17. Kapitel

Mit Hilfe der Ausdrucke der von den Sensoren der Rhabwar übermittelten Daten, die Aufschluß über den Aufbau des Schiffs und insbesondere über die Größe und Lage der Hohlräume gaben, begann Cha Thrat mit einer raschen und systematischen Durchsuchung des fremden Schiffs. Dabei ließ sie nur das Kommandodeck, die Schlafsäle mit den Aliens und bestimmte Bereiche in der Nähe des Schiffsreaktors außer acht, da diese dem Lageplan der Sensordaten zufolge weder von FGHJ-Lebensform noch von irgendeiner anderen Spezies betreten werden konnten, die nicht zu den Strahlungsverwertern gehörte. Sie achtete sehr sorgfältig darauf, sämtliche Hohl- und Innenräume mit Schallsensoren und dem schweren Scanner zu überprüfen, bevor sie irgendeine Tür oder Klappe öffnete. Zwar empfand sie keine Angst, aber es gab Momente, in denen ihr wie kleine, eiskalte Füße Schauer über den ganzen Rücken liefen.

Das geschah normalerweise immer dann, wenn ihr zu Bewußtsein kam, daß sie ein fremdes Raumschiff nach Überlebenden einer Spezies durchsuchte, deren Vorhandensein sie sich noch vor kurzer Zeit nicht hätte vorstellen können — und das auf Anweisung anderer unvorstellbarer Wesen aus einem Krankenhaus, dessen Größe, Komplexität und Insassen ihr wie die Realität gewordenen Ausgeburten eines gestörten Geistes vorkamen. Doch war das Undenkbare und Unvorstellbare für sie mittlerweile nicht nur denkbar, sondern auch akzeptabel geworden, und das alles nur, weil eine äußerst unzufriedene und relativ unbeliebte Chirurgin für Krieger auf Sommaradva eine Gliedmaße und somit ihren fachlichen Ruf aufs Spiel gesetzt hatte, um den verletzten außerplanetarischen Herrscher eines Schiffs zu behandeln.

Bei dem Gedanken, was ihr die Zukunft gebracht hätte, wenn sie diese Risiko nicht eingegangen wäre, bekam sie erneut eine Gänsehaut, dieses Mal wirklich aus Angst.

Obwohl die erste Durchsuchung rasch und nur oberflächlich vonstatten gehen sollte, dauerte diese viel länger, als sie es erwartet hatte. Als sie ihren Rundgang endlich beendet hatte, war der Bordtunnel der Rhabwar bereits angebracht worden, und ihre beiden leeren Mägen knurrten mittlerweile so laut, daß Cha Thrat sie sowohl spüren als auch hören konnte.

Prilicla wies sie an, sie solle diese Symptome noch vor ihrer Berichterstattung sofort beheben.

Als Cha Thrat auf dem Unfalldeck eintraf, waren Prilicla, Murchison und Danalta mit der Leiche beschäftigt, während ihnen Naydrad und Khone, die ihren behaarten Körper gegen die durchsichtige Trennwand drückte, mit solch brennendem Interesse zusahen, daß lediglich der Cinrussker die Ankunft der Sommaradvanerin bemerkt hatte.

„Was ist los, meine Freundin?“ fragte der Empath. „Irgend etwas auf dem Schiff hat sie beunruhigt, das habe ich sogar noch hier gespürt.“

„Das hier“, entgegnete sie und hielt eine der Fußfesseln hoch, die Murchison der Leiche vor dem Transport zur Rhabwar abgenommen und liegengelassen hatte. „Die Kette ist nicht mit einem Schloß oder ähnlichem an der Beinmanschette befestigt, sondern nur mit einem einfachen Sprungfederbolzen, der leicht ausgeklinkt werden kann, wenn man genau hier drauf drückt.“

Sie zeigte es kurz und fuhr dann fort: „Als ich den Kommandodeckbereich abgesucht habe, habe ich einen Blick auf das an die Liege gekettete Besatzungsmitglied geworfen, ohne selbst gesehen zu werden, und festgestellt, daß die Ketten an seinen vier Beinmanschetten mit den gleichen Schnappverschlüssen befestigt sind. Der Alien und auch die Leiche hier hätten sich einfach durch das Öffnen der Verschlüsse, die für die Hände bequem erreichbar sind, befreien können. Der tote FGHJ hätte die Ketten nicht aufsprengen müssen, und das muß auch der an die Steuerungsliege gekettete Alien nicht, der sich trotzdem weiterhin heftig gegen die Fesseln sträubt, die er sich so leicht abnehmen könnte. Das alles ist äußerst rätselhaft, trotzdem glaube ich, daß wir die Theorie, diese Aliens seien angekettete Gefangene, vergessen können.“

Während sie ihre Ausführungen fortsetzte, sahen sie die anderen alle aufmerksam an. „Aber wovon sind sie befallen? Was versetzt ein Besatzungsmitglied, das normalerweise ein verantwortungsbewußtes und umfassend ausgebildetes Individuum ist und als solches befähigt ist, ein Raumschiff zu bedienen, in einen derartigen Zustand, daß es nicht einmal die Gurte seiner Liege öffnen kann? Was hat den übrigen Besatzungsmitgliedern die Fähigkeit geraubt, die Türen der eigenen Schlafsäle zu öffnen oder sich selbst mit Nahrung zu versorgen? Warum ist ihr Verhalten auf das Niveau unvernünftiger Tiere herabgesunken? Könnten dafür Nahrungsmittel oder das Fehlen bestimmter Nahrungsmittel verantwortlich sein? Und bevor ich mich von Ihnen getrennt habe und Sie auf die Rhabwar zurückgekehrt sind, hatte der Chefarzt angedeutet, daß die Gehirnzellen womöglich von einem fremden Organismus befallen worden sind. Vielleicht ist ja ein.“

„Wenn Sie mal kurz aufhören würden, ständig Fragen zu stellen, hätte ich auch die Chance, wenigstens ein paar davon zu beantworten“, unterbrach Murchison verärgert Cha Thrats Redeschwall. „Nein, Nahrung ist reichlich vorhanden, und in den Lebensmitteln ist nichts enthalten, was für die Aliens giftig wäre. Ich habe verschiedene auf dem Schiff transportierte Nährstoffe analysiert und identifiziert, deshalb können Sie den Aliens etwas zu essen geben, sobald Sie wieder auf deren Schiff zurückkehren. Was die Gehirnzellen betrifft, gibt es keine Anzeichen für Schädigungen, und ich habe auch keine Hinweise auf eine Beeinträchtigung des Blutkreislaufs, eine Infektion oder irgendeine pathologische Anomalie gefunden.

Ich bin bei der Leiche auf geringe Mengen einer komplexen chemischen Verbindung gestoßen, die im Metabolismus dieser Lebensform wie ein starkes Beruhigungsmittel wirken müßte. Die im Körper nachweisbaren Rückstände lassen darauf schließen, daß vor möglicherweise drei oder vier Tagen eine starke Dosis eingenommen worden ist, deren Wirkung inzwischen nachgelassen hat. Eine große Menge dieses Beruhigungsmittels fand sich in den Beuteln am Harnisch der Leiche. Anscheinend haben die Aliens also das Beruhigungsmittel eingenommen und sich dann selbst an die Steuerungsliege gefesselt beziehungsweise in die Schlafsäle eingesperrt.“

Es trat eine langes Schweigen ein, das erst von Khone unterbrochen wurde, die ihren Sohn hochhielt, damit das dürre kleine Geschöpf all die seltsamen Wesen auf der anderen Seite der durchsichtigen Trennwand sehen konnte. Cha Thrat fragte sich, ob die Gogleskanerin auf diese Weise versuchte, die geistig-seelische Ausrichtung des Jungen schon jetzt, im zarten Alter von zwei Tagen, abzuschwächen.

„Hoffentlich wird durch diese Unterbrechung der Patientin nicht die kostbare Zeit der über mehr Intelligenz und Erfahrung verfügenden Ärzte vergeudet“, sagte sie in unpersönlichen Worten, „aber auf Goglesk ist allgemein anerkannt, daß sich ansonsten vernünftige und zivilisierte Lebewesen unter bestimmten Umständen und gegen ihren eigenen Willen wie bösartige, zerstörerische Tiere verhalten. Vielleicht haben die Aliens auf dem fremden Schiff ein ähnliches Problem und müssen zur Unterdrückung ihrer animalischen Natur wiederholt starke Dosen Medikamente nehmen, damit sie ein zivilisiertes Leben führen, Fortschritte erzielen und Raumschiffe bauen können.

Womöglich hungern sie nicht nach Essen, sondern nach ihrer Zivilisierungsarznei“, schloß Khone.

„Ein hübscher Einfall“, lobte Murchison sie herzlich und fuhr dann im unpersönlichen Ton der Gogleskanerin fort: „Der originellen Denkweise der Ärztin gebührt Bewunderung, aber leider würde das besagte Medikament keineswegs das Bewußtsein und die Denkfähigkeit schärfen, sondern im Gegenteil so weit schwächen, daß die Aliens bei einer ständigen Einnahme ihr gesamtes Leben in einem halbbewußten Dämmerzustand verbringen müßten.“

„Vielleicht ist dieser Dämmerzustand angenehm und erwünscht“, gab Cha Thrat zu bedenken. „Ich schäme mich, das zuzugeben, aber auf Sommaradva gibt es Leute, die ihr Gehirn absichtlich mit Substanzen benebeln und oft schädigen, nur weil sie dem Konsumenten ein vorübergehendes Vergnügen bereiten.“

„Diese Unsitte ist auf vielen Planeten der Föderation verbreitet“, merkte Naydrad verärgert an.

„Wird gewohnheitsmäßigen Konsumenten diese schädliche Substanz plötzlich entzogen“, fuhr Cha Thrat fort, „werden sie unvernünftig, gewalttätig und in vieler Hinsicht den FGHJs auf dem fremden Schiff ähnlich.“

Murchison schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, dem muß ich abermals widersprechen. Ich kann mir zwar nicht absolut sicher sein, weil wir es hier mit dem Metabolismus einer völlig neuen Lebensform zu tun haben, aber ich würde sagen, die im Gehirn des Toten gefundenen Rückstände gehören zu einem simplen Beruhigungsmittel, das das Bewußtsein eher schwächt als steigert und nicht süchtig macht. Wäre das nicht so gewesen, hätte ich vorgeschlagen, es als Betäubungsmittel einzusetzen.

Und bevor Sie Fragen stellen“, fuhr die Pathologin rasch fort, „mit dem Betäubungsmittel mache ich nur langsame Fortschritte. Ich bin jetzt so weit, wie ich mit den durch die Untersuchung des Leichnams gewonnenen physiologischen Erkenntnissen kommen konnte, aber um ein Narkotikum herzustellen, das in hoher Dosierung ungefährlich ist, brauche ich noch Proben vom Blut und den Drüsensekreten eines lebenden FGHJ.“

Cha Thrat schwieg einen Augenblick lang und drehte sich dann ein Stück, um auch Prilicla einzubeziehen. „Bei meiner bisherigen Suche konnte ich noch keine Spur eines verletzten oder bewußtlosen Überlebenden finden“, berichtete sie, „aber ich werde noch einmal gründlicher nachsehen wenn die benötigten Proben gesammelt sind. Ist der Alien noch am Leben? Können Sie mir einen Hinweis auf seinen ungefähren Aufenthaltsort geben?“

„Ich kann ihn zwar immer noch spüren, meine Freundin“, antwortete Prilicla, „aber die sehr viel brutaleren bewußten Gefühle der übrigen Aliens überlagern seine emotionale Ausstrahlung.“

„Je eher also Pathologin Murchison die Proben hat, desto schneller verfügen wir über das Betäubungsmittel, um so die Überlagerungen der emotionalen Ausstrahlung ausschalten zu können“, folgerte Cha Thrat eifrig. „Die Finger meiner mittleren Gliedmaßen sind kräftig genug, um die Arme des FGHJ auf der Liege festzuhalten, während ich mit den oberen Gliedern die Proben sammle. Aus welchen Adern und Organen und in welchen Mengen soll ich sie entnehmen?“

Murchison lachte plötzlich und erwiderte: „Bitte, Cha Thrat, lassen Sie das medizinische Team auch noch etwas tun, damit es eine Rechtfertigung für seine Existenz hat. Sie werden den Alien auf der Liege gut festhalten, Doktor Danalta wird ihn mit dem Scanner abtasten, und ich entnehme die Proben, während.“

„Hier Kommandodeck“, fiel ihr Fletchers Stimme aus dem Wandlautsprecher ins Wort. „Sprung in fünf Sekunden von. jetzt an. Die zusätzliche Masse des fremden Schiffs wird unsere Rückkehr ein wenig verzögern. Nach unserer Schätzung erreichen wir die Warteschleife ums Orbit Hospital in etwas weniger als vier Tagen.“

„Danke, Freund Fletcher“, bestätigte Prilicla.

Auf einmal hatten sie alle diese vertraute, aber unbeschreibliche Empfindung von etwas, das man zwar nicht sehen, hören oder spüren konnte, das aber unbestreitbar vorhanden war und den Wechsel vom materiellen Universum in die kleine, substanzlose und rein mathematische Struktur anzeigte, die die Hyperraumantriebsgeneratoren des Schiffs rings um sie erzeugt hatten. Cha Thrat zwang sich zu einem Blick aus dem Sichtfenster des Unfalldecks. Die Traktor- und Pressorstrahlen, von denen die beiden Schiffe starr zusammengehalten wurden, waren unsichtbar, so daß sie nur den geradezu lachhaft dünnen Bordtunnel zwischen den Schiffen und, auf dem Boden der von den beiden Rümpfen gebildeten Schlucht aus Metall, das pulsierende, flimmernde Grau erblickte, das ihr durch die Augen hindurch ins Gehirn zu fahren und dort für heillose Verwirrung zu sorgen schien.

Bevor sie sich durch den Blick in den Hyperraum die Augen überanstrengte und davon Kopfschmerzen bekam, wandte sie die Aufmerksamkeit lieber wieder der stofflichen und vertrauten, wenn auch vorübergehend unwirklichen Welt des Unfalldecks zu.

Cha Thrat konnte nur noch ein paar wenige Worte mit Khone wechseln, bevor sie Murchison, Danalta und Naydrad in den Bordtunnel folgen mußte. Die Oberschwester half ihr beim Tragen von Paketen mit der Substanz, die Murchison als Nahrungsmittel identifiziert hatte. Diese Substanz brauchte Cha Thrat nur mit den in riesigen Mengen vorhandenen Vorräten auf dem fremden Schiff zu vergleichen, um sämtliche lebende Besatzungsmitglieder mit Nahrung zu versorgen, bis sie aus allen Nähten platzten.

Das letzte, was sie für lange Zeit vom Unfalldeck sah, obwohl sie das in diesem Moment noch nicht wußte, war Chefarzt Prilicla, der über den weit verteilten Überresten der Leiche schwebte und zwischen seine leisen Worte an Khone unübersetzbare Schnalz- und Trillerlaute an den jungen Gogleskaner einstreute.

„Wenn wir die Zeit haben“, wandte sich Cha Thrat an die Pathologin, als sie mit Naydrad rings um die Steuerungsliege standen, in dem der noch immer aufgebrachte und schwach zappelnde FGHJ lag, „könnten wir dem Alien vor der Entnahme der Proben zu essen geben. Dadurch wird der Patient vielleicht zufriedener und zugänglicher.“

„Wir haben die Zeit dafür“, antwortete Murchison und fügte hinzu: „Es gibt Momente, Cha Thrat, in denen Sie mich an jemanden erinnern.“

„Kennen wir wirklich jemanden, der so seltsam ist?“ warf Naydrad in ihrer direkten kelgianischen Art ein.

Die Pathologin lachte, erwiderte aber nichts, und auch Cha Thrat schwieg. Ohne sich dessen bewußt zu sein, war Murchison in einen sensiblen und möglicherweise äußerst peinlichen Bereich vorgestoßen. Falls sie überhaupt jemals erfahren sollte, was mit dem Gehirn der Sommaradvanerin auf Goglesk geschehen war, dann von ihrem Lebensgefährten Conway und nicht von Cha Thrat selbst — darauf hatte Prilicla mit allem Nachdruck bestanden.

Die Formen der Behälter mit den Nahrungsmitteln der FGHJs waren erstaunlich wenig abwechslungsreich: Es gab lediglich zwei verschieden geformte Plastikflaschen, eine mit Wasser und die zweite mit einem schwach riechenden Nahrungskonzentrat, sowie einheitliche Blöcke aus einer trockenen, weichen Substanz, die in eine dünne Plastikfolie mit einem großen Ring zum Aufreißen verpackt war. Laut Murchison waren die flüssigen und festen Lebensmittel zwar synthetisch hergestellt worden, vom Nährstoffgehalt jedoch auf den Stoffwechselbedarf der FGHJs optimal zugeschnitten, und die in geringen Mengen zugesetzten Substanzen, die keinen Nährwert hatten, dienten wahrscheinlich zur Anregung der Geschmacksknospen.

Doch als Cha Thrat dem Alien einen dieser Blöcke zuwarf, riß der FGHJ daran mit den Zähnen, ohne seine Mahlzeit vorher aus der Plastikfolie auszupacken. Genausowenig Beachtung schenkte er den Sprungdeckeln, mit denen die Flaschen verschlossen waren. Er biß einfach mit den Zähnen den Flaschenhals auf und saugte den Rest der Flüssigkeit heraus, den er sich in seiner ungestümen Art vorher nicht über die Brust gegossen hatte.

Ein paar Minuten darauf stieß die Pathologin einen unübersetzbaren Laut aus und sagte dann: „Seine Tischmanieren lassen sicherlich eine ganze Menge zu wünschen übrig, aber Hunger scheint er jetzt nicht mehr zu haben. Also, fangen wir an!“

Durch die Mahlzeit hatte sich das Verhalten des Aliens nicht merklich geändert, nur daß er jetzt vielleicht noch mehr Kraft besaß, um sich zu wehren. Als Murchison schließlich die Proben entnommen hatte, wiesen Naydrad, Cha Thrat und die Pathologin selbst zahlreiche blaue Flecken auf, und Danalta, dessen Körper nicht verletzt oder verformt werden konnte, es sei denn, man setzte ihn überaus hohen Temperaturen aus, war zu einigen unglaublichen Verwandlungen gezwungen gewesen, um den anderen dabei zu helfen, den Alien ruhigzuhalten. Als die Arbeit vollbracht war, schickte Murchison Naydrad und Danalta mit den Proben voraus, während sie selbst, noch völlig außer Atem, beim Alien blieb und kein Auge von ihm abwandte.

„Das gefällt mir nicht“, sagte sie.

„Mir macht das auch zu schaffen“, pflichtete ihr Cha Thrat bei. „Aber wenn man sich ein Problem oft genug und immer wieder in anderen Worten vor Augen hält, ergibt sich manchmal eine Lösung.“

„Ich nehme an, das hat irgendwann einmal irgendein weiser sommaradvanischer Philosoph gesagt“, entgegnete Murchison trocken. „Entschuldigen Sie, Cha Thrat. Was wollten Sie sagen?“

„Das hat ein terrestrischer Lieutenant namens Timmins gesagt“, korrigierte sie die Pathologin. „Ich wollte eigentlich nur noch mal das Problem zusammenfassen: Wir stehen einer Schiffsbesatzung gegenüber, die anscheinend an einer Krankheit leidet, die sich nicht auf die körperliche Gesundheit auswirkt, dafür aber den Verstand beeinträchtigt. Die Aliens sind nicht nur außerstande, ihr unbeschädigtes und vollkommen funktionstüchtiges Schiff zu fliegen, sondern erinnern sich auch nicht einmal daran, wie die Beinfesseln, Türen oder Essensbehälter zu öffnen sind. Also sind auf das Niveau gesunder Tiere gesunken.“

„Jetzt haben Sie das Problem zwar noch einmal dargestellt, aber in denselben Worten wie zuvor“, hielt ihr Murchison in ruhigem Ton entgegen.

„Die Wohnquartiere sind kahl und trostlos, weshalb wir zuerst geglaubt hatten, das hier sei ein Gefangenenschiff“, fuhr Cha Thrat fort. „Aber womöglich wissen die Besatzungsmitglieder, aus Gründen, die vielleicht psychischer Natur sind und mit Raumflügen zusammenhängen oder mit einer Krankheit, die sie auf Raumreisen befällt, daß für sie körperliche Bequemlichkeit, angenehme Umgebungen und von ihnen geschätzte persönliche Habseligkeiten auf dem Flug vollkommen überflüssig sind, weil sie damit rechnen, zu Tieren zu werden. Normalerweise ist das vielleicht nur ein kurzer, episodenhafter und vorübergehender Zustand, aber diesmal ist irgend etwas schiefgegangen und das Ganze zu einem Dauerzustand geworden.“

„Jetzt haben Sie das Problem wirklich mit anderen Worten formuliert“, stellte Murchison fest, wobei sie merkwürdig rollende und zuckende Bewegungen mit den Schultern und ein Hohlkreuz machte, als liefe ihr das, was Terrestrier wohl „Gänsehaut“ nannten, über den Rücken. „Aber falls Ihnen das irgendwie weiterhilft, unter den Proben, die Naydrad mir zur Analyse gebracht hat, befanden sich sowohl ein Medikament als auch Nahrungsmittel. Bei dem Medikament handelt es sich nur um eine Sorte, nämlich um das Beruhigungsmittel, dessen Rückstände ich in der Leiche gefunden habe, und zwar in Form von Kapseln, die geschluckt werden müssen. Sie könnten also damit recht haben, daß die Aliens den Zustand vorhergesehen und Vorkehrungen getroffen haben, um das Risiko zu verringern, sich in der vernunftlosen Phase selbst zu verletzen. Allerdings ist es schon merkwürdig, daß Naydrad, die nach solchen Dingen immer sehr gründlich sucht, nur diesen einen Arzneityp gefunden hat, aber keine Spur von Untersuchungs—, Diagnose- und Operationsinstrumenten. Selbst wenn diese Aliens vor dem Start von ihrer Erkrankung gewußt haben, sieht es ganz so aus, als würde kein Arzt zur Besatzung gehören.“

„Wenn überhaupt, dann macht diese neue Erkenntnis das Problem nur noch schwieriger“, merkte Cha Thrat an.

Murchison lachte, aber die Blässe ihres normalerweise rosafarbenen Gesichts verriet, daß sie an der Situation nichts komisch fand. „Bei dem Alien, den ich untersucht habe, konnte ich bis auf die versehentlich zugezogene Kopfverletzung, an der er gestorben ist, nichts entdecken, was nicht in Ordnung gewesen wäre, und auch bei den übrigen Besatzungsmitgliedern kann ich keine medizinischen Makel feststellen. Aber irgend etwas muß die höheren Zentren des Verstands zerstört haben, ohne eine Spur zu hinterlassen, und muß dabei sämtliche Erinnerungen, in der Ausbildung erworbene Kenntnisse und Erfahrungen aus ihrem Gehirn gelöscht haben, so daß nichts anderes als die Instinkte und Verhaltensmuster von Tieren übriggeblieben sind.

Was für ein Organismus oder Organ könnte eine derart selektive Zerstörung hervorrufen?“ schloß sie, und ihr schauderte erneut bei diesem Gedanken.

Cha Thrat spürte plötzlich den Drang, die Pathologin in die Mittelgliedmaßen zu nehmen und zu trösten, und wurde von einem Gefühl ergriffen, mit dem kein Sommaradvaner, ob männlich oder weiblich, einen Terrestrier betrachten sollte. Mit Mühe brachte sie ihre Emotionen unter Kontrolle und entgegnete freundlich: „Vielleicht liefert Ihnen das Betäubungsmittel die Antwort. Im Moment haben wir ja nur Patienten, bei denen die Krankheit oder was auch immer ihren Lauf genommen hat. Wenn die Aliens narkotisiert sind und wir den fehlenden Überlebenden gefunden haben, wäre es dann nicht möglich, daß die Krankheit bei diesem FGHJ nicht fortgeschritten ist oder er eine natürliche Widerstandskraft gegen sie besitzt? Indem Sie die Krankheit und den widerstandsfähigen Patienten genau untersuchen, finden Sie vielleicht die richtige Behandlung für alle heraus.“

„Ach ja, das Betäubungsmittel“, sagte Murchison und lächelte. „Ihre taktvolle Art, eine geistesabwesende Pathologin an ihre eigentlichen Pflichten zu erinnern, würde selbst Prilicla alle Ehre machen. Ich vergeude hier nur meine Zeit.“

Sie wandte sich zum Gehen, hielt dann aber inne. Ihr Gesicht war immer noch sehr blaß.

„Was auch immer diese Aliens befallen hat, liegt außerhalb meiner medizinischen Erfahrung und vielleicht auch der des Hospitals“, sagte sie grimmig. „Aber für uns dürfte keine Gefahr bestehen. Wie Sie aus Ihren medizinischen Vorlesungen bereits wissen, können die Krankheitserreger fremder Spezies nur Lebensformen mit der gleichen planetarischen und evolutionären Entwicklungsgeschichte angreifen, haben aber keinen Einfluß auf außerplanetarische Organismen. Doch es gibt Momente, in denen wir uns trotz all unseres gegenteiligen Wissens fragen müssen, ob wir nicht eines Tages auf die Ausnahme stoßen, die die Regel bestätigt, auf eine Krankheit oder medizinische Beschwerden also, die diese Barriere zwischen den Spezies überwinden können.

Die bloße Möglichkeit, daß wir es hier mit dieser Ausnahme zu tun haben, erschreckt mich zu Tode“, fuhr sie in sehr ernstem Ton fort. „Falls diese Krankheit unser bakteriologisches Schreckgespenst sein sollte, müssen wir uns in Erinnerung rufen, daß sie anscheinend keine Auswirkungen auf den Körper hat. Der Ausbruch und die Symptomatologie des Leidens sind wahrscheinlich eher psychischer als physischer Natur. Darüber werde ich mich mal mit Prilicla unterhalten, und bei Ihnen sollten wir auf deutliche Veränderungen in Ihrem Verhalten achten, so, wie Sie selbst Ihre Denkvorgänge auf untypische Gedanken oder Empfindungen hin beobachten müssen.“

Ganz offensichtlich über sich selbst verärgert, schüttelte die Pathologin den Kopf. „Hier kann Ihnen jedenfalls nichts passieren, dessen bin ich mir so sicher, wie ich es nur sein kann. Aber, Cha Thrat, seien Sie bitte trotzdem ganz vorsichtig.“

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