«Der Wagen ist da, M’sieur», sagte der langnasige Kellner mit einer Handbewegung über den Samowar hinweg. In diesem Moment war draußen auf der Straße plötzlich Glockengeklingel zu hören.
Meine Bemerkung, dass sich die Federung in meinen Rücken bohre, traf den Sajjid in seinem Nationalstolz. Er schmollte, bis wir auf unserem Weg durch den Basar einen Esel erschreckten, so dass die Tonkrüge, mit denen er beladen war, auf einen Berg Wassermelonen fielen, was für allgemeine Heiterkeit sorgte. Unser Wagen, eine bedenklich wackelige Konstruktion, sah wie eine kleine Viktoria aus. Gelenkt wurde er von einem korpulenten Mann namens Karim, der eine weiße Wollkappe auf dem Kopf trug. Hinter ihm auf einem Gurt hockte mit ein paar Hafertüten ein unangenehmer breitgesichtiger Knirps namens Maa’mat, mit dem Karim ständig schimpfte. Und so saßen wir da, die Beine über dem Gepäck ausgestreckt, grüne und gelbe Melonen auf dem Schoß, derweil die Federung uns raffiniert das Rückenmark aus dem Leib bohrte, und rumpelten, eine mächtige Staubwolke wie einen Kometschweif hinter uns herziehend, vorbei an der blauen Moschee und hinaus aus Täbris.
Einige Tage zuvor hatten wir in Dschulfa am Araxes die persische Grenze überquert. Nach der Grobheit der Dinge und des Lebens in Russland war der Balsam einer alten und schwachen und würdevollen Kultur ein wunderbarer Trost. Ich erinnere mich, wie ich von der Lokomotive stieg, die uns über die internationale Brücke in das sonnengleißende Tal von Dschulfa gebracht hatte, nicht ein grüner Baum wuchs auf den rosaroten und gelben Felsen ringsum, die in der Hitze wie Bühnenkulissen vibrierten. Im nächsten Moment wurden wir in einen kühlen Raum mit rosagrauen Lehmwänden geführt, an denen zwei Teppiche hingen, kleine Kupferkrüge mit Wasser wurden gebracht, und der Sajjid und ich saßen barfuß vor einer riesengroßen, epochemachenden Wassermelone, die uns von einem kleinen Mann namens Astulla Khan serviert worden war. Sein Gesicht war auf einer Seite wegen Zahnschmerzen geschwollen, um den Kopf hatte er sich ein weißes Tuch gebunden und oben so zusammengeknotet, dass zwei lange spitze Schleifen in die Höhe standen, wie man das aus alten Bilderbüchern kennt. Nach dem Mittagessen wurden Matratzen und hellrosa Kissenrollen gebracht, dösend verbrachten wir den nicht enden wollenden Nachmittag, schauten an die glatte Lehmdecke und auf das gewebte Porträt des Schahs auf einem der Wandteppiche und hinaus auf den Innenhof, wo ein zahmer Fasan am Rand eines kleinen Teichs herumspazierte und ein Kätzchen hingestreckt auf einem blauen und dunkelroten Teppich in der Sonne lag. Kein Laut war zu hören, nur gelegentlich aus dem Nebenzimmer das leise Blubbern von Astulla Khans Wasserpfeife. Endlose Epochen wohltemperierten Müßiggangs legten sich wie feine Seidentücher über die eigene Unruhe. Vielleicht war dies der Garten jenseits von Schmerz und Vergnügen, in dem Epikur leidenschaftslose Tage zugebracht hatte. Schließlich erhob sich das Kätzchen, streckte die weißen Beine, eines nach dem anderen, und tappte gemächlich zum Teich. Das Sonnenlicht war schon rötlich und warf lange Schatten. Die Berge jenseits des Araxes waren hellrosa mit purpurroten und indigofarbenen Schatten. Der Sajjid stand auf, klopfte den Staub von seiner Hose und murmelte meditativ: «Quel théâtre!» Woraufhin Astulla Khan einen gigantischen blitzblanken Samowar herbeischleppte und die Geschäfte des Tages wiederaufgenommen wurden.
Aus der Ebene von Täbris fuhren wir einen trockenen Pass hinauf und aßen an einer langen Steigung unseren eigenen Staub, bis ein weiteres Tal voller Pappeln und Lehmdörfer sich zu unseren Füßen öffnete und es rumpelnd wieder bergab ging. In Basmieh, wo wir aßen, gab es einen denkwürdigen Garten. Zum ersten Mal wurde der Sajjid poetisch. Wir lagen unter silbrigen Aspen in einem grasgrünen Garten voll glitzernder Bäche, und ein Knabe, dem das Haar, wie bei mittelalterlichen Pagen, fast bis auf die Schulter fiel, der einen straffgegürteten Kittel und eine weite hellblaue Hose trug, brachte uns Tee und einen Schoß voll roter Äpfel. Dann setzte sich der Sajjid kerzengerade hin und rezitierte, die Augen halb geschlossen, mit brummender Stimme das Gedicht von Hafis, das ich später bei Miss Bell[15] gefunden habe:
Uns genügt das Blumenantlitz
aus dem Garten dieser Welt,
uns genügt von dieser Wiese
der Zypressen hoher Schatten!
Das Gespräch mit Heuchlern
sei mir fern,
und von dem Erlesenen der Welt
sei genug uns der erlesene Becher![16]
«Quel théâtre!», rief der Sajjid, als er fertig war, steckte sich ein Stück Zucker in den Mund und legte sich mit ausgebreiteten Armen wieder in das weiche Gras.
An diesem Tag, nach einer Fahrt durch pappelbestandene Täler, vorbei an einer langen Kette kahler dunkelroter Berge, übernachteten wir in einem heruntergekommenen Chan neben einer großen Karawanserei, einem schönen, inzwischen verfallenen Ziegelbau jenes Typus, den Reisende stets dem guten Schah Abbas zuschreiben. Der Ort hieß Schibli, und dort fanden wir einen Trupp Straßenwärter unter dem Kommando von Hakim Sultan, einem mächtigen Krieger. Hakim Sultan war eine untersetzte, mit Patronengurten behängte Figur. Er saß in der besten Ecke des Raums, zog an einer Wasserpfeife und musterte uns wohlwollend mit seinen schmalen Schweinsäuglein im fetten Gesicht. Haar und Schnurrbart waren hennarot gefärbt. Zwischen tiefen Zügen, bei denen das Wasser wie verrückt brodelte, erzählte er, dass er während des Ramadan einmal vor dem Schah als Ringkämpfer aufgetreten sei und alle seine Kontrahenten besiegt habe. Außerdem sei er ein Meisterschütze. Seine Leute, feine sehnige Nomaden, mit nicht ganz so vielen Patronengurten behängt wie ihr Anführer, hockten in respektvollem Abstand und nickten bestätigend wie chinesische Spielzeugfiguren. Erst vor fünf Tagen habe er genau hier in diesem Chan zahllose Schahsavan zurückgeschlagen. Sogleich zeigte man uns die Einschusslöcher in der Wand. Es wurde eingeräumt, dass die Eindringlinge mit dem ganzen Vieh entkommen waren. «Aber ich habe sie in die Berge zurückgejagt. Hier von dieser Stelle aus habe ich geschossen.» Man konnte ihn sich gut vorstellen, wie er mit seinem Gewehr dasaß und damit hantierte, als wäre es seine Wasserpfeife. Ah, die Schahsavan, das seien mächtige Männer! Elf von ihnen hätten einst tausend russische Soldaten entwaffnet, die mit Artillerie gegen sie losgeschickt worden waren. Sie lebten so weit oben in den Bergen, dass ein Wegkundiger sich nicht mehr zurechtfindet, wenn er ihr Land erreicht. Ihre Teetassen und Joghurtschalen seien aus purem Gold, und ihre Kamele hätten sie nie gezählt. So seien diese Männer, die er, Hakim, sein Leben lang bekämpft habe.
In diesem Moment wurde der Vortrag unterbrochen, denn der Gastgeber erschien mit einem erregt gackernden Huhn in jeder Hand. Beide wurden dem Sajjid präsentiert, der sie mit einem Ausdruck überirdischer Weisheit kniff und stupste. Schließlich wurde ein Vogel ausgewählt und der andere zurückgewiesen, und einer der Nomaden setzte mit einem Messer dem Gegacker abrupt ein Ende. Und während draußen ein vielversprechendes Brutzeln anhob, ergriff der Sajjid das Wort. Er beschrieb die Länder der Welt, von Berlin bis Stambul, ihre Verfassung und die politischen Verhältnisse, dass einige gut, andere schlecht seien und wieder andere, namentlich die Türkei und die Bolschewiken, tamam, erledigt seien.
Später erklärte er mir, dass die Türkei und die Bolschewiken keineswegs tamam seien, dass er nur ihre Propaganda entkräften wolle. «Di-ploo-ma-tik!», sagte er und zog das Wort mit einer Geste seiner braunen Hand in die Länge. Nachdem wir gegessen hatten, Brot und Joghurt und Käse und Hühnchen, und dazu viele kleine bauchige Gläser Tee getrunken hatten, legten wir uns, in Decken eingewickelt, auf den Fußboden neben dem unverglasten Fenster, durch das die gute frische Gebirgsluft hereinwehte. Nachdem ich mich eingerollt hatte, bemerkte ich, dass der Sajjid sich aufrichtete und nervös zwischen seinem Geldbeutel, den er in der Hand hielt, und der ausgestreckten Gestalt von Hakim Sultan hin- und herblickte. Doch in Schibli hatten wir einen ungestörten Schlaf.
Am nächsten Mittag aßen wir in Schischme-dosch, einem für Raubüberfälle berüchtigten Ort, in einer einsamen Herberge, die aus einem einzigen Raum bestand, auf dem Gipfel eines Berges inmitten eines langen, trostlosen Tals. Wieder Erzählungen von den Schahsavan, von überfallenen Dörfern und erbeuteten Herden und Frauen.
Die Nacht in einem sehr schönen Dorf, Gareh Chaman, an den Flanken einer orangebraunen Schlucht, beiderseits eines sprudelnden Bachs, baumbestanden und durch runde Wachtürme gut geschützt. Auf dem Dach eines Hauses unter zwei großen silberstämmigen Pappeln am Dorfrand wurden Teppiche für uns ausgebreitet, ein Samowar herbeigebracht, Hühner zum Prüfen, Wasserkrüge zum Waschen, und bis zum Abendessen hielt der Sajjid in seiner Eigenschaft als Doktor eine richtige Sprechstunde, öffnete und schnitt Geschwüre, fühlte den Puls und gab Tabletten. Und dann, während wir ein göttliches Mahl zu uns nahmen, das auf gehämmerten Zinntabletts angerichtet war, wandte sich der Sajjid an den Mollah und den Herrn des Dorfes und den Koch und den kleinen Jungen, der uns bediente, mit seiner üblichen Ansprache über die Ingliz und die Français und die Amerikai und die Osmanli im Allgemeinen und die Politik von Persien im Besonderen, nach dem Motto: Iran den Iranern und schlagt die Farangis in ihrem eigenen Spiel. Nachts rauschten die Pappeln im Wind, die Sterne funkelten in immer neuen Facetten, und in der Ferne heulten Schakale.
Zwischen Ghare Chaman und Turkomanchay, wo Persien den ersten seiner katastrophalen Verträge mit einer europäischen Macht unterzeichnet hatte, stießen wir auf die Karawane eines Granden aus Täbris, der auf Pilgerfahrt zum Grab des Imam Reza in Meschhed war. Diese tänzelnden weißen Pferde und die Rufe der Eseltreiber und die wippenden Tragekörbe voller strahlender Kinder und tschadorverhüllter Damen! Ein feiner weißbärtiger Mollah mit dem blauen Turban eines Sajjid, Nachkomme des Propheten, ritt auf einem gepflegten grauen Pferd voran, dessen Schweif und Mähne mit Safran gefärbt waren. Nicht nur die Lebenden, auch die Toten profitierten von der Pilgerreise: am Ende der Karawane kam ein langer Zug von Maultieren, beladen mit Särgen, die in heilige Erde umgebettet werden sollten.
«Wenn sie sich um die Lebenden genauso kümmern würden wie um die Toten», sagte der Sajjid, als wir uns von dem Staub und dem Gebrüll entfernt hatten, «wäre Iran eines der besten Länder von der Welt. Wenn sie das Geld sparen würden, das sie für Pilgerreisen ausgeben, und in Fabriken und Eisenbahnen investieren würden ...»
«Aber warum Fabriken und Eisenbahnen ...?»
«Waren Sie schon einmal in Deutschland? Nur kurz? Ah, die commodité ... Alles ist so praktisch. Hier ist alles so kompliziert. Unsere Bauern, wenn Sie wüssten, wie hart sie arbeiten, und trotzdem sterben sie, wenn es eine Hungersnot gibt, nur damit irgendein Würdenträger ein Vermögen machen kann ...»
Das Gespräch wurde unterbrochen, weil unser Wagen in einer Schlucht im Morast feststeckte. Wir mussten aussteigen, Maa’mat musste geweckt werden, denn er musste schieben, und die Pferde mussten mit Peitsche und Rufen angetrieben werden, bis der Wagen schließlich, fast umkippend, aus dem Morast schnellte, die Anhöhe hinaufschoss und auf halbem Weg zum Stehen kam. Dies erschien uns als exzellente Gelegenheit, eine Melone zu verspeisen, eine große, gelbe, innen milchige Melone mit einem leichten Mandelgeschmack. Der Sajjid versank in einer Wolke rosiger Erinnerungen, und als wir in unserer tolpatschigen Kutsche wieder Platz genommen hatten, begann er langsam zu erzählen.
«Ich erinnere mich noch sehr gut, wie ich, aus Konstantinopel kommend, in Leipzig eintraf ... Ah quelle commodité! Es war so ruhig in dem Hotel mit dicken Teppichen auf dem Boden, und wenn man etwas bestellte, zack, war es da! Ich habe sehr gut gespeist und ausgezeichneten Wein getrunken, der Kellner sprach Französisch, ich konnte damals noch kein Deutsch, er war sehr liebenswürdig. Als ich fertig war, fragte er, ob ich noch etwas wünsche. Ich habe, ohne es recht zu bedenken, spontan gesagt: ‹Ja, eine Mademoiselle.› Der Kellner lächelte und sagte, er wolle sehen, was sich machen ließe. Ich dachte, er macht einen Scherz, ging auf mein Zimmer, wollte mich schlafen legen. Als ich halb ausgezogen bin, wer kommt? Der Kellner. Er sagt, dass die Mademoiselle mich unten im Foyer erwartet. Ich sagte: ‹Schicken Sie sie hoch›, aber der Kellner meinte, das ginge nicht. Und das ist der ganze Unterschied zwischen orientalischen und europäischen Frauen. Also habe ich mich wieder angekleidet und bin hinuntergegangen. Ich war so unerfahren, aber die Mademoiselle war äußerst charmant und führte mich in ein Cabaret, wo wir Champagner tranken, es gab Musik. Ich habe viel von ihr gelernt ... Ah, quelle commodité!»
Ab Turkomanchay gab es keine nennenswerte Straße. Der Wagen rumpelte über felsige Anhöhen, wechselte urplötzlich die Richtung, hüpfte wie ein Floh über Abgründe, donnerte über Bergkämme, stürzte in steinerne Hohlwege, und ständig rechneten wir damit, dass unser Vehikel im nächsten Moment kollabieren würde. An einer verlassenen Karawanserei der Schah-Abbas-Variante kam uns ein Wegwächter entgegen, ein rothaariger, ziemlich übel aussehender Riese, der uns erklärte, dass in der Nacht zuvor ein Reisender genau an diesem Ort von Räubern der Länge nach aufgeschlitzt worden sei. Wir gaben dem Mann zwei Kran, worauf er sich entfernte. Die glühende Sonne knallte uns ins Gesicht, die Melonen waren alle aufgegessen, der Wasserkrug war zerbrochen, und nirgendwo sahen wir eine Menschenseele. «Quel théâtre!», seufzte der Sajjid bei jedem Schlagloch.
«Précautions. Toujours des précautions», rief der Sajjid refrainartig, während er die Säuberung des Daches der Karawanserei vor den Toren von Mianeh überwachte, einer Stadt, die berühmt ist für ihre Fliegen, ihre Stechmücken, ihre Moskitos und vor allem für ihre weißen Wanzen, die ein spezielles Fieber übertragen, das Mianeh zu Berühmtheit in den Annalen der Medizin verholfen hat.
Am Nachmittag erwehrten wir uns der Fliegen und tranken Tee und diskutierten über Politik. Persien solle die europäische Durchdringung von Ländern unterstützen, mit denen es keine gemeinsame Grenze hat, aber mit Misstrauen seine beiden großen Nachbarn beobachten. Das erkläre die deutschfreundliche Haltung von Demokraten und Nationalisten während des Krieges. «Bislang hat uns geschützt, dass England und Russland sich nicht einigen können. Nach Kriegsbeginn waren sie sich eine Weile einig, das bekamen wir zu spüren, rücksichtslos haben sie auf uns herumgetrampelt ... Aber sie kennen uns nicht. Sie wissen nicht, was wir vorhaben, und wir werden es ihnen nicht verraten. Dies ist der Moment, unsere Unabhängigkeit zu behaupten. Dafür brauchen wir Kapital und ausländische Hilfe, aber nicht von unseren Nachbarn, sondern von Ländern, die nicht involviert sind ... Aber wir müssen langsam vorgehen, vorsichtig und verschwiegen, toujours avec précautions, avec beaucoup de précautions ...» Der Sajjid runzelte das Gesicht zu einem Ausdruck von geradezu übermenschlicher Raffinesse, wischte sich eine Fliege von der Stirn und sagte abschließend: «Diplomatik!»
In dieser Nacht wurde der Beginn des Muharram gefeiert, des Monats der Trauer um Hossein, den großen schiitischen Märtyrer. Die Moskitos und Sandfliegen waren so aufdringlich, dass an Schlaf nicht zu denken war. Der Sajjid lag bedrückt in einer desinfizierten Ecke, dachte sorgenvoll an lauernde Wanzen und stöhnte von Zeit zu Zeit «Quel théâtre!» auf die erbärmlichste Weise. Ich bedeckte Kopf und Gesicht mit einem Tuch, ging auf einem Balkon auf und ab, rauchte und sah dem guten alten Orion zu, wie er langsam am Himmel emporstieg. Aus der Stadt drang Trommelwirbel heran und in atemlosem, stetigem Rhythmus der Ruf «Hossein, Hassan, Hossein, Hassan». Dazwischen ohrenbetäubendes Hundegebell. Die Luft im Innenhof roch unangenehm faulig, und ich hörte die Schellen unserer Pferde, die sich der Mücken erwehrten, und das Stampfen einer Menschenmenge, die sich im Gleichschritt bewegte und mit der ganzen kraftvollen Inbrunst des Islam «Hossein, Hassan, Hossein, Hassan» rief.
Am Morgen ein ziemlich breiter Pass, über den eine gepflasterte Straße führte, vermutlich angelegt von dem nimmermüden Schah Abbas. Die klare thymianerfüllte Luft vertrieb die Miasmen von Mianeh. Doch der Sajjid war untröstlich. Mit Tränen in den Augen versicherte er mir, dass er gestochen worden sei und nun wahrscheinlich sterben werde. «Et après tellement de précautions», sagte er bekümmert, während wir die letzte Biegung vor der Passhöhe nahmen. Weder die Landschaft noch der frische Nachschub an Melonen und köstlich duftenden weißen, kernlosen Trauben konnte ihn umstimmen. Er hatte sich als krank bezeichnet und schuldete es seiner Reputation, die Richtigkeit seiner Diagnose unter Beweis zu stellen, also musste er krank sein; es war Malaria.
Mittagessen unter einem Apfelbaum in dem verfallenen Dorf Dschemalabad, recht düsterer Stimmung diskutierten wir über Religion, während ein uraltes Kamel, verwahrlost und höckerlos, von einem benachbarten Feld mit einem «Die werden ein böses Ende nehmen»-Ausdruck herüberstarrte. Der Sajjid sagte, dass alle Propheten eine kleine Wahrheit zu sagen hätten und dass ihre Anhänger zusammenhalten sollten statt zu streiten, denn le Dieu sei le Dieu, wie immer man ihn nenne. Nein, er sei kein Bahai, aber er denke in vielen Dingen wie sie, das seien gute Leute, ehrlich und tolerant und interessiert an Fortschritt und Bildung. Wenn es doch nur mehr von ihnen in Persien gäbe! Aber die Armen seien unwissend und fanatisch und glaubten, was ihnen die Mollahs erzählten. «Stellen Sie sich vor», sagte er und saß plötzlich kerzengerade, «ich hätte auch ein Mollah werden können und nicht Arzt, also ein Mann der Wissenschaft ... Mein Vater war Mudschtahid[17], ein sehr heiliger Mann, und wenn die amerikanischen Missionare nicht mit ihm geredet und ihn gedrängt hätten, mich zum Studium ins Ausland zu schicken, würde ich jetzt gewiss einen Bart und einen blauen Turban tragen und wäre ein Mudschtahid geworden. Wundert es Sie, dass mir alles Amerikanische gefällt?»
Dann wandte sich der Sajjid an einen sehr zerlumpten Mann, der ein wenig entfernt von uns saß und unsere Melonenschalen aß. Wie sich herausstellte, war sein Vater der Besitzer dieses Felds und vieler anderer gewesen. Doch dann waren die Türken gekommen und hatten die Ernte vernichtet und das Haus angezündet und seinen Vater ermordet, und nun war er ein Bettler. Er erzählte seine Geschichte so gelassen, als wäre sie Teil der göttlichen Ordnung. Islam ist wahrhaftig Ergebenheit.
In Tarzikand gab es nur einen Ort zum Schlafen, ein paar wackelige Bretter über einer Zisterne voll quakender Frösche. Die Zisterne befand sich in einem ummauerten Gärtchen mit Mandelbäumen. Ein heftiger Wind wehte die Kohlestückchen vom Samowar, und ständig flog das hauchdünne Brot davon, das es zum Abendessen gab. Ich lag vorsichtig auf den Brettern, die Sterne über mir hingen wie weihnachtliche Silberkugeln an den Zweigen der Mandelbäume.
Der Sajjid war schweigsam in diesen Tagen, nahm Chinin und maß seine Temperatur. Wir übernachteten ein weiteres Mal in Yekendje, einer Schlucht voller mächtiger Pappeln, die das steinige Flussbett säumten wie die silbrigen Bäume auf Piero della Francescas Taufe Christi. Auf dem Dach des Chans richteten wir uns ein, es gab dort auch ein Zimmerchen, in das sich der Sajjid mit seiner Malaria zurückzog. Bedient wurden wir auf das Liebenswürdigste von einem kleinen Jungen namens Gholamhossein, der von seinem Zuhause in Zendjan weggelaufen war, weil er, wie er sagte, seinen Vater nicht mehr leiden konnte. Als wir ihn am Morgen fragten, ob wir etwas für ihn tun könnten, sagte er, dass der Sajjid, der doch ein Hakim sei, ein Arzt, vielleicht ein Mittel für ihn habe, mit dem er sein Gesicht heller machen könne, das wirklich sehr dunkel war.
In Zendjan besserte sich die Stimmung des Sajjid dank eines sehr aromatischen Getränks namens Bidmesch, das ein wenig nach Orangenblüten duftete und unglaublich träge und sanft die Kehle hinunterrann. Wir unternahmen einen Versuch, in einem Lokal im Basar etwas zu essen, aber mit brutaler Entschiedenheit wurde uns erklärt: Farangi nadjiss, Europäer sind unrein. Der Sajjid konnte die Leute nicht einmal davon überzeugen, dass er ein guter Muselmann und ein Nachkomme des Propheten war, da er zu diesem Zeitpunkt einen europäischen Filzhut trug. Also aßen wir schändlicherweise in unserer Herberge und hatten einen heftigen Streit über das Thema Industrialisierung. Während unseres Gangs durch den Basar hatte der Sajjid lautstark darauf hingewiesen, wie hart die Kupferschmiede und die Silberschmiede arbeiteten und dass es doch viel besser wäre, wenn ihre Arbeit von Maschinen übernommen würde. Er hatte offenbar die in diesem Teil der Welt sehr verbreitete Vorstellung, dass Maschinen von ganz allein arbeiten. Ich versuchte ihm zu erklären, dass das Leben eines Fabrikarbeiters in Europa und Amerika kein Zuckerschlecken sei, und überlegte sogar, ob diese Kupferschmiede, so miserabel sie auch bezahlt waren, nicht ein besseres Leben haben als etwa ein Stahlarbeiter in Deutschland, trotz Kino und Kneipe, in denen er sich verlustiert. Doch der Sajjid überschüttete mich mit einer langen Aufzählung von Hungersnöten und Ausbeutung durch Würdenträger und Mudschtahids und Gouverneure. – «Nein», sagte er schließlich, «wir müssen Fabriken und Eisenbahnen haben. Dann werden wir eine große Nation sein.»
Am nächsten Morgen verließen wir die heilige und heruntergekommene Stadt Zendjan. Die Sonne glitzerte zauberhaft auf der Kuppel der Moschee, die in Form und Farbe an das Ei einer Wanderdrossel erinnerte. Am Nachmittag kam noch einmal diese Nadjiss-Geschichte auf. Wir tranken Tee in einem kleinen Straßencafé, als ein Hadschi mit karminrot gefärbtem Rauschebart, der in der Ecke saß und eine dicke Pfeife rauchte, sich bemüßigt fühlte, gegen unsere Anwesenheit zu protestieren. Doch der Sajjid ließ sich nicht einschüchtern. Er zitierte einen Vers von Saadi[18] über die Pflicht, Fremden höflich zu begegnen, und im nächsten Atemzug zitierte er ausführlich aus dem Koran-Abschnitt «Die Kuh». Plötzlich hielt er inne und forderte den Hadschi auf, dort weiterzumachen, wo er aufgehört hatte. Der Hadschi stotterte und stammelte, wusste nicht weiter und musste schließlich eingestehen, dass der Sajjid ein guter Muselmann und ein gebildeter Mann sei. Zur Versöhnung reichte er ihm sogar seine Pfeife.
Von da an war die Malaria des Sajjids praktisch kuriert. Als wir Kazvin erreichten, war er munter wie ein Spatz und dachte wehmütig an seine deutschen Mademoiselles. «Ich werde eine Deutsche heiraten», sagte er. «Ich habe eine Bekannte in Deutschland, eine Ärztin, die Tochter eines Oberst. Ich denke, sie wird mich heiraten, wenn ich so weit bin. Ich könnte keine Perserin heiraten. Sie sind sehr hübsch, aber zurückgeblieben. Es wäre so, als würde man ein Tier heiraten ... Aber das wird sich alles ändern. Sie werden sehen!»
Kazvin war voller Platanen, in denen massenhaft Krähen saßen, die in der Abenddämmerung unter lautem Geschrei umherflogen. Wir kamen bei dem Bruder des Sajjid unter, der uns fürstlich bewirtete, obwohl Moharram war, der Monat, in dem die Perser keinen Wein trinken und auf jedes Vergnügen verzichten. Der schlichte Lebensstil der persischen Mittelschicht hat etwas sehr Angenehmes. Die Zimmer sind, bis auf ein paar Teppiche, ein paar Stühle und ein Sofa, meist leer. Es gibt keine Diener, bei den Mahlzeiten tragen die Söhne des Hauses Zinntabletts herbei und bedienen die Gäste. Betten oder irgendwelchen Zierat gibt es nicht. Abends und zur Siesta-Stunde werden Matratzen und Decken aus Schränken geholt und ausgerollt. Alles geht eigentümlich ruhig und unaufgeregt vonstatten. Aus den Teppichmustern und Teetassen, den leisen, feinsinnigen Gesprächen und dem fast unangenehmen Geschmack süßer Getränke ergibt sich eine bemerkenswert harmonische Langsamkeit. In Persien – ich vermute, das gilt für die ganze islamische Welt – kann man den Eindruck gewinnen, als sei das Leben frei von Ungestüm und Hektik. Es ist wie ein ausgetrockneter Wasserlauf, der früher einmal ein reißender Strom war, heute aber nur noch aus ein paar stillen Pfützen besteht, die das Blau und die Wolken spiegeln und auf ihre Weise vielleicht mehr von der Intensität eines unruhigen, verschlungenen Lebens enthalten als der Fluss, die aber irritierend zusammenhanglos, unberechenbar sind.
In Persien ist es offenbar Sitte, sich unmittelbar nach dem Abendessen zurückzuziehen, und an diesem Abend in Kazvin, ganz allein mit meinem Bettzeug in einem der Zimmer im Obergeschoss des Hauses, packte mich der übermächtige Wunsch, in die Stadt hinauszugehen. Aber das Haus war bestimmt abgeschlossen, und ich befürchtete, in eines der Frauengemächer zu stolpern, wenn ich mein Zimmer verließ. Ersatzweise stieg ich durch mein Fensterchen auf ein kleines Dach, von wo aus ich die flachen Dächer und die tintenschattigen Innenhöfe der Stadt sehen konnte, die sich ringsum unter dem Mond erstreckte. Mir gegenüber war die dicke Kuppel und das gedrungene kachelgeschmückte Minarett der Freitagsmoschee. Auf vielen Dächern waren Gestalten zu erkennen, die sich dort zum Schlafen hingelegt hatten, und manchmal eine Bewegung in einem Innenhof. Ich musste an eine Erzählung von Maupassant denken, in der ein nacktes Mädchen im Mondschein auf dem flachen Dach eines Hauses in Marokko steht. Und aus irgendeinem Grund überkam mich eine Abscheu vor den ganzen romantischen Orientklischees, von denen es ja selbst im Orient wimmelt, so dass ich fast wieder in mein Zimmer geklettert wäre, um all diese Gedanken in mein Notizbuch zu schreiben. Ja, das Spektakel, die karminroten Bärte und die safrangelben Bärte und die mächtigen Turbane und die hohen runden Filzhüte und die Teppiche und die buntgeschmückten Pferde und die anmutigen Gesten alter Männer und die gespenstisch verhüllten Frauen und die Kamele mit ihren langen, federnden Schritten und die dunkle Fülle der gewölbten Lagerräume in den Basaren – war das nicht alles leblose Routine, ein halbvergessenes Ritual, vor Ewigkeiten gelernt? Es ist der Westen, wo das Blut heiß in den Adern fließt und die Welt ungeordnet und romantisch ist, wo phantastische, unerwartete Dinge passieren. Hier ist alles versucht und erfahren und verschlissen worden. Mit sehnsüchtigen Gedanken an den Broadway und die Zweiundvierzigste Straße legte ich mich auf meine weiche Matratze. Kaum hatte ich mich beruhigt, hörte ich eine Trommel in der Ferne und kehlige, angespannte, wilde Stimmen, die in raschem Rhythmus «Hassan, Hossein, Hassan, Hossein» riefen, als wäre Hossein, der ritterliche Enkel des Propheten, erst gestern in Kerbela gestorben.
Bevor wir am nächsten Morgen Kazvin verließen, führte der Sajjid eine Operation durch. Dann brachen wir auf, mit viel Tamtam und eskortiert von berittenen Gendarmen und unter Zurücklassung des Opfers, das blutend auf einem wackeligen Tisch in der Apotheke des Gouverneurs lag und durch seinen Äther stöhnte. Wir aßen Weintrauben, während der Zweispänner mit eindrucksvoller Gemächlichkeit über staubige Pisten dahinrumpelte und der Sajjid über die Revolution in Asien sprach. Begonnen, sagte er, habe alles mit der Niederlage Russlands im japanischen Krieg, die die Asiaten auf die Frage brachte, ob in den Büchern des Schicksals geschrieben stand, dass sie ein für alle Mal die Sklaven Europas sein müssten. Sodann hätten die türkische Verfassung und die persische Verfassung gezeigt, dass die schattigen und verfallenen Gärten des Orients nicht völlig verdorrt waren unter dem tödlichen Ansturm des Westens. Und während Europa Krieg führte, dachte Asien nach. In Asien entwickelten sich die Dinge immer sehr langsam, so langsam, dass die Europäer nichts bemerkten und erklärten, dass sich dort überhaupt nichts bewege, aber irgendwann wird die Zeit kommen, da die mächtigen Ausbeuter plötzlich feststellen, dass sie nicht mehr wissen, wohin ihr Weg sie führt. So ist das in Asien. «Nehmen Sie nur mich», rief der Sajjid mit schriller Stimme. «Als Kind habe ich die Europäer für eine überlegene Rasse gehalten, vor fünf, sechs Jahren hatten sie so viel erreicht; Persien könnte sich glücklich schätzen, wenn es von den Briten regiert würde. Aber heute ... Ich habe alle Länder gesehen, habe ihre Propaganda gehört. Ich habe gesehen, welche Schmiergelder sie bezahlen und mit welchen Methoden sie kämpfen, all die hochzivilisierten, vornehmen Völker Europas, und ich weiß, was ich weiß. Und was ich weiß, das wissen auch der Maultiertreiber und der Töpfer und der Bademeister, der einen durchwalkt, und der Bauer und der Nomade. Nein, ich werde gern sterben, bevor mein Land von irgendeiner europäischen Nation dominiert wird. Und ich bin nicht der Einzige.»
«Und was die Briten hier in Persien angeht ... ja, ich weiß, sie sind ein großes Volk. Ich war mal drei Tage in London, die ganze Zeit hat es geregnet, aber ich bin durch die Stadt gegangen und habe die Leute gesehen und wusste, es waren braves gens. Aber hier sind sie anders, uns gegenüber, und deshalb werde ich zeit meines Lebens gegen sie kämpfen, avec Diplomatik. Und den Türken geht es genauso und den Arabern und den Afghanen. Erst haben wir die Briten gemocht, weil sie besser sind als die Russen, doch nun gibt es keinen Druck von Russland, und die Briten haben sich verändert. Und im Islam ist nicht mehr so viel Fatalismus wie früher. Europa ist unser Lehrmeister, Europa gibt uns Waffen.»
Später, auf der letzten Etappe nach Teheran, sagte der Sajjid wieder: «Welchen Fehler machen alle europäischen Mächte in Bezug auf Persien? Ich werde es Ihnen sagen. Sie denken nur an die großen Leute. Es ist ihnen nicht klar, dass es auch kleine Leute gibt, wie mich, Ärzte, Mollahs, kleine Händler, und dass selbst die Bauern in den Teehäusern an der Straße über Politik sprechen. Sie wissen, dass sie die großen Leute bestechen und unter Druck setzen können, und sie glauben, sie haben Persien in der Hand. Aber uns, die kleinen Leute, können sie nicht bestechen, denn wir sind zu viele. Wenn sie mich kaufen oder mich töten lassen, dann gibt es Hunderte anderer, die genauso denken wie ich und an meine Stelle treten. Es wird ihnen also nichts nützen.»
Es war kurz vor Morgendämmerung. Ein hauchzartes goldenes Band säumte den steil aufragenden Demavand, den mächtigen Berg oberhalb von Teheran. Der Wind war eisig wie ein Schneefeld.
«Und wenn Sie in Ihre Heimat zurückkehren», sagte der Sajjid, «vergessen Sie nicht, Ihren Landsleuten zu sagen, dass es kleine Leute in Asien gibt.»