrat“, sagte Cresk-Sar geheimnisvoll. Dann fuhr er an alle gewandt fort: „Diese Schülerin hat Ihnen soeben demonstriert, was es heißt, zu beobachten und die richtigen Folgerungen daraus zu ziehen. Wenn Sie diese Fähigkeit erst einmal gelernt und entwickelt haben, werden Sie imstande sein, mit Ihren Kollegen und Patienten von anderen Spezies zusammenzuleben, sie zu verstehen und auch zu behandeln. Jedenfalls würde ich Ihnen den Rat geben, eine bestimmte Lebensform in Gedanken nicht als Nidianer, Hudlarer, Kelgianer, Melfaner oder Sommaradvaner zu bezeichnen, sondern als DBDG, FROB, DBLF, ELNT beziehungsweise DCNF. Auf diese Weise werden Sie immer an die jeweils benötigten Druck—, Schwerkraft- und Atmosphäreverhältnisse sowie an den grundlegenden Stoffwechsel und andere physiologische Bedürfnisse erinnert und wissen sofort, wann und ob eine Umweltbedingung für Sie oder andere Wesen eine potentielle Gefahr darstellt.

Sollte beispielsweise ein PVSJ, der chloratmende Bewohner von Illensa, versehentlich seinen Druckanzug zerreißen, dann bestünde für den Alien selbst sowie für jeden Sauerstoffatmer mit dem ersten Buchstaben D, E und F in dessen näheren Umgebung äußerste Gefahr. Und falls Sie jemals zu einer Rettungsaktion im All gerufen werden, könnte es vorkommen, daß eine dringende und genaue Bestimmung der physiologischen Klassifikation eines Unfallopfers — und damit seiner Lebenserhaltungsbedürfnisse — von einer einzigen Gliedmaße oder einem kleinen Stück der Körperoberfläche abhängt, weil unter den sich verschiebenden Wrackteilen nur hin und wieder eine kleine Stelle von ihm zu sehen ist.

Sie müssen üben, all die unterschiedlichen Merkmale der Lebewesen in Ihrer näheren Umgebung instinktiv wahrzunehmen“, fuhr Cresk-Sar fort und gab dabei leise ein bellendlachendes Geräusch von sich, „und sei es nur, um zu wissen, wen man ohne Gefahr auf den Gängen und Korridoren anrempeln darf Und jetzt werde ich Sie auf Ihre jeweiligen Stationen bringen, damit Sie Ihre ersten Erfahrungen mit Patienten sammeln können, bevor ich meine nächste Klasse in.“

„Was ist mit dem Klassifikationssystem?“ fragte die Kelgianerin — die DBLF, korrigierte sich Cha Thrat — mit dem silbernen Fell neben ihr. „Wenn es wirklich so wichtig ist, wie Sie gesagt haben, dann taugen Sie offenbar nicht zum Ausbilder, schließlich hätten Sie es uns sonst erklärt.“

Cresk-Sar ging langsam auf die Sprecherin zu, und Cha Thrat fragte sich, ob sie vielleicht die zu erwartende verbale Gewalt durch eine zweite, höflicher formulierte Frage an den Chefarzt abschwächen könnte.

Doch aus irgendeinem Grund übersah der Nidianer die DBLF völlig und wandte sich statt dessen an Cha Thrat.

„Wie Sie bereits bemerkt haben dürften“, begann er gemächlich, „nimmt diese kelgianische Lebensform der Klassifikation DBLF kein Blatt vor den Mund, hat schlechte Umgangsformen, ist unverschämt und besitzt überhaupt kein Taktgefühl.“

Sie haben gut reden, dachte Cha Thrat.

„. aber dafür gibt es einleuchtende psycho-physiologische Gründe“, fuhr er fort. „Aufgrund der unzulänglichen Anatomie der kelgianischen Sprechorgane weist die gesprochene Sprache dieser DBLFs keine Intonation und Akzentuierung und damit keinerlei emotionale Ausdrucksfähigkeit auf. Doch das wird durch das äußerst bewegliche Fell

ausgeglichen, das die Empfindungen des Sprechers, zumindest für einen Kelgianer, vollständig, aber auch unwillkürlich widerspiegelt. Deshalb sind diesen Wesen Begriffe wie Lüge, Diplomatie, Taktgefühl oder gar Höflichkeit vollkommen fremd. Ein DBLF sagt genau das, was er meint oder fühlt, da das Fell ständig seine Empfindungen verrät und es pure Dummheit wäre, sich anders zu verhalten. Aber die Kelgianer haben es auch mit vielen von uns Aliens nicht leicht, denn durch die Höflichkeit und die sprachlichen Umschreibungen, der wir uns bedienen, lassen sie sich wiederum leicht verwirren und irritieren.

Ihnen wird hier im Hospital die eine oder andere Mentalität genauso fremdartig vorkommen wie die Lebensformen selbst“, fuhr er fort. „Wenn ich mir überlege, daß Sie vor Ihrer Ankunft erst einem einzigen Alien, nämlich einem Terrestrier begegnet sind, bin ich mir aufgrund Ihres heutigen Verhaltens sicher, daß Sie keinerlei Anpassungsschwierigkeiten haben werden und.“

„Streberin!“ zischte die DBLF, wobei sich ihr Fell zu Stacheln bündelte. „Schließlich war ich diejenige, die die Frage gestellt hat. Erinnern Sie sich, Cresk-Sar?“

„Allerdings waren Sie das“, antwortete Cresk-Sar und blickte auf die Wanduhr. „Irgendwann im Laufe des heutigen Tages wird man Ihnen Videobänder, auf denen das physiologische Klassifikationssystem der verschiedenen Lebensformen behandelt wird, in Ihre Unterkünfte schicken. Sehen Sie sich das Bildmaterial mehrmals aufmerksam an, und verwenden Sie für den gesprochenen Begleittext Ihre Translatoren. Im Augenblick bleibt mir nur noch soviel Zeit, um Ihnen einen Überblick über die Grundlagen des Systems zu geben.“

Cresk-Sar wandte sich abrupt ab und nahm wieder seinen Platz vor den Auszubildenden ein. Ganz offensichtlich war der kommende Vortrag an alle gerichtet.

„Falls Sie nicht bereits in einem der kleineren Hospitäler mit vielfältigen Umweltbedingungen gearbeitet haben, werden Sie normalerweise immer nur außerplanetarischen Patienten einer einzigen Spezies zur gleichen Zeit begegnen, wahrscheinlich kurzfristig aufgrund eines Schiffsunfalls, und diese Aliens würden Sie nach deren Heimatplaneten bezeichnen“, fuhr Cresk-Sar fort. „Aber ich muß noch einmal betonen, daß die schnelle und genaue Identifizierung eintreffender Patienten für diese lebenswichtig ist, weil sich die Verletzten allzu oft nicht in dem Zustand befinden, die benötigten physiologischen Informationen über sich selbst geben zu können. Deshalb haben wir ein aus vier Buchstaben bestehendes, grundlegendes Klassifikationssystem entwickelt, das uns in die Lage versetzt, das notwendige Lebenserhaltungssystem bereitzustellen und eine Vorbehandlung durchzuführen, bis von der Pathologie, falls dies erforderlich ist, eine genauere Untersuchung vorgenommen werden kann. Das System funktioniert folgendermaßen.

Der erste Buchstabe zeigt den Stand der physikalischen Evolution an, den die Spezies zum Zeitpunkt der Entwicklung von Intelligenz erreicht hatte. Der zweite weist auf die Art und Verteilung der Gliedmaßen, Sinnesorgane und Körperöffnungen hin, und die restlichen beiden Buchstaben stellen eine Kombination aus dem Metabolismus und der erforderlichen Nahrung und Atmosphäre in Verbindung mit den Schwerkraft- und Druckverhältnissen des Heimatplaneten dar, was zugleich ein Hinweis auf die physische Masse und auf die Beschaffenheit der schützenden Epidermis des Wesens ist.“

Cresk-Sar hielt kurz inne und bellte leise, bevor er seine Erläuterungen fortsetzte. „An diesem Punkt des Vertrags muß ich unsere Auszubildenden normalerweise darauf hinweisen, daß sie wegen des ersten Buchstabens der für sie zutreffenden Klassifikation keine Minderwertigkeitskomplexe bekommen müssen, da der Stand der physikalischen Evolution von Umweltfaktoren gesteuert wird und kaum Schlüsse auf den wirklichen Intelligenzgrad zuläßt.“

Wie er weiterhin erklärte, seien Spezies mit A, B oder C als erstem Buchstaben Wasseratmer. Auf den meisten Planeten war das Leben nämlich im Wasser entstanden, und diese Wesen hatten Intelligenz entwickelt, ohne das nasse Element verlassen zu müssen. Die Buchstaben D bis F bezeichneten warmblütige Sauerstoffarmer — unter diese Klassifikation fielen die meisten intelligenten Wesen der Föderation. G bis K waren zwar auch Sauerstoffatmer, hierbei handelte es sich aber um insektenartige Wesen. Die Lebensformen der Kategorie L und M besaßen Flügel und lebten unter geringen Schwerkraftbedingungen.

Die Chloratmer waren in die Gruppen O und P unterteilt, darauf folgten die eher exotischen, physikalisch höher entwickelten und völlig absonderlich anmutenden Spezies. In diese Kategorien fielen die Strahlungsverwerter, die starrblütigen oder kristallinen Wesen sowie Lebensformen, die ihre körperliche Gestalt beliebig verändern konnten. Diejenigen, die so hochentwickelte übersinnliche Kräfte beziehungsweise telekinetische oder teleportative Fähigkeiten besaßen, daß sie nicht einmal mehr Fortbewegungs- oder Greiforgane benötigten, hatten unabhängig von Form, Größe oder den Umweltbedingungen, unter denen sie lebten, als ersten Buchstaben das V.

„Zwar wissen wir heute, daß dieses System nicht ganz fehlerfrei ist“, räumte der Chefarzt ein, „aber schuld daran ist einfach die mangelnde Vorstellungskraft der Urheber gewesen. AACPs sind zum Beispiel eine Spezies mit vegetarischem Metabolismus. Normalerweise weist das A als deren erster Buchstabe auf Wasseratmer hin. Da das System mit seiner Klassifikation jedoch erst bei den fischähnlichen Lebensformen beginnt und die AACPs als pflanzliche Wesen noch vor den Fischen eingestuft werden müßten, hat man sie einfach dieser Gruppe zugeordnet.

Und jetzt werden Sie einigen dieser eigentümlichen und prachtvollen, vielleicht auch furchterregenden Aliens begegnen“, sagte er und warf einen erneuten Blick auf die Uhr. „Es ist der Grundsatz des Hospitals, Ihnen so früh wie möglich Gelegenheit zu geben, die Patienten und Mitarbeiter kennenzulernen und mit ihnen zusammenzuarbeiten. Unabhängig von Ihrer Position oder der Dauer Ihrer Betriebszugehörigkeit in den Krankenhäusern auf Ihren Heimatplaneten ist Ihr Dienstgrad hier im Orbit Hospital zunächst der einer Schwesternschülerin oder der eines Krankenpflegeschülers — das heißt, bis Sie mich davon überzeugen können,

daß Ihre Fachkompetenz eine höhere Stellung rechtfertigt.

Aber ich bin nicht leicht zu überzeugen“, fügte Cresk-Sar hinzu, während er auf den Ausgang zuging. „Bitte folgen Sie mir.“

Dem Chefarzt zu folgen war nicht einfach, da er trotz seiner geringen Körpergröße einen erstaunlich schnellen Schritt anschlug. Zudem hatte Cha Thrat das Gefühl, daß die anderen mehr Routine als sie darin besaßen, sich in den Hospitalfluren zurechtzufinden. Doch dann bemerkte sie, daß der Hudlarer — der PROB — ebenfalls zurückfiel.

„Aus naheliegenden Gründen macht man mir hier reichlich Platz“, sagte der PROB, als sie sich auf gleicher Höhe befanden. „Wenn Sie sich direkt hinter mir halten würden, könnten wir gemeinsam das Tempo wesentlich erhöhen.“

Cha Thrat hatte plötzlich dieses erschütternde Gefühl der Unwirklichkeit, als wäre sie in eine sowohl entsetzliche als auch großartige Alptraumwelt eingetaucht, eine Welt, in der solch ein abscheuliches Ungeheuer wie dieser PROB, der sie zermalmen könnte, ohne dazu auch nur einen einzigen Muskel seiner sechs Tentakel bemühen zu müssen, Liebenswürdigkeit bewies. Aber selbst wenn das ein Traum war, mußte sie eine angemessene Antwort geben.

„Sie sind wirklich sehr aufmerksam“, entgegnete sie. „Danke schön.“

Die Membran des Hudlarers vibrierte zwar, aber der erzeugte Laut wurde vom Translator nicht übersetzt. Dann sagte er: „Um Ihre Kenntnisse über das Nahrungspräparat, das Sie vorhin bemerkt haben, zu vervollständigen, und um Ihnen zu zeigen, wie nah Sie mit Ihren Schlußfolgerungen an der Wirklichkeit lagen, wollte ich Ihnen noch sagen, daß das Präparat bei mir zu Hause nicht erforderlich ist. Dort ist die gesamte Atmosphäre voll von eßbaren, schwebenden Organismen, so daß sie einer dickflüssigen Suppe ähnelt und uns mit Nahrung versorgt, die wir aufgrund unserer hohen Stofffwechselgeschwindigkeit ununterbrochen aufnehmen müssen. Wie Sie sehen, ist die zuletzt aufgetragene Nahrungsschicht schon wieder beinahe verschwunden und muß demnächst erneuert werden.“

Bevor Cha Thrat etwas entgegnen konnte, ließ sich eine der Kelgianerinnen zurückfallen und berichtete aufgebracht: „Also so was! Ich wäre eben fast von einem Tralthaner umgerannt worden. Der Vorschlag des PROB scheint mir eine gute Idee zu sein. Der Platz reicht ja für zwei.“

Sie kam näher an Cha Thrat heran, so daß beide durch den gewaltigen Körper des Hudlarers geschützt wurden. „Ich möchte Sie ja nicht beleidigen“, sagte Cha Thrat, wobei sie sich die Worte sorgfältig überlegte, „aber ich kann zwischen Ihnen und den anderen DBLFs einfach keinen Unterschied erkennen. Sind Sie die Kelgianerin, deren Fell ich im Unterricht bewundert habe?“

„Bewundert, das kann man wohl sagen!“ entgegnete die Kelgianerin, deren Fell dabei kreisförmige Wellen schlug, die vom Kopf bis zum Schwanz verliefen. „Darüber machen Sie sich mal keine Gedanken. Wenn außer Ihnen noch eine andere Sommaradvanerin hier wäre, könnte ich den Unterschied auch nicht erkennen.“

Plötzlich blieb der Hudlarer wie angewurzelt stehen, und als Cha Thrat an ihm vorbeiblickte, sah sie auch, warum. Die ganze Gruppe hatte haltgemacht, und Cresk-Sar winkte einen Melfaner und die beiden anderen Kelgianerinnen zu sich heran.

„Das hier ist eine postoperative Genesungsstation für Tralthaner“, verkündete er. „Sie drei werden sich hier täglich nach dem Unterricht melden, bis Sie andere Anweisungen erhalten. Schutzanzüge brauchen Sie nicht, die Luft können Sie atmen, und auf die geringfügigen tralthanischen Körperausdünstungen sollten Sie lieber erst gar nicht achten. Gehen Sie jetzt hinein, Sie werden bereits erwartet.“

Als sich der Zug wieder in Bewegung gesetzt hatte, sah Cha Thrat, wie sich einige der Auszubildenden ohne Aufforderung von der Gruppe trennten, und schloß daraus, daß sie schon länger zu der Klasse gehörten und bereits entsprechenden Stationen zugeteilt worden waren. Zu ihnen zählte auch ihr hudlarischer Wegbahner. Kurz darauf war die Gruppe bis auf die DBLF und Cha Thrat selbst zusammengeschrumpft, und nun deutete Cresk-Sar auf die Kelgianerin. „Dies ist die innere Abteilung für PVSJs“, klärte er sie auf. „Man wird Sie in der Schleusenvorkammer empfangen und Ihnen den Gebrauch des Schutzanzugs erklären, bevor Sie da durchgehen können. Dann werden Sie.“

„Aber da sind doch Chloratmer drin!“ protestierte die Kelgianerin, wobei sich ihr Fell zu Stacheln aufrichtete. „Können Sie mir nicht eine Station geben, auf der ich wenigstens die Luft atmen kann? Oder versuchen Sie krampfhaft, es den Neulingen so schwer wie möglich zu machen? Was passiert, wenn ich mir aus Versehen den Anzug aufreiße?“

„Ich werde Ihre Fragen der Reihe nach beantworten“, erwiderte der Chefarzt. „Erstens, nein. Zweitens, Sie haben es erraten. Drittens, die bereits vorhandenen Verletzungen der in der Nähe liegenden Patienten werden durch die mit Sauerstoff verseuchte Atmosphäre noch mehr in Mitleidenschaft gezogen.“

„Und was ist mit mir, Sie Dummkopf?“

„Sie würden eine Chlorvergiftung bekommen“, antwortete Cresk-Sar. „Und was die Oberschwester nach Ihrer Genesung mit Ihnen machen würde, daran möchte ich lieber gar nicht erst denken.“

Sah man von dem zu einem Nagelbett aufgerichteten Fell ab, verschwand die Kelgianerin ohne einen weiteren Kommentar gehorsam in der Schleuse. Als Cha Thrat und Cresk-Sar daraufhin drei Ebenen nach unten gingen, wobei sie völlig überfüllte und scheinbar endlose Korridore durchquerten, mußte sich die Sommaradvanerin so stark darauf konzentrieren, mit dem Chefarzt Schritt zu halten, daß sie keine Möglichkeit hatte, sich danach zu erkundigen, welche Aufgabe sie eigentlich erwarte. Doch schließlich blieb Cresk-Sar vor einem gewaltigen Schleuseneingang stehen, der in den gebräuchlichsten Sprachen der Galaktischen Föderation — zu denen natürlich nicht Sommaradvanisch gehörte — beschriftet war, und beantwortete ihre Frage von selbst.

„Das hier ist die AUGL-Station des Hospitals“, sagte er. „Sie werden feststellen, daß die Patienten, die allesamt Bewohner der Wasserwelt von Chalderescol II sind, zu den optisch furchteinflößendsten Lebewesen gehören, denen Sie wahrscheinlich jemals begegnen werden. Aber die AUGLs sind harmlos, solange Sie sich Ihnen nicht.“

„Das A als erster Buchstabe weist doch auf Wasseratmer hin“, unterbrach ihn Cha Thrat besorgt.

„Richtig“, bestätigte der Nidianer. „Stimmt irgend etwas nicht? Gibt es ein Problem, von dem mir O'Mara nichts erzählt hat? Fühlen Sie sich im Wasser unwohl, oder sind Sie wasserscheu?“

„Nein“, antwortete Cha Thrat. „Ich schwimme gerne — jedenfalls an der Oberfläche. Das Problem ist, daß ich keine Schutzkleidung habe.“

Cresk-Sar bellte und erwiderte: „Das ist kein Problem. Sicher, die Herstellung komplizierterer Schutzkleidung für Arbeiten unter hoher Schwerkraft, großem atmosphärischen Druck und extremen Temperaturen benötigt zwar seine Zeit, aber ein simpler wasserdichter Anzug, der Ihren Konturen angepaßt ist und mit einem Kommunikations- und Luftversorgungssystem ausgerüstet ist, stellt für unsere technische Fertigungsabteilung kein Problem dar. Ihr Anzug wartet bereits drinnen auf Sie.“

Im Gegensatz zu den anderen begleitete der Chefarzt Cha Thrat. Wie er meinte, müsse er das einwandfreie und reibungslose Funktionieren ihrer Ausrüstung sicherstellen, da sie für das Hospital eine neue Lebensform darstelle. Aber letztlich war es dann der Alien, von dem sie in der Schleusenvorkammer erwartet wurden, der sogleich die Sache in die Hand nahm und sämtliche Erklärungen gab.

„Cha Thrat, ich bin Oberschwester Hredlichli, eine PVSJ“, begrüßte das Wesen sie mit forscher Stimme. „Ihr Schutzanzug besteht aus zwei Teilen. In die untere Hälfte steigen Sie am besten, indem Sie mit den stärkeren Armen an Ihrer Taille in der Reihenfolge, die Ihnen am praktischsten erscheint, ein Bein nach dem anderen überziehen. Streifen Sie sich mit denselben Armen den oberen Teil über, wobei Sie zuerst den Kopf und die vier Arme an den Schultern hineinstecken. Die Arm- und Beinbünde werden ihnen zunächst sehr eng vorkommen, aber das soll einen knappen Sitz und ein Höchstmaß an Feingefühl in den Fingern garantieren. Schließen Sie die Verbindung der beiden Hälften an der Hüfte erst dann, wenn Sie sich vergewissert haben, daß die Luftversorgung funktioniert. Wenn Sie den Anzug luftdicht verschlossen haben, zeige ich Ihnen die verschiedenen Systemkontrollen, die bei jedem Ankleiden durchzuführen sind. Danach werden Sie den Anzug ablegen und erneut anziehen, und zwar so lange, bis wir beide mit Ihrer Leistung zufrieden sind. Und jetzt fangen Sie bitte an.“

Bei den ersten drei Probedurchgängen ging Oberschwester Hredlichli im Kreis um Cha Thrat herum und gab ihr Ratschläge und Anleitungen. Danach unterhielt sie sich mit dem Chefarzt und beachtete Cha Thrat anscheinend nicht mehr. Allerdings wurde der stachelige, membranartige Körper der PVSJ von dem gelben Chlor im Schutzanzug vernebelt, so daß er eher wie eine wahllose Aufschichtung öliger, giftiger Pflanzen aussah. Zudem war es schon deshalb unmöglich zu sagen, worauf die Oberschwester ihre Aufmerksamkeit richtete, weil Cha Thrat nicht in der Lage war, ihre Augen zu entdecken.

„Im Moment leiden wir unter schwerem Personalmangel“, berichtete Hredlichli gerade, „da sich drei meiner besten Schwestern ausschließlich um ganz spezielle postoperative Genesungsfälle kümmern müssen. Haben Sie eigentlich Hunger?“

Cha Thrat merkte, daß die Frage an sie gerichtet war, war sich aber nicht sicher, in welcher Form ihre Antwort erwartet wurde. Sollte sie nun die unterwürfige, selbstverleugnende Variante wählen, die einem Herrscher gebührte, oder sich lieber für die präzise, wahrheitsgemäße Auskunft entscheiden, die man einem Chirurgenkollegen für Krieger schuldete? Da sie keine Ahnung von Hredlichlis genauer Stellung hatte, gab sie ihr Bestes, um die beiden Antwortarten zu kombinieren.

„Ich habe zwar Hunger“, antwortete sie schließlich, wobei sie gleichzeitig die Gelegenheit nutzte, ihren Anzugkommunikator zu testen, „aber dieser Zustand ist noch lange nicht so weit fortgeschritten, daß er mich bereits körperlich schwächt.“

„Na, prima“, reagierte Hredlichli erfreut. „Als Schwesternschülerin werden Sie übrigens sehr schnell feststellen, daß praktisch alles und jeder Vorrang vor Ihnen hat. Sollte dieser Umstand zu einer emotionalen Anspannung bei Ihnen führen, die sich in verbalen Unmutsbekundungen oder Wutausbrüchen äußern könnte, bemühen Sie sich bitte um Zurückhaltung, bis Sie meine Station verlassen haben. Sie werden die Erlaubnis zu einem zeitlich streng begrenzten Besuch in der Kantine erhalten, sobald jemand von dort zurückkommt, um Sie abzulösen. Und nun, glaube ich, wissen Sie auch, wie Ihr Anzug funktioniert.“

Cresk-Sar wandte sich dem Eingang zu. Er hob eine der kleinen, behaarten Hände und sagte zum Abschied: „Viel Glück, Cha Thrat.“

„.also sollten wir erst mal in den Personalraum gehen“, fuhr Hredlichli fort, die den sich entfernenden Nidianer nicht zu beachten schien. „Überprüfen Sie noch einmal genau Ihre Anzugverschlüsse, und dann folgen Sie mir.“

Kurz darauf befanden sie sich in einem überraschend kleinen Raum mit einer durchsichtigen Wand, die den Blick in eine dämmrige, grüne Welt freigab, in der der optische Unterschied zwischen den Bewohnern und den zur Dekoration bestimmten Pflanzen, durch die sich diese Wesen wie zu Hause fühlen sollten, unklar war. An den übrigen drei Wänden des Raums standen und hingen Schränke, Bildschirme und Geräte, deren Verwendungszweck Cha Thrat nicht einmal erraten konnte. Die gesamte Decke war von geometrischen Formen und Zeichen in leuchtenden Farben bedeckt.

„Bezüglich ihrer Sicherheit für Personal und Patienten genießt unsere Station einen sehr guten Ruf im Orbit Hospital“, berichtete die Oberschwester nicht ohne Stolz. „Und ich möchte nicht, daß Sie den ruinieren. Sollten Sie dennoch Ihren Anzug beschädigen und in Gefahr sein zu ertrinken, müssen Sie, da die Mund-zu-Mund-Beatmung zwischen Sauerstoff- und Chloratmern nicht gerade ratsam ist, schnellstens zu einer der so gekennzeichneten Notluftkammern schwimmen“ — sie deutete auf eins der Symbole an der Decke —, „und dort auf Rettung warten. Aber der Unfall — oder sollte ich lieber ernsthafte Unannehmlichkeit sagen? — , den Sie unbedingt verhüten müssen, ist die Verschmutzung des Wassers durch die Exkremente der Patienten. Das Filtern oder Austauschen des Wassers ist nämlich auf einer Station von dieser Größe ein äußerst umfangreiches Wartungsverfahren, das unsere Arbeit behindern und im ganzen Hospital zu abfälligem Gerede über uns führen würde.“

„Ich verstehe“, sagte Cha Thrat. Gleichzeitig fragte sie sich, warum sie bloß an dieses gräßliche Hospital gekommen war, und ob sie vor sich selbst ein sofortiges Ausscheiden aus dem Dienst rechtfertigen könnte. Trotz der Warnungen von O'Mara und Cresk-Sar, daß sie auf der untersten Stufe anfangen werde, war das hier keine Arbeit für eine sommaradvanische Chirurgin für Krieger. Falls auch nur ein einziges Wort über das, was sie hier zu tun hatte, zu ihren früheren Kollegen durchsickern würde, wäre sie fortan zu einem Leben als Einsiedlerin verdammt. Allerdings schienen diese Aliens kaum vorzuhaben, den Sommaradvanern etwas davon zu erzählen, weil derartige Tätigkeiten für sie so alltäglich waren, daß sie ihnen nicht einmal der Rede wert schienen. Vielleicht würde man sie für ungeeignet oder untauglich befinden und aus dem Hospital entlassen, so daß diese erniedrigende und unerfreuliche Episode ihres Lebens geheim und ihre Ehre unangetastet bliebe. Jedenfalls dachte sie schon mit Schrecken daran, was wohl als nächstes kommen würde.

Doch es war nicht halb so schlimm, wie sie erwartet hatte.

„Normalerweise wissen die Patienten schon im voraus, wann sie defäkieren müssen, und werden rechtzeitig die Schwester rufen“, fuhr Hredlichli fort. „Sollten sie zu diesem Zweck gerufen werden, befindet sich das benötigte Gerät in der Kammer, deren Tür so markiert ist.“ In ihrem Schutzanzug erschien ein farnwedelförmiger Arm, der erst auf ein besonders gekennzeichnetes Feld an der Decke und dann auf das ferne, hell beleuchtete Gegenstück deutete, das durch die grüne Dämmerung der Station hindurchschimmerte. „Aber Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, die Patienten wissen alles über die Bedienung des Geräts und werden sich lieber selbst helfen. Die meisten benutzen das Gerät jedoch nicht gerne, und Sie werden feststellen, daß sich die Chalder schnell

schämen. Deshalb zieht es jeder, der nicht ruhiggestellt ist, vor, den mit diesem Symbol gekennzeichneten Raum zu benutzen. Dabei handelt es sich um eine lange, schmale Kammer, die gerade groß genug für einen Chalder ist und vom Benutzer selbst bedient wird. Die Filtrierung und Befreiung des Wassers von den Exkrementen funktioniert automatisch, und falls irgend etwas schiefgeht, ist das ein Problem des Wartungspersonals.“

Hredlichli hob erneut die Gliedmaße hoch und deutete auf die nur schwer zu erkennenden Umrisse am anderen Ende der Station. „Falls Sie bei einem Patienten Hilfe brauchen, wenden Sie sich an Schwester Towan. Sie verbringt einen Großteil ihrer Zeit bei einem schwerkranken Patienten, lenken Sie sie also nicht unnötig von der Arbeit ab. Ich werde Sie heute noch über den optimalen Puls, Blutdruck und die Körpertemperatur der Chalder informieren und wie und wo man sie mißt. Diese Werte werden in regelmäßigen Zeitabständen ermittelt und aufgezeichnet, wobei die Dauer der Intervalle vom Zustand des jeweiligen Patienten abhängt. Außerdem wird man Ihnen zeigen, wie Operationswunden sterilisiert und verbunden werden müssen — was bei einem Wasseratmer übrigens keine einfache Aufgabe ist —, und in ein paar Tagen werden Sie das dann selbständig machen dürfen. Aber erst einmal müssen Sie Ihre Patienten überhaupt kennenlernen.“

Die Gliedmaße deutete auf eine türlose Öffnung zur Hauptstation. Alle zwölf Glieder Cha Thrats schienen von einer plötzlichen Lähmung befallen zu sein, und sie bemühte sich verzweifelt, jede Bewegung durch Fragen hinauszuzögern.

„Zu welcher Spezies gehört denn Schwester Towan?“ erkundigte sie sich.

„Die ist eine AMSL“, antwortete die Oberschwester. „Ein für das Orbit Hospital qualifizierter creppelianischer Oktopode, Sie brauchen sich also überhaupt keine Sorgen zu machen. Die Patienten wissen, daß uns eine Schwesternschülerin von einer neuen Spezies zugeteilt worden ist, und erwarten Sie schon. Da Ihr Körperbau für das Medium Wasser wie geschaffen ist, schlage ich vor, daß Sie einfach hineinschwimmen und mit der Arbeit beginnen, indem Sie sich selbst beibringen, wie man sich auf der Station bewegen muß.“

„Entschuldigung, aber. aber eine weitere Frage hätte ich noch“, stammelte Cha Thrat verzweifelt. „Die AMSL ist eine Wasseratmerin. Warum sind denn hier nicht alle medizinischen Kräfte Wasserarmer? Wäre es nicht viel einfacher, wenn sich das Personal ausschließlich aus Chaldern zusammensetzen würde, weil die Patienten es dann mit derselben Spezies zu tun hätten?“

„Sie sind noch nicht einmal einem Patienten begegnet und versuchen schon, die Station umzuorganisieren!“ wies Hredlichli sie zurecht, holte von irgendwoher eine zweite Gliedmaße hervor und fuchtelte mit beiden herum. „Es gibt zwei Gründe, warum wir es nicht so machen, wie Sie vorschlagen. Der eine ist, daß sehr große Patienten äußerst wirkungsvoll von kleinen Ärzten behandelt werden können, und das Orbit Hospital ist genau aus dieser Absicht heraus errichtet worden. Der zweite Grund ist architektonischer Natur. Der Platz für die Unterbringung und Erholung des Personals steht hier hoch im Kurs, und können Sie sich vorstellen, wieviel Raum die Lebenserhaltungsbedürfnisse einer festen Ärzte- und Schwesternbelegschaft von, sagen wir mal, einhundert wasseratmenden Chaldern beanspruchen würden?

Aber genug davon“, beendete die Oberschwester ungeduldig ihre Ausführungen. „Schwimmen Sie jetzt auf die Station, und verhalten Sie sich einfach so, als wüßten Sie, was Sie tun. Wir unterhalten uns später. Wenn ich nicht auf der Stelle zum Mittagessen gehe, wird man mich noch wegen Unterernährung tot auf dem Korridor auffinden.“

Cha Thrat schien eine sehr lange Zeit zu vergehen, bevor sie fähig war, sich in die grüne Unendlichkeit der Station zu wagen, und auch dann schwamm sie nur bis zu einem Pfeiler, der weniger als fünf Körperlängen vom Eingang entfernt war. Die harten, eckigen Konturen des Metalls waren, wie Cha Thrat beim Schwimmen um den Pfeiler herum feststellte, durch unregelmäßige Farbflecke und das Anbringen künstlichen Blattwerks optisch weicher gemacht worden, zweifellos, damit das Ambiente der Vegetation auf dem Heimatplaneten ähnelte.

Hredlichli hatte recht gehabt; auf die Bewegung im Wasser konnte sich Cha Thrat wirklich schnell einstellen. Als sie mit den Füßen ausschlug und gleichzeitig die vier mittleren Arme nach unten drückte, schnellte sie vorwärts und trieb noch um drei Körperlängen weiter. Hielt sie einen oder zwei der mittleren Arme ruhig und winkelte die Hände an, war eine ziemlich genaue Richtungs- und Lagesteuerung möglich. Bisher war sie nie imstande gewesen, länger als ein paar kurze Augenblicke unter Wasser zu bleiben, und allmählich genoß sie das Gefühl. Sie umkreiste weiterhin den Pfeiler, wobei sie ihn über die gesamte Länge von oben nach unten abschwamm und die künstlichen Pflanzen noch genauer untersuchte. An ihnen befanden sich Trauben, die Unterwasserfrüchte hätten sein können, bei Cha Thrats Näherkommen jedoch in vielfarbigem Licht erstrahlten und sich dadurch als Teil der Beleuchtungsanlage der Station entpuppten. Leider waren diese Entdeckerfreuden nur von kurzer Dauer.

Einer der langen, dunkelgrünen Schatten, die entlang des Bodens der Station die ganze Zeit reglos dagelegen hatten, hatte sich aus dem Pulk gelöst und schnellte lautlos auf sie zu. Er wurde langsamer, nahm eine entsetzliche, riesengroße dreidimensionale Form an und begann, Cha Thrat gemächlich zu umkreisen, so, wie sie es kurz zuvor noch mit dem Pfeiler getan hatte.

Das Wesen sah wie ein gewaltiger, gepanzerter Fisch mit einem kräftigen, messerscharfen Schwanz aus, der eine scheinbar planlose Anordnung von kurzen Flossen und einen breiten Ring streifenförmiger Tentakel besaß, die aus den wenigen Öffnungen seines organischen Panzers hervorragten. Beim Vorwärtsschwimmen lagen die Tentakel flach an den Körperseiten an, aber sie waren so lang, daß sie über die dicke, stumpfe Keilform des Kopfes hinausreichten. Ein kleines, lidloses Auge beobachtete Cha Thrat, während das Wesen sie in immer engeren Kreisen umschwamm.

Plötzlich teilte sich der Kopf und entblößte ein riesiges, rosafarbenes Maul mit etlichen Reihen großer, weißer Zähne. Das Wesen trieb immer näher an Cha Thrat heran, so daß sie sogar das regelmäßige Trüben des Wassers rings um die Kiemen sehen konnte. Dann öffnete sich das Maul noch weiter.

„Hallo, Schwester“, begrüßte sie der Alien schüchtern.

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