Hoity-toity
Cha de noite
Sea’s still high
An’ sky’s all doity
sangen sie, hielten sich dabei am Bartresen fest und bekämpften die Seekrankheit mit Madeira. Die anderen Passagiere saßen, grün im Gesicht, auf der Bank gegenüber. Jedes lange Rollen der Mormugão endete mit einer ruckartigen Bewegung und einem bedenklichen Rattern aus der Richtung des Maschinenraums. Draußen brüllte der Wind, Gischt flog, und immer tiefer versank das Schiff in den Wellentälern. Drinnen wurde der Madeira in der dunkelbraunen Flasche immer weniger, und immer lauter sangen die ostwärts fahrenden Amerikaner in die schiefen erbsgrünen Gesichter der aufgereiht dasitzenden Passagiere
Sea’s still high
An’ sky’s all doity.
Später fahren wir bei leichtem Seegang, hinter uns ein feuchter Westwind. Der ganze Madeira ist ausgetrunken. Himmel und Meer verschwimmen zu einem endlos weiten Dunstschleier, distelsilbern im verborgenen Mondlicht. In diesem Schleier bläst der feuchtnasige Wind den Frühling ostwärts, der als Regen auf Lissabon, San Vicente und Madrid fällt, in Marseille und Rom an die Fenster trommelt, auf überwucherten Friedhöfen in Stambul das Unkraut antreibt. Hin und wieder bricht der Dunstschleier auf, und ein winziger runder Mond zeigt sich inmitten wirbelnder Wolkenfetzen, die bauchige Klumpen und lange dünne Streifen bilden, hell und zerknittert wie Silberpapier.
Zitternd gräbt sich der Bug in jeden neu daherkommenden Berg. Eine Bö verbirgt den Mond, spritzt mir nervös Regen auf den Kopf und eilt weiter, hinterlässt Streifen von klarem Mondlicht im Osten, wo die Inseln sind. Dann sind wir wieder eingehüllt in distelfarbenem Dunst. Zusammengerollt schlafe ich im V des Bugs ein.
Als ich die Augen öffne, hat sich der Wind gelegt. Nur ein paar Wolkenfetzen treiben in Richtung Osten. Die See liegt hell und quecksilberschwer unter dem stillen Mond. Kein Laut kommt über das Wasser, dafür ein immer stärker werdender Geruch, der mir in einem Schwall orientalisch warmer Luft entgegenschlägt, ein Geruch von Rosen und sonnengetrocknetem Dung, unangenehm wie Stinkkohl, darüber Hyazinthen, die Schärfe von Moschus und die kühle Lieblichkeit von Veilchen. Stunden später sahen wir im Osten, wolkenumhüllt, den dunklen Kegel des Pico[1].
In Ostende legt die Fähre vor einem wuchtigen schwarzen Hotel an. Die Passagiere nach Mitteleuropa und dem Orient treten, nachdem sie die Pass- und Zollkontrolle passiert haben, durch die hohe, tragisch schwarze Tür in einen großen Speisesaal, in dem einige spärliche runde Tische stehen. Sie setzen sich an die Tische, der Klang von Unterhaltungen in mehreren Sprachen dringt bis an die hohe Kassettendecke und hinaus in die Dunkelheit des regengepeitschten Hafens. Rasch wird bestellt und gegessen, gelegentlich ein unruhiger Blick zur Uhr. Sobald die Leute fertig sind, nehmen sie in den verschiedenen Zügen ihre Plätze ein, die sie zuvor mit Gepäckstücken belegt haben. Die Züge sind fast leer, die hohen Hotelfenster mit dunkelgrauen Läden sind verschlossen, die weiten Flächen des Hafens sind leer. Ein Schaffner mit goldener Litze an der Mütze geht auf dem Bahnsteig auf und ab und streicht sich bisweilen über seinen rostfarbenen Schnurrbart.
Am anderen Ende des Bahnsteigs, neben einem Automaten, ist ein Thermometer, laut roter Aufschrift von einem Monsieur Guépratte konstruiert, das die Kälte in Celsius, Fahrenheit und Réaumur anzeigt und außerdem kleine informative Hinweise liefert, wie etwa den, dass 60° die durchschnittliche Temperatur in Pondichéry ist, 35° die angenehmste für ein gewöhnliches Bad, Seidenraupen sich bei 25° am wohlsten fühlen und auch Krankenzimmer.
Es ist noch nicht Abfahrtszeit. Der amerikanische Orientreisende geht zurück durch das Schicksalsportal in das leere Restaurant, wo in arktischer Stille ein Kellner verloren an einem Tisch steht und wie ein Pinguin von einem Bein auf das andere tritt. Dort setzt er sich hin, bestellt einen Cognac-Soda und sagt sich mit leidenschaftlicher Melancholie, dass 60° die Durchschnittstemperatur in Pondichéry ist. Wenn es in Pondichéry sechzig Grad im Schatten sind, wie kalt muss es dann sein, damit in Nischni Nowgorod Wodka gefriert? Michel Strogoff[2], sag es mir.En voiture, messieurs, mesdames ... Der amerikanische Orientreisende springt auf, wirft Geld für seinen Cognac auf den Tisch, läuft durch die hohe Tür hinaus auf den nassen Bahnsteig, klettert in den Zug, der sich langsam in Bewegung gesetzt hat.
Abendessen allein neben einem rosagelben Lampenschirm (categoria de lusso), draußen vor dem Fenster die kolorierte Ansichtskarte von San Giorgio Maggiore. Venedig, das Coney Island aller Coney Islands, das Midway der Geschichte, protzige Kulisse für gaffende Touristen, und überall der Geruch von Gezeitenwasser, verrottenden Pfählen, Tümpeln, ein kräftiger Körpergeruch unter dem Lippenstift und dem Parfüm und dem Puder, ein Geruch, traurig amourös wie Kastanienblüten, wie Datura, wie welke Kohlköpfe. Frauen, die auf dem Kai vorbeigehen, tragen das Haar hochgesteckt wie die Prostituierten auf den Bildern von Carpaccio und lange schwarze Seidenschals, deren Fransen noch länger sind als die der Schals der Sevillanerinnen. Ihre Haut ist von frischer gelber Farbe, sie haben ebenmäßige elfenbeinfarbene Nasen. Ein gelegentlich aufflackernder Blitz hinter der Kuppel und dem spitzen Turm von San Giorgio verrät, dass alles bloß inszeniert ist, das Wasser ein genialer Effekt, die Leute auf dem Kai ein Opernchor, ergänzt um ein paar Statisten, der Mond ein kleiner Scheinwerfer.
Ich laufe rasch aus dem Restaurant, um das Schauspiel nicht zu verpassen, eile unter Bäumen entlang, über bucklige Brücken, durch Gassen, sehe durch Kneipentüren Menschen an langen geölten Tischen sitzen und trinken. Rothaarige Mädchen hinter dem Tresen, betrunkene Männer, die vor einem Bordell am Wasser Gitarre spielen, der durchdringende Geruch von Wein und Knoblauch. Überall Gondeln mit singenden Spaghettitenören. Auf der Piazza spielt eine Kapelle Wilhelm Tell, so gut es eben geht, auf dem Canal Grande Santa Lucia, emporgetragen von einem Sopran über dem Gebrumm von fetten Bässen. Der Elektriker hat den Mond ausgeknipst. In dem sternübersäten schwarzen Diorama kann ich den Großen und Kleinen Bären erkennen. Das Glucksen in den Kanälen wäre so prachtvoll imitiert wie die Nilszene in Aida, wenn der unerträgliche Geruch des Wassers nicht wäre, der glitschige Stufen hinaufkriecht, der Geruch von Fauligkeit und vollgelaufenen Kähnen, den kühlen Händen der Adria, die einem an die Gurgel will.
Das Florian; Kellner mit breiter Hemdbrust, eiskrembunte Sonnenschirme, Frauen in leichten Sommerkleidern, weiße Stoffe, unter einem grauen Himmel, den jemand ganz oben auf dem Campanile plötzlich mit flatternden grünen, rosa, gelben Papieren gefüllt hat, die schließlich neben den Tischen landen, Reklame für Lulli’s Toilettenartikel. Junge Männer stolzieren zu viert oder fünft durch die Menge, singen Giovanezza, giovanezza. Irgendwo hinter den prächtigen Fassaden, in verborgenen Gassen, um die Touristen nicht zu verschrecken, werden Kämpfe ausgetragen. Etwas liegt in der Luft, weshalb man sich unwohl fühlt inmitten des Geplappers im Florian. An jeder Mauer stehen die Lettern VV LENIN oder M LENIN. Im schwindenden Licht eines gelben Sonnenuntergangs schlendere ich ziellos über das marmorne Pflaster. Ein Boot mit ockerfarbenem Segel, das in der Mitte einen großen dunkelroten Flicken hat, gleitet langsam auf dem narzissengelben Wasser dahin, ein schwarzer Kahn mit vier Männern, die in mühelosem Gleichklang rudern, entfernt sich in Richtung Lido. Unter einem Bogengang hinter mir schauen ein paar Leute auf eine Parole, dicke runde Buchstaben in schwarzer Kreide:
DIESE BANDE MUSS STERBEN
«Ah ja», sagt der schnurrbärtige Herr mit Strohhut zu den anderen. «Das bedeutet: Tod den Socialisti.»
Dreimal täglich im schaukelnden Speisewagen. Erst durch das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, dann durch Bulgarien und ein Eckchen Griechenland. Da ist die Dame aus Wellesley, die für den Atlantic Monthly schreibt; ein eiförmiger Armenier aus New York, der im Kloster San Lazzaro in Venedig zur Schule ging, in Asolo Malerei studiert hat, Priester, Pfarrer und Balkanküche hasst und wehmütig von Tiffany’s und dem alten Martin’s Restaurant auf der Achtundzwanzigsten Straße erzählt; ein zweiter Armenier, dessen Mutter, Vater und drei Schwestern in Trapezunt vor seinen Augen von den Türken in kleine Stücke zerhackt wurden; außerdem ein großgewachsener stahlgrauer Standard-Oil-Mann, sehr groß mit einem kleinen Bäuchlein von der Form eines halben Fußballs. Er sagt, er kann Leute auf den ersten Blick beurteilen, und den ganzen Tag sitzt er da und schreibt für seine Lieblingsnichte Knittelverse über seine Reisen. Dann gibt es noch einen Mann mit einer Uhr mit vielen Stempeln, der wie ein Auktionator von der Vierzehnten Straße aussieht, sowie zwei hagere Kolonialengländerinnen. Das alles vor einem immer neuen Hintergrund von blassen Balkanmenschen mit mächtigen Nasen und dunklen Ringen unter den Augen.
Zwischen den Mahlzeiten sitze ich in der Abgeschiedenheit meines kleinen grünen Abteils voller Knöpfe und Stangen aus Nickel und lese Diehl[3], der todlangweilig ist, gelegentlich unterbrochen von Passkontrolleuren, Zollbeamten, Detektiven, Geheimpolizisten oder dem Schaffner, einem älteren Belgier, der wie eine Lokomotive keucht, unendlich erschöpft vom zu vielen Unterwegssein, zu vielen gezählten Telegraphenstangen, zu viel Asche auf grünen Polstersitzen. Bei Zwischenstopps vertrete ich mir mit einem energischen Franzosen auf dem Bahnsteig die Beine, wir rauchen die ortsüblichen Zigaretten; er erzählt kenntnisreich über Bukarest, über die Liebe, über Attentate, Dreiecksgeschichten und Diplomatie. Er weiß alles, und seine Kragen und Manschetten sind stets blütenrein. Sein Lieblingsspruch lautet: Aller dans le luxe ... Il faut toujours aller dans le luxe.
Mit jedem Tag werden die Berge karger und steiniger, der Zug wird immer langsamer, und die Stationsvorsteher haben immer längere Schnauzbärte und immer ungepflegtere Uniformen, bis wir schließlich zwischen einem hellgrünen Meer und gelben sonnenverbrannten Landzungen dahinfahren. Plötzlich sind wir zwischen senffarbenem alten Gemäuer gefangen, das Gleis verläuft zwischen Müllbergen und Zypressen. Der Zug bewegt sich kaum noch, er hält fast unmerklich, als stünde er auf einem Abstellgleis. Sind wir ...? Nein. Doch. Das muss es sein ... Konstantinopel.