Unter meinem Fenster eine staubige, zerfurchte Straße, hier und da ein einzelner Pflasterstein, über den unablässig Fuhrwerke rumpeln und ruckeln, hinauf in Richtung Pera, hinunter zur alten Brücke, den ganzen Tag, von früh bis spät. Dahinter hohe Häuser, noch dichter gedrängt als in New York, auf einem flachen Dach ein barfüßiges Mädchen beim Wäscheaufhängen, und jenseits von roten Kacheln die staubigen Zypressen eines Friedhofs, Schiffsmasten und das Goldene Horn, stahlfarben, Schiffe liegen dort vor Anker. Und vor dem bewölkten Himmel Stambul, Kuppeln, braunschwarze Häuser, helle Minarette, die wie Elfenbeinstifte auf einem Cribbage-Brett überall herumstehen. Weiter oben, wo die Straße einen Bogen um den Friedhof von Petits Champs macht – wieder staubige Zypressen, schiefe Grabsteine mit eingraviertem Turban –, wird Abfall von Karren abgeladen, Asche, Lumpen, Altpapier, Sachen, die in der Sonne glitzern. Und im nächsten Moment kommen Frauen mit Säcken auf dem Rücken herbeigelaufen, einander beiseitedrängend durchstöbern sie den Abfall mit mageren Händen. Krächzende, klagende Stimmen dringen von dort herüber, vermischt mit den Rufen der Gemüsehändler und dem endlos lärmenden Treiben in den engen Gassen.
Da-damm, da-damm, da-damm, eine riesige Trommel und der ergreifende Gesang eines Dudelsacks. Zwei große Männer mit buntem Turban um den Fes kommen mit einem Affen aus einer Gasse. Das dumpfe Klagelied ist der genaue Ausdruck seines teilnahmslosen unregelmäßigen Gangs. Die Straßenhändler halten inne. Die Bettler, die im Schatten einer Mauer hocken, springen hoch. Die Lumpensammlerinnen richten sich auf und schirmen die Augen ab, um gegen die Sonne etwas zu sehen. Befrackte Kellner beugen sich aus den Hotelfenstern. Zwei Männer, die auf einer Art Tisch mit Griffen ein Grammophon mit weiß emailliertem Trichter tragen, nutzen die Gelegenheit, setzen das Ding ab und lassen es eine erstaunliche Melodie spielen wie ein tropfender Wasserhahn. Die Männer mit dem Affen schlagen verächtlich ihre Trommel und entfernen sich.
Im roten Plüschfoyer des Pera Palace herrscht große Aufregung. Ein Mann im Gehrock mit einer schwarzen Pelzmütze auf dem Kopf wird hinausgetragen. Auf dem roten Plüschsessel ist Blut, auf dem Mosaikfußboden ist Blut. Der Hoteldirektor läuft mit schweißbedeckter Stirn hin und her. Den Fußboden kann man sauberwischen, der Sessel ist ruiniert. Französische, griechische und italienische Gendarmen[4] marschieren umher, reden miteinander, jeder in seiner Sprache. «Der arme Kerl ist tot, Sir», sagt der britische Militärpolizist zu dem Oberst, der nicht weiß, ob er seinen Cocktail austrinken soll oder nicht. Aserbeidschan. Aserbeidschan. Er war der aserbeidschanische Gesandte. Ein Armenier, ein Mann mit Bart, stand in der Tür und schoss auf ihn. Ein Mann mit Brille und glattem Kinn, ein bolschewistischer Spion, trat direkt vor ihn hin und schoss. Der Kellner, der die Drinks serviert, ist verzweifelt. Alle sind gegangen, ohne bezahlt zu haben.
Ein Tisch unter einem gestreiften Sonnenschirm am Rand der Terrasse des Restaurants im Taksim Park (Entrée 5 Piastres, libre aux militaires). Eine russische Kapelle spielt eine Dardanella. Auf dem Hang weiter unten ein Zaun aus flachgehämmerten Standard-Oil-Tonnen um eine Lehmhütte, neben der ein Esel grast. Zwei Männer hocken friedlich am Eingangstor und schauen über ein paar protzige Villen, wie Villen in Nizza, und einen Gasometer mit frischgemalten roten Streifen hinaus auf den Bosporus und die asiatischen Höhenzüge. Es ist fast dunkel. Der Bosporus erstrahlt um die grauen Schlachtschiffe, die vor Anker liegen. Zwischen den braunen Hügeln im Vordergrund und den blauen Hügeln in der Ferne steigt eine dicke Rauchsäule auf. Man denkt an brennende Dörfer, aber das ist zu weit nördlich, und in dieser Jahreszeit werden auf dem Land die Hügel abgebrannt, um Banditen auszuräuchern. Das Orchester legt eine kurze Pause ein. Von der gelben Kaserne linker Hand kommt ein Leierkastenlied und eine tremolierende Singstimme.
Dann erhebt sich aus Asien ein riesiger blutroter Mond.
Und sobald Kaviar und Pilaw und Schwertfisch vom Schwarzen Meer gegessen sind, hinuntergespült mit Nectar-Bier aus der hiesigen Brauerei eines unsagbar reichen Herrn namens Bomonti, beginnt auf der Bühne inmitten der Bäume die Show. Internationales Cabaret. Zunächst eine Russin, die die schüchterne Anmut, mit der sie einen Bauerntanz darbietet und dabei ein grünes Taschentuch schwenkt, gewiss an einer renommierten Moskauer Ballettschule gelernt hat. Sodann zwei überaus zähe junge Engländerinnen in Socken und Trägerrock, vielleicht ehemalige Ballettratten der Folies Bergères. Eine von ihnen summt gelangweilt und eigentümlich abgehackt, während sie die Beine hochwerfen und all jene Schritte machen, die seinerzeit, als Königin Victoria ein junges Mädchen war, die Landpfarrer im Gaiety schockierten. Dann erscheinen die griechischen Akrobaten, eine komische Russin, die nur von ihren Landsleuten verstanden wird, eine Französin in Schwarz mit Opernarmen und Konservatoriumsmanier, die mehrmals zu lautem Applaus die Wahnsinnsarie aus Lucia singt, eine jämmerliche Frau in rosa Tüll, die den Moment Musicale mit jener albernen Gestik tanzt, die Tanzlehrerinnen in der amerikanischen Provinz empfehlen, und so weiter und so fort.
Währenddessen schlendern die Leute unter den Robinien umher, man lacht und trinkt, man plaudert und flirtet. Drei Mädchen, Arm in Arm, schießen in einen Seitenpfad, gefolgt von drei italienischen Seeleuten, sonnengebräunten kräftigen Burschen in weißer Uniform. Eine Gruppe griechischer Offiziere ist sehr ausgelassen. Ihre Armee hat Eskischehir erobert. Die Kemalisten sind im Begriff, Izmit zu räumen. Tino ist also doch ein großer König. Ihnen gegenüber zwei ältere Türken in Gehrock und weißer Weste, die seelenruhig an ihren Wasserpfeifen ziehen. Weiter hinten sieben Matrosen an einem runden Tisch, die sich lärmend betrinken. Am Tor steht ein italienischer Gendarm, in kompletter Uniform importiert, von den Knöpfen an den Rockschößen bis hin zu dem glänzenden Dreispitz, und ein britischer Militärpolizist, an dessen Ärmel die Buchstaben A. P. C. (für Allied Police Commission) prangen.
Warum wollen Sie Türkisch lernen?, fragt mich eine junge Griechin mit erstauntem Gesichtsausdruck. Sie müssen zu den Griechen halten, Sie sollten kein Türkisch lernen.
Plötzlich muss ich an die gelben Tische und Stühle unter der großen Platane neben der Bayezid-Moschee drüben in Stambul denken, an die Tauben und die alten Männer mit Bärten so weiß wie ihre weißen Turbane, ernst nickend in endloser Diskussion, und daran, wie der uralte Bettler, gelb wie zerschlissener Damast, knorrig wie ein absterbender Pflaumenbaum, mich um Feuer von meiner Zigarette bat und dann lächelnd auf das Glas Wasser neben meinem Kaffeetässchen zeigte und wie er sich, nachdem ich ihm das Wasser gereicht hatte, tief herunterbeugen musste, um zu trinken, sein Rücken war ganz krumm. Und an die majestätische Geste, mit der er das Glas wieder hinstellte und sich mit einem Gruß seiner knochig gerippten Hand bedankte. Diese Handbewegung erinnerte an ein schlankes Minarett und den Ruf des Muezzins und die gleichmütigen Augen der alten Türken in weißen Westen, die im Jardin de Taksim so ruhig neben den ausgelassenen Griechen saßen. Es gibt Gründe, Türkisch zu lernen.
Und wenn man vom internationalen Cabaret genug gesehen hat, von Russinnen, die ein paar Groschen für das harte Brot des Exils verdienen, von levantinischen Tänzerinnen und gestrandeten europäischen Sängerinnen, dann geht man auf der Grand Rue de Pera nach Hause. Am Straßenrand noch mehr russische Emigranten, Soldaten in abgetragener Uniform, die einst zur Wrangel-Armee[5] gehörten und nun auf kleinen Bauchläden, die sie an einer Schlaufe um den Hals tragen, alles nur Denkbare feilbieten – Papierblumen und Puppen, Schnürsenkel und Hampelmänner und kleine bunte Silhouetten von Moscheen und Zypressen unter Glas und runde und quadratische und rettungsringförmige Plätzchen. Es sind Männer jeden Alters und Standes, die meisten mit weißer nordischer Haut und blondem, kurzgeschorenem Haar, alle mit einem hungrigen Zug um die Wangenknochen und einem verschleierten Schmerz in den Augen. Durch die geöffneten Fenster der Restaurants kann man blasse Mädchen mit straff gebundenem Kopftuch sehen. An den Armen von zwei dicken Armeniern kommen zwei stark geschminkte Damen, beide in rosa volantbesetztem Kleid, zu den Klängen eines mechanischen Klaviers aus einer Gasse.
An einer Laterne steht ein einbeiniger russischer Soldat, große rote Hände vor das Gesicht geschlagen, und schluchzt laut.
Der rote Plüschsalon des Hotels Pera Palace. Der Erzbischof, ein großer Mann in wehendem Schwarz mit einem schönen kastanienbraunen Wuschelbart und stechenden Augen, stößt einen heftigen griechischen Wortschwall aus. Seine Zuhörer sind eine Griechin in elegantem rosa Satinkleid, ein amerikanischer Marineoffizier, ein Journalist und diverse Figuren im Gehrock. Auf der anderen Seite des Raums werden zwei britischen Majoren Highballs mit klingelnden Eiswürfeln serviert. Der Erzbischof hebt eine schmale byzantinische Hand und bestellt Kaffee. Dann wechselt er ins Französische über, ein wenig lispelnd bei seinen langen, ausgewogenen Sätzen, die von den Wörtern horreur, atrocité, œuvre humanitaire, civilisation mondiale beherrscht werden. Die Türken in Samsun, die Kemalisten, die vor einigen Wochen die Männer orthodoxen Glaubens abtransportierten, haben inzwischen bekanntgegeben, dass auch die Frauen und Kinder abtransportiert werden sollen. Drei Tage Frist. Das bedeutet natürlich ... «Massaker», sagt jemand sofort.
Die vollen Lippen des Erzbischofs berühren den Rand seiner winzigen Kaffeetasse. Er trinkt schnell und penibel. Hinter dem roten Plüsch das Bild dunkler Menschenmassen, die sich über eine sonnengedörrte Landschaft schleppen. «Die Frauen sind weinend und klagend durch die Straßen von Samsun gezogen», sagt der Offizier. «Die Nachricht muss verbreitet werden», fährt der Erzbischof fort, «die Welt muss von der Barbarei der Türken erfahren. Amerika muss davon erfahren. Ein Telegramm muss an den Präsidenten der Vereinigten Staaten geschickt werden.» Wieder sieht man hinter roten Plüschsalons und den gedrechselten Formulierungen offizieller Telegramme die nächtlichen Straßen unter dem schrecklichen blutorangeroten Mond Asiens, zusammengedrängte Frauen in Staubwolken, die Kinder, denen der Wind in die dunklen, aufmerksamen Augen sticht, und in der Ferne auf den sonnenverbrannten Anhöhen sind Reiter zu hören.
In einem Sessel am Fenster schaut ein Türke mit ergrauten Brauen und Augen, weich und braun wie der Bart des Erzbischofs, ungerührt ins Weite. Die ovalen bernsteinfarbenen Perlen seiner Gebetskette gleiten durch seine unergründlich langsamen weißen Finger.
Auszüge eines Briefes, veröffentlicht in der Spalte «Tribune Libre» der Presse du Soir, die allabendlich in Pera erscheint, zwei Seiten in französischer und vier in russischer Sprache:
Am achtzehnten Juni wurde mein Mann Bekhboud Djevanchir Khan ermordet.
Ich, die Unterzeichnete, seine Ehefrau, gebürtige Russin, vertraue auf Ihre Freundlichkeit, einige Fakten zu veröffentlichen, die den falschen Gerüchten, welche den Namen meines verstorbenen Mannes beflecken, ein Ende bereiten werden.
Ich bin nie von meinem Mann getrennt gewesen, und Gott hat mich zum Zeugen all der Schrecken der vergangenen Jahre gemacht.
März 1918. Das Wrack der russischen Armee schleppt sich zurück von der türkischen Front. In Baku liegt die Macht in den Händen von Armeniern, die sich auf die Seite der Bolschewisten geschlagen haben. Auf Befehl von unbekannter Seite kommt es zu einem geplanten, organisierten Massaker an der muslimischen Bevölkerung.
Nie werde ich diese schrecklichen Tage vergessen. Mein Mann wurde gesucht. Sein Name stand auf der Liste. Wie durch ein Wunder konnte er entkommen. Wir flohen aus der Stadt und konnten uns unter unvorstellbaren Entbehrungen nach Elisabethpol durchschlagen.
Monate vergingen. Andere kamen an die Macht, und mein Mann wurde zum Innenminister der ersten aserbeidschanischen Regierung ernannt. Türkische Abteilungen rücken auf Baku vor, und noch ehe sie die Stadt erreichen, kommt es zu den blutigen September-Ereignissen. Das war die schreckliche Antwort der Muslime auf das März-Massaker.
Mein Mann begibt sich sofort nach Baku, um diesen Unruhen ein Ende zu bereiten, doch bei seinem Eintreffen hat sich die Woge des nationalen Hasses gelegt. Der nationale Hass ist Klassenhass gewichen. Die Bolschewiki streben nach der Macht, und die Bevölkerung, erschöpft von nationalen und religiösen Konflikten, sieht in den Roten eine neutrale Kraft.
Anfang 1920 sind die Bolschewiki an der Macht, und sie gehen dazu über, mit den Vertretern der nationalen Parteien alte Rechnungen zu begleichen. Wir werden aus unserem Haus gejagt, alles wird uns weggenommen. Mein Mann wird von der Sonderkommission verhaftet und zum Tode verurteilt. Doch angesichts der Verhältnisse in Baku und dank seines großen Einflusses müssen die Sowjets ihn freilassen. Trotz wiederholter Bemühungen wird ihm die Ausreise verweigert, denn sie wissen, dass er Bergbauingenieur und einer der besten Spezialisten in der Erdölbranche ist. Das Schicksal will es, dass ihm ein Posten im Kommissariat für auswärtige Angelegenheiten angeboten wird, was die Chance einer Entsendung ins Ausland bietet.
Mein Mann willigt ein. Und bald darauf reisen wir nach Konstantinopel. Hier erwartete ihn der Tod. Ein Attentäter beendete das Leben meines Mannes, dessen einziges Verbrechen es war, vor allem sein Volk und sein Land zu lieben, dem er sein Studium, seine Arbeit und überhaupt sein ganzes Leben gewidmet hatte.
Zwei Worte noch zu den Gerüchten, dass mein Mann seine Genossen von der «Moussavat»-Partei[6] verraten hat und deswegen zum Tod verurteilt wurde. Für all jene, die den Verstorbenen auch nur flüchtig kannten, sind diese Gerüchte so absurd, dass ich mir die Mühe erspare, ihnen entgegenzutreten. Die glorreiche Erinnerung, die all seine Freunde an den Verstorbenen haben, wird durch solches Gerede nicht beschädigt werden können.
Ich bin, mit ergebenen Grüßen, etc.
Im Innenhof der Bayezid-Moschee werden Bernsteinperlen verkauft, und die Schreiber und öffentlichen Notare haben ihre Tische und Stühle. Wohltäter haben Geld für die Fütterung der Tauben gestiftet, die zwischen den gefleckten Platanen herumfliegen und auf dem Rand des marmornen Waschbeckens sitzen und trinken und den Schnabel aufrichten, so dass bei jedem Schluck ihre Kehle schimmert. Eines grellen Mittags stand ich an einer kühlen Granitsäule und beobachtete einen Beduinen im weißen Burnus, der einem Schreiber einen Brief diktierte mit den Gesten eines Kaisers, der ein Edikt für eine eroberte Stadt formuliert, als ich einen unablässigen Menschenstrom durch das hohe Portal der Moschee gehen sah. In meiner Neugier wagte ich mich etwas näher heran, worauf ein junger Mann, der eine grüne Seidentroddel an seinem bernsteinfarbenen Gebetskranz hin und her schwenkte, mich hereinwinkte. Ein alter Mann schob mir dienstfertig große Pantoffeln über die Schuhe, und dann trat ich über die hohe Schwelle. Der weite, von einem roten Teppich bedeckte Boden unter der Kuppel und die seitlichen Podien waren voller Männer, Bettler und Lastträger und Handwerker mit Lederschürzen und kleine Jungen mit viel zu großem Fes auf dem runden Kopf und stattliche Herren in Gehrock und weißer Weste mit dekorativer Uhrenkette und theologische Studenten mit ordentlich gebundenem weißen Baumwollturban und würdevollem Bart, sie alle saßen dicht gedrängt, die Schuhe neben sich. Ein heller Sonnenstrahl fiel durch die perlschimmernde Kuppel direkt auf das bronzefarbene Gesicht und den Bart des Mullahs, der aus dem Koran las, und tauchte die Seidenbehänge der Kanzel in ein intensiv leuchtendes Magenta. Der Prediger las mit hölzerner Stakkatostimme und mit leichten rhythmischen Bewegungen, und am Ende eines jeden Verses brummte die Menge ein leises Amin.
«Es geht um den Fall von Adrianopel, in jedem Jahr an diesem Tag», flüsterte mir der junge Mann mit der grünen Troddel an seinem Gebetskranz auf Französisch ins Ohr. «Viele dieser Männer kommen aus Adrianopel, sie sind vor den Griechen geflohen ... Sie erinnern sich.»
Der Koranleser stieg nun schwerfällig hinunter, vorbei an dem magentafarbenen Seidenbehang, und ein größerer Mann mit vollen Lippen und dunklen, geröteten Wangen unter hohlen Augen nahm seinen Platz ein.
«Er wird nun für die Armee in Anatolien beten.»
In aufrechter Haltung, den Blick direkt in das Sonnenlicht gerichtet, die Hände in Barthöhe, sprach der neue Mullah ein Gebet voller harter Konsonanten und kühn aufsteigender Satzmelodien. Seine Stimme war wie Pauken und Trompeten. Und in der ganzen Moschee, unter der bläulichen Kuppel schauten die Männer über die Innenfläche ihrer erhobenen Hände auf die magentafarben leuchtende Seide und den Prediger, der in dem gelben Sonnenstrahl betete, und das gemurmelte Amin bei jeder Pause wurde lauter und lauter, wurde heftig und atemlos, bis die Glaslämpchen an den großen flachen Leuchtern über den Turbanen und Fesen klingelten, stieg in die Höhe und erschütterte die riesige Kuppel, so wie die Kuppeln der Kirchen vom Ruf der Heerscharen des Islam erschüttert wurden, als die Stadt Konstantins erobert und der letzte Konstantin in seinen purpurfarbenen Stiefeln getötet wurde.
Am Ausgang erhielt jedermann ein Kärtchen mit einer Darstellung der großen Moschee von Adrianopel und ein Papiertütchen mit Kerzen.
Die runden Blättchen des Basilikumtopfs auf dem Tisch des Cafés verströmen einen zarten Duft. Auf einem von rotem Boi eingerahmten Podium produzieren Musiker, summend und zupfend, endlos auf- und absteigende Arabesken in Moll. Es gibt eine Art Laute, eine Zither, eine Violine und eine Sängerin. In der Mitte steht ein Hocker mit Kaffeetassen und einer Flasche Ouzo. Die Zither spielt ein ergrauter Mann mit Hakennase und Brille, der manchmal den Kopf zurückwirft und mit weit geöffnetem Mund eine gregorianische Melodie jodelt, die die anderen aufgreifen und mühsam in das Klanggewebe einfädeln. An den vollbesetzten Tischen unter der Robinie, wo am Nachmittag Schatten ist, sitzen sie mit Nargilés oder Zigaretten oder deutschen Pfeifen oder amerikanischen Zigarren, trinken Anisschnaps und Bier und Kaffee und sogar Wodka. Es riecht nach Tabak und Holzkohle und Anis von dem Pastis und Ouzo und nach gegrilltem Fleisch von den Schisch-Kebab-Spießen, dazu das Durcheinander vieler verfeindeter Sprachen und die Schritte auf der Straße unterhalb der Terrasse.
Stütze das Kinn auf die Hände und schaue hinunter auf das rissige und staubige Stückchen Gehweg zwischen den nackten Füßen der Jungen, die an der Mauer stehen und Gebäck und Pistazien und fliegenübersäte Bonbons verkaufen, und die Droschken, deren Fahrer, meist Russen in geflickten Uniformen, in den langen Nachmittagsstunden dasitzen und schlafen und plaudern und auf Kundschaft warten ... Jenseits davon Schuhe, Füße, Beine, verschränkte Arme, schwingende Arme, gebeugte Schultern, muskulöse Rücken unter dünner Baumwolle, braune, schweißbedeckte Oberkörper, Schals, schwarze Schleier, Yaschmaks[7], Gesichter. Das ganze Leben spiegelt sich im Gesichtsausdruck. Ein Junge, die Haut von der Farbe eines Tonkrugs, Augen und Lippen eines trunkenen Bacchus, geht lässig vorbei, auf dem Kopf ein Tablett mit geröstetem gelben Mais. Ein Mädchen trippelt wie ein Mäuschen, das gesenkte Gesicht weiß wie eine Fresie hinter dünnem schwarzen Schleier. Ein weißbärtiger Mann in blauem Gewand, die Augen rotgerändert und trüb wie Mondsteine, wird von einem kleinen braunen Knaben geführt. Zwei Hammals, ein jeder stark genug, ein Klavier ganz allein zu tragen, mit ausgeprägt stumpfen Gesichtszügen und dem schwarzen Bart assyrischer Bogenschützen. Drei Russen, blond und breitbrüstig, etwa gleich groß, straffsitzende weiße Leinenbluse unter dem Gürtel, blaue Augen, alles an ihnen wirkt frischgewaschen, das Haar gescheitelt und angeklatscht, wie sonntäglich gekleidete Kinder. Ein dicklicher griechischer Geschäftsmann im Strandanzug. Engländer, krebsrot und steif. Aggressive, kantige Marineoffiziere, die mit larvenartigen Bettelkindern spielen. Bleichgesichtige Levantiner mit schmalen Augen und Hakennasen. Armenier mit missmutigem Mund und großen goldbraunen Augen. In der hellen Sonne und den jähen Schatten verschwimmen die Gesichter der Passanten. Gesichter glatt und gelb wie Melonen, stählern wie Äxte. Gesichter wie Kürbisse, wie Totenköpfe und Halloweenlaternen und Kokosnüsse und sprießende Kartoffeln. In dem brutal gleißenden Licht verschwimmen braune Gesichter unter einem Fes, gelbe Gesichter unter Strohhüten, blasse nordische Gesichter unter Khakimützen zu einem Gesicht, die Brauen mürrisch und zusammengezogen, die Augen leidensschwarz, straffe Haut über den Wangenknochen, hungrige Linien um die Mundwinkel, die Lippen unruhig, neidisch, wütend, sinnlich. Das Gesicht eines Mannes, der noch nicht ganz verhungert ist.
Diese Gesichter sind die Noten, die auf den vibrierenden Saiten dieses Gewirrs enttäuschter Existenzen namens Pera gezupft werden. So viele Fäden führen aus diesem Labyrinth heraus. Wenn man nur zurückgehen könnte in die steil ansteigenden, schmutzigen Straßen, vorbei an den überhängenden schwarzen Holzhäusern, von denen dickbeinige Frauen mit kajalgeschminkten Augen hinabschauen zu den Trägern, die unter ihrer schweren Last die ausgetretenen Stufen hinaufwanken und dermaßen schwitzen, dass ihnen das Rot ihres Fes in Streifen über die hageren und unrasierten Wangen läuft; durch plötzlich platanengesäumte Gassen, die gelegentlich einen Blick freigeben auf unglaublich weites blaues Meer oder erdfarbene Hügelketten zwischen schiefen und fein gearbeiteten türkischen Grabsteinen, die hinausführen zu den weglosen Schutthaufen abgebrannter Orte, zu einer eingestürzten Kuppel mit einem bröckelnden Minarett, zu Ruinen oder verfallenen Zisternen, in denen Gelegenheitsdiebe und Obdachlose hausen; oder hinunter durch die Straßen von Galata mit ihren Obstständen und den Griechinnen, die auffordernd in der Tür stehen, und den Matrosenkneipen, in denen mechanische Klaviere klimpern oder eine Blaskapelle spielt und das Tanzen der engumschlungenen Paare an die Wellenbewegung des Meeres erinnert; oder durch die kühlen Basare von Stambul, wo im Halbdunkel unter dem azurblauen Gewölbe persische und griechische und jüdische und armenische Händler bedruckte Stoffe und Manchesterware ausbreiten, die ein einzelner stauberfüllter Sonnenstrahl in ein flammendes Farbmeer verwandelt; oder zu den Palastruinen am Bosporus, in denen Flüchtlinge von irgendwoher in lähmendem und beengtem Elend hausen; oder in die prachtvollen, protzig eingerichteten Wohnungen an der Grande Rue de Pera, in denen griechische Millionäre und syrische Kriegsgewinnler unablässig Gesellschaften geben. Oder zu den Höfen und Durchgängen, in denen die Russen schlafen, zusammengekauert wie Schafe im Schneesturm. Eines Tages könnte man irgendwo vielleicht den Kern finden, den Schlüssel, um diese komplizierte Arabeske lesen zu können, die gedankenlos auf einen Grund von schierem Schmerz hingeschrieben wurde.
An diesem Nachmittag kann ich nur dasitzen und opalweißen Ouzo mit Wasser trinken, ermattet von dem eigentümlich schönen monotonen Klagen des türkischen Orchesters. Vom Schwarzen Meer her ist ein kühler Nordwind aufgekommen, der Staub und Papierschnipsel über den Taksim-Platz wirbelt.
Vorbei an den wartenden Droschken, die er ebenso ignoriert wie die roten Trambahnen und die siegreichen Wickelgamaschen der griechischen Offiziere, den Kopf mit der bestickten Kappe gegen den Wind geneigt, die mandelförmigen Augen wegen des Staubs zu schwarzen Schlitzen verengt, mit kleinen Schritten in schwarzen bestickten Pantoffeln, in einem fließenden roten Seidengewand, dessen Ärmel im Wind flattern, geht ein Mandarin aus China.
Cathay!
Der kleine Monsieur Moscoupoulos warf die Patschhände in die Luft.
«Aber die Türken haben nicht die griechischen Klassiker studiert. Sie sind ungebildet. Nicht einmal die Abgeordneten wissen etwas von Aristophanes oder Homer oder Demosthenes. Et sans connaître les classiques grecs on ne peut être ni politicien, ni orateur, ni diplomate. Die Türkei gibt es nicht. Ich versichere Ihnen, Monsieur, es ist eine einzige Räuberbande. Und diese Stadt», wir sahen aus dem Fenster des Pera Palace auf ein vorbeifahrendes Automobil der Alliierten, «Sie kennen ja die Legende. Ein Konstantin hat sie gebaut, ein Konstantin hat sie verloren, ein Konstantin wird sie wiedererlangen ...»
In dem dichtem Dach aus Weinblättern und ineinanderverflochtenen Stämmen hängen grüne Reben. Ein Café vor einem der Tore in der großen Theodosianischen Mauer. Die Landstraße senkt sich hinunter zu einem niedrigen Durchlass, der viel zu klein scheint für die schweren staubaufwirbelnden Fuhrwerke, die dort hindurchrattern. Rechts und links graue eckige Türme, oben abgebröckelt. In beiden Richtungen eine endlose graue Mauer, gelegentlich gesprenkelt mit dem Grün eines Feigenbaums und grauen eckigen Türmen. Im Osten ein Stückchen des aquamarinblau leuchtenden Marmara-Meers, im Westen kahle erdbraune Hügel. Im purpurnen Schatten der Weinlaube blanke Holztische und Stühle, auf jedem Tisch ein Topf mit Rosmarin oder Basilikum oder Thymian oder eine blühende Geranie. In einer Ecke diskutiert eine Gruppe alter Männer mit würdevollen Gesten und ruhigen, klangvollen Stimmen über irgendetwas. Ihre weißen Turbane bewegen sich kaum. Hin und wieder blitzt es weiß auf, wenn ein nickender Kopf einen Sonnenstrahl trifft, eine schmale und braune Hand wird an den grauen Bart gehoben. Drei junge Männer neben mir mit neuem leuchtend roten Fes erzählen Witze. Ein alter Herr mit aufgedunsenem roten Gesicht, in Gehrock mit der üblichen weißen Weste, hört zu, schaut mit blitzenden Augen über seine Nargilé, wirft hin und wieder den Kopf zurück und lacht laut. Ein gelber schlanker Mann mit grünen Hauspantoffeln neben ihm starrt mit großen gelbbraunen Augen ins Leere, in der Hand eine lange bernsteinfarbene Zigarettenspitze, die golden leuchtet, wenn die Sonne darauf fällt.
Sans connaître les classiques on ne peut être ni diplomate, ni politicien, ni orateur ... Aber man kann im Schatten sitzen, wo die Weinblätter im kühlen Wind rascheln, man kann die Tage durch die Finger gleiten lassen, glatt und wohlgeformt wie die Bernsteinperlen der Gebetsketten, mit denen die eine oder andere Hand fortwährend spielt.
Aus dem Tor kommt ein Stabsfahrzeug mit alliierten Offizieren, funkelnde Goldlitzen, schwirrende Stimmen. Knatternd und schnaufend müht es sich im ersten Gang die holprige Straße hinauf und verschwindet in einer Staubwolke.
Eine blökende Schafherde taucht aus dem Staub auf, gefolgt von zwei Schäfern, die rufen und Steine werfen und mit ihren Stöcken schlagen, bis die Schafe durch das schmale Tor drängen wie Wasser durch die Öffnung in einem Trog.
Sans connaître les classiques ... Ein Trupp interalliierter Polizisten ist erschienen, die prüfende Blicke über die Gesichter der Türken werfen. Zwei italienische Gendarmen mit glänzendem Dreispitz und Knöpfen auf den Rockschößen, stiernackige britische Militärpolizisten, französische Flics mit dem bei Pariser Karikaturisten so beliebten Schnurrbart. Alle sind rotgesichtig und verschwitzt, auf den gewienerten Stiefeln liegt Staub. Nachdem sie die Leute im Café lange genug gemustert haben, machen sie kehrt und fahren durch das Tor in Richtung Stadt. Unter den Weinranken hat sie niemand bemerkt. Die alten Männer sprechen weiter und streichen sich mit langsamer Bewegung den Bart. In den Schalen ihrer Nargilés ist gelegentlich ein leises rotes Glühen, wenn der Raucher tief einzieht. Über den grauen Türmen und der Mauer kreisen Milane mit schwarzen geschwungenen Flügeln und Hakenschnabel am porzellanblauen Himmel.
Unterwegs nach Therapia[8] wurde uns die Stelle gezeigt, wo zwei Tage zuvor ein französischer Lastwagen mit einer Regimentskapelle in die Schlucht gestürzt war. «Ah, monsieur, nous avons vécu des journées atroces», sagte die hochgewachsene Griechin neben mir und rollte gefährlich mit den schwarzen Augen. In der nächsten Kurve machte unser Wagen eine furchtbare Schlingerbewegung, um einem alten Mann mit Maultier auszuweichen. «Vier von ihnen waren auf der Stelle tot. Sie sollen ohnehin sternhagelvoll gewesen sein. Der Lastwagen und die Leichen wurden nicht gefunden ... le Bosphore, vous comprenez.» Sie lächelte affektiert mit ihren großen Lippen, deren Rot sich auf den sorgfältig geschminkten Amorbogen beschränkte.
In Therapia saßen wir auf der Terrasse, vor uns der grüne bewegte Bosporus, und sahen Engländern in weißem Flanell beim Tennis zu. Ein heißer stickiger Nachmittag. Heuschrecken schwirrten wie verrückt in den staubigen Zypressen. Männer im Gehrock saßen flüsternd an kleinen Tischen. Monsieur Deinos, der eine Schiffsverbindung von Konstantinopel nach New York einrichten will, saß im lavendelgrauen Leinenanzug zwischen den beiden hochgewachsenen Damen mit unruhigen Augen und affektiert gespitztem Mündchen ... «Griechenland», hob er an, «wird seinen historischen Auftrag erfüllen ...»
Ich schlenderte zur Bar. Ein britischer Major mit Vollmondgesicht mixte Alexanders. Ein Mann im Gehrock versuchte, mit dem Mund Oliven aufzufangen, die ein Mitarbeiter einer amerikanischen Hilfsorganisation in die Luft warf. Alle sprachen Englisch, näselndes Oxford-Englisch, Chicagoerisch, Ostküstenamerikanisch, Englisch und Amerikanisch, wie es von Griechen, Armeniern, Franzosen, Italienern gesprochen wird. Nur die nüchterneren Leute in der Ecke sprachen Französisch.
«Der Geheimdienst hat schon wieder eine bolschewistische Verschwörung aufgedeckt ... jawoll. Haben alle Roten eingesammelt und sie in einem morschen Kahn auf dem Schwarzen Meer ausgesetzt.» – «Haben nichts Besseres verdient. Undankbares Pack, diese Russen ... Erst evakuieren wir sie aus Odessa und Sebastopol, und dann wollen sie hier Revolution machen. Anführer war eine Frau ... Haben sie in einem Zimmer im Tokatlian erwischt. Als die A.P.C. an der Tür klopfte, hat sie sich ausgezogen und ins Bett gelegt. Dachte, es sind Gentlemen, die nicht mit Gewalt einbrechen. Nun ja, sie haben ihr einfach eine Decke übergeworfen und sie mitgenommen, wie sie war.»
«Also, ich war der letzte weiße Mann, der aus Sebastopol rausgekommen ist ... Bin in der Landmaschinenbranche.»
«Gestern Nacht haben türkische Banditen sechs Griechen aus dem Dorf dort drüben entführt ...»
«Habt ihr von dem jungen Stafford gehört, der mit einer Rotkreuzschwester auf der Straße am See spazieren ging und von Banditen angehalten wurde? Das Mädchen haben sie nicht angerührt, aber ihn haben sie bis auf die Haut ausgezogen ... Auf Bitten des Mädchens haben sie ihm anstandshalber die Unterhose zurückgegeben.»
«Und der General sagte: ‹Es ist nicht hell genug, in jedem Fenster soll ein Leuchter stehen.› Alle haben darauf hingewiesen, dass die Spitzenvorhänge Feuer fangen können, aber der General hatte schon reichlich Schampus getrunken und rief dauernd nach seinen Leuchtern. Also haben sie ihm seine Leuchter gebracht, und die Vorhänge haben tatsächlich Feuer gefangen, und nun hat der Sultan einen Palast weniger ... War ein grandioser Anblick.»
«Was ich euch jetzt erzähle, ist äußerst vertraulich. Der Mann, um den es geht, sein Name beginnt mit einem Z ... Ihr kennt doch den Vickers-Mann ... Fragt mich irgendwann nach Vickers und den Straßen in Izmit. Offenbar ist er gar kein Jude, sondern Grieche aus Konstantinopel. In Pera kannte ihn jeder, hatte ein kleines Tuchgeschäft oder so. Eines Tages verschwand er mit dem Inhalt eines Tresors und taucht zwei Jahre später in Lyon als steinreicher Seidenhändler und Wohltäter der französischen Republik auf und solche Sachen.»
«Nein, der Bursche war Oberst in der Wrangel-Armee. Sie hatten nichts zu essen, und eines Tages stellte er fest, dass seine Frau und Tochter sich für Geld, na, ihr wisst schon, hat beide erschossen und die Fliege gemacht. Gestern Abend entdeckte irgendein kleiner Köhler seine Leiche in den Hügeln ...»
«Jawoll, ich war der letzte Weiße, der aus Sebastopol rauskam. Merkwürdige Dinge sieht man im Schwarzen Meer ... Bin in der Landmaschinenbranche. Als ich das letzte Mal in Batum war, habe ich mehr als sechshundert Frauen schwimmen sehen, nicht ein Fitzelchen Stoff am Leib, alle im Evaskostüm.»
«Na, Herr Major, noch einen Alexander? Das Zeug ist mild und tut wirklich gut.»
«Kemal[9]! Der ist erledigt ... Von wegen. Man erzählt sich ja die dollsten Dinge von ihm. Wie die türkische Armee bei Eskischehir in der Erde versank und hinter den griechischen Linien wieder zum Vorschein kam. Das ist das Zeug, mit dem man hier im Orient ein Held wird.»
«Angeblich rücken drei Divisionen der Roten durch Armenien vor, und er soll ihnen für ihre Hilfe Konstantinopel versprochen hat.»
«Sollen sie’s doch versuchen.»
«Irgendwann werden sie die Stadt schon kriegen.»
«Unsinn, die Griechen werden sie erobern.» – «Die Briten.» – «Die Franzosen.» – «Die Bulgaren ...» – «Der Völkerbund.» – «Die Türken.» – «Mein Vorschlag ist, die Stadt wird neutralisiert und der Schweiz übergeben. Das ist die einzige Lösung.»
Draußen auf der Terrasse aßen Monsieur Deinos und die beiden hochgewachsenen Griechinnen mit Amorbogenmündchen Pistazien und tranken Ouzo im amethystfarbenen Dämmerlicht. «Griechenland», fuhr Monsieur Deinos fort, «war schon immer das Bollwerk der Zivilisation gegen die Barbaren. Inspiriert von Marathon und Salamis und, wie ich hoffe, mit Hilfe und Wohlwollen der Amerikaner wird Griechenland wieder seine historische Mission erfüllen ...»