Hinter einer zersprungenen, mit Papierstreifen zusammengehaltenen Schaufensterscheibe sitzen die Dinge in einsamer Konklave. In der Mitte steht ein hängebauchiger Samowar, leicht zerbeult, die Pfeife oben schräg, die Griffe verstaubt. Darunter, auf mottenzerfressenem schwarzen Samt zwei silberne georgische Schwertscheiden, markant ziselierte Silberbecher, eine zersprungene, schimmelfleckige Karaffe, einige Uhren, zwei Schweizer Modelle in angelaufenem Sprungdeckelgehäuse, eine ziemlich neue Ingersoll mit Leuchtziffern, ein paar dicke alte Repetieruhren, zwei Dresdner Porzellanleuchter, etwas Spitze, ein Stapel billiger Seifenstücke, Garnspulen, Stecknadelschachteln. Im hinteren Teil des Ladens beugt sich ein gelbgesichtiger alter Mann über einen Tresen, auf dem Ballen von bedrucktem Kattun liegen. An der Wand stehen ein mit Perlmutt eingelegter türkischer Schemel, ein Mahagonifrisiertisch ohne Spiegel und ein paar gusseiserne Waschständer. Die Falten des Mannes haben sich in einer tiefen Furche zwischen den Brauen versammelt. Seine Augen haben das leise Knurren eines Hundes, der beim Wühlen im Abfall gestört wird. Er schaut durch schmale Pupillen hinaus auf die sonnenhelle, dreckige Straße, wo hagere Männer mit aufgestütztem Kopf am schiefen Rinnstein sitzen und gelegentlich eine von klapperdürren Gäulen gezogene Droschke vorbeikommt und Soldaten in Hauseingängen lungern.
Der alte Mann ist der letzte Hüter der Dinge. Diese Gegenstände, persönlichen Effekte, Habseligkeiten, Objekte, die Ziel und Lohn des Lebens waren, Inhalt allen Strebens, ersehnt und erarbeitet von allen Generationen, haben hier, hingeworfen und vernachlässigt, ihren Sinn verloren. Die Menschen, die sich hungrig auf dem schiefen Kopfsteinpflaster dahinschleppen, schauen nie in das Schaufenster der Spekulanten, bleiben nie stehen, um neidisch die Objekte zu betrachten, die ihnen vielleicht einmal gehörten. Sie haben sie wohl vergessen.
Nur gelegentlich betritt ein Ausländer, dessen Schiff im Hafen liegt, den Laden des Alten, lässt sich dieses oder jenes zeigen, kauft Schmuck, um ihn in Europa weiterzuverkaufen, oder fährt in einem Hinterzimmer hinter verschlossener Tür über Pelze oder Teppiche, die nur nach endlosem Gefeilsche und einem kleinen Bakschisch außer Landes geschmuggelt werden können. An dem Abend, bevor wir Batum erreichten, sprach das ganze Schiff darüber, was es dort alles gäbe, spottbillig, pour un rien, per piccolo prezzo. Die Leute rieben sich die Hände und zählten ihr Geld, wie Angler vor Beginn der Forellensaison ihre Gerätschaften überprüfen.
Wenn man durch die baumgesäumten Straßen von Batum schlendert und dabei in die Häuser schaut, sieht man meist hohe leere Räume, manchmal ein Bett oder einen Tisch, Kochutensilien, ein Moskitonetz oder einen Spitzenvorhang vor einem geöffneten Fenster. All die hübschen Dinge, all die polierten und flauschigen und mit Troddeln versehenen Gegenstände, die das Dasein schmückten, sind verschwunden. Vielleicht ist das meiste während des Krieges dahingegangen, unter den schweren Rädern so vieler Armeen von Invasoren und Besatzern, der Russen, der Deutschen, der Briten, der Türken, der georgischen Sozialdemokraten und zuletzt der Roten Armee. Nach Jahren ständiger Unsicherheit, in denen sie die geschätzten Gegenstände immer wieder ängstlich vor Plünderern und Dieben versteckten, scheint Apathie über die Leute gekommen zu sein. Sie liegen den ganzen Tag am Kieselstrand vor der Stadt, haben sich ihrer ärmlichen Sachen entledigt, braten in der Sonne, steigen ab und zu in die weiten grünen Wogen, die das Schwarze Meer heranträgt, oder sitzen plaudernd in Grüppchen unter den Palmen des eigentümlich verwahrlosten Elysiums der Hafenpromenade. Mit dem Hunger ist eine Sorglosigkeit gekommen, die wahrscheinlich angenehmer ist, als man denkt, etwas in der Art des köstlichen Schlafs, der Erfrierende überkommt.
Und die armseligen Überbleibsel dessen, was weiterhin Zivilisation genannt wird, liegen in verstaubten Haufen in den Schaufenstern von Trödelläden. Brauchbares und Unbrauchbares, Qualitätvolles und Minderwertiges, und eines nach dem anderen verschwindet in Richtung Westen gegen Dollar und Lire und englische Pfund und türkische Pfund, gehortet in den Schränken, mit denen die Händler, Männer mit den Augen erschrockener Hunde auf dem Müll, die Wiederkehr ihres Herrn erwarten.
Am Himmel ist ein helles Stückchen Mond. Ein aufgepumpter roter Sonnenball am Horizont eines Meers, das wie eine Taubenbrust grün und hellviolett schimmert. Palmwedel und breite Platanenblätter vor einem sich verdunkelnden Zenit. Auf dem staubigen Feld vor der Kaserne stehen georgische Soldaten lässig im Kreis. Sie tragen zerschlissene graue Uniformen, manche mit runden Pelzmützen, manche mit den spitzen Filzhelmen der Roten Armee. Viele sind barfuß. Sie verströmen einen Geruch von Schweiß und Hoffnungslosigkeit und Unterernährung. Ein auf dem Boden hockender Mann fängt an, auf einer kleinen Trommel, die er zwischen den Schenkeln hält, mit den Handflächen einen schnellen Rhythmus zu schlagen. Die anderen klatschen dazu, bis ein anderer eine leise Melodie anstimmt. Nach ein paar Strophen hält er inne, und ein junger blonder Bursche mit einer sauberen weißen Pelzmütze auf dem Hinterkopf beginnt zu tanzen. Die anderen klatschen weiter und singen Tra-la-la, tra-la-la in sentimentaler Begleitung. Der Tanz ist elegant, gockelhafte Schritte und rasche Jagdgesten, in denen etwas von der formvollendeten, ein wenig übertriebenen Romantik orientalischer Ritterlichkeit anklingt. Man kann sich silberne Schwerter und glitzernde Täschchen und prächtige Seidengürtel mit verzierten Schnallen vorstellen. Vielleicht ist es eine Erinnerung, die die Augen der rhythmisch klatschenden Männer glänzen lässt, eine Erinnerung an edle Pferde und ziselierte langläufige Gewehre und Trinksprüche zu endlosen Weingelagen und an andere erregende nächtliche Gesänge über die Heldentaten des Ritters vom Pantherfell[10].
An den Wänden einige schlichte Bilder in Schwarz und Weiß, ein Mann mit Hacke, ein Mann mit Schaufel, ein Mann mit Gewehr. Die Schatten sind so übertrieben, dass sie wie Lebkuchenmänner aussehen. Der Künstler hatte bestimmt noch nicht viele Figuren in seinem Leben gemalt. Das Theater ist ein langer Wellblechschuppen, früher ein Tingeltangel, die Zuschauer meist Arbeiter und Soldaten in weißen Hemden mit geöffnetem Kragen, die Frauen in weißen Musselinkleidern. Die Kinder, aber auch viele Männer, sind barfuß, und kaum eine Frau trägt Strümpfe. Sobald der Vorhang hochgeht, verstummen alle. Niemand will ein Wort von dem Bühnengeschehen verpassen. Es ist ein albernes Stück, eine rührselige Schnulze über ein blindes Mädchen und einen guten Bruder und einen bösen Bruder und einen üblen Grafen und eine dauernd in Ohnmacht fallende Gräfin, aber die jungen Schauspieler – keiner von ihnen hat vor dem Einmarsch der Roten Armee in Batum vor drei Monaten jemals auf der Bühne gestanden – spielen so überzeugend, dass einen die lautstarken Reaktionen des Publikums während der entscheidenden Momente des Messerkampfs zwischen dem schwachen guten Bruder und dem bösen und energischen älteren Bruder, der sich das blinde Mädchen gegen ihren Willen geschnappt hat, nicht unbeteiligt lassen. Und als schließlich alles Unrecht wiedergutgemacht ist und der Vorhang zum Happy End fällt, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese Leute, die hinausströmen in den ärmlichen Biergarten vor dem Theater, irgendwie entschädigt wurden für die Trostlosigkeit ihrer Wohnstube oder Kaserne, in die sie heimkehren werden. In der Energie und Entschlossenheit, mit der die beiden Protagonisten kämpften, war vielleicht ein Atom einer Ungezügeltheit, eines furchterregenden Rituals, das in den Hoffnungen und im Leben der Leute die ruinierte Dynastie der Dinge ersetzen könnte.
Der Sekretär des Kommissariats für Volksbildung, das seit kurzem in Batum existiert, war ein schwarzhaariger Mann, Hakennase, hohläugig, Dreitagebart. Die Augen waren vor Hunger und Überarbeitung gerötet und hatten einen eigentümlich intensiven Ausdruck. Vor ihm lag ein Stapel Papiere, auf denen er gelegentlich etwas rasch notierte, als hätte er keine Zeit. Er sprach mühsam Französisch, grub jedes einzelne Wort aus längst vergessenen Erinnerungsschichten. Er sprach über das neue Bildungssystem, das die Bolschewiken in der neuen Republik Adscharien einführen wollen, deren Hauptstadt Batum ist. Er erklärte, dass bereits in mehreren Dörfern Sommerlager für Kinder begonnen hätten, dass alle erforderlichen Vorbereitungen unternommen würden, damit Ende September die Grund- und Oberschulen den Unterrichtsbetrieb aufnehmen können.
«Der Unterricht muss immer einen konkreten Bezug haben.» Er breitete die Hände aus, kantige, schwielige, schmerzende Hände, und schloss sie wieder mit einer Geste, als wollte er eine unsichere Realität festhalten. Auch die Wörter, die er verwendete, waren konkret, aus dem Boden gegraben. «Arbeit, von Anfang an ... Im Sommer auf den Feldern, die Kinder müssen im Garten arbeiten, Kaninchen, Bienen, Hühner züchten, lernen, wie man Rinder versorgt. Sie müssen in die Wälder gehen und alles über Bäume lernen. Alles sollen sie durch konkrete Anschauung lernen. Und im Winter werden sie ihre jeweilige Muttersprache lernen sowie Esperanto ... Es wird hier Schulen für Armenier, Griechen, Muslime, Georgier, Russen geben ... und Grundkenntnisse in Gesellschaftswissenschaften, Mathematik, Handarbeit, Kochen. In unserer Republik soll sich jedermann selbst versorgen können. Das wird der Grundschulunterricht sein. Sie sehen also, keine Theorie, alles Praxis. Die Sekundarstufe wird spezialisierter sein, Vorbereitung auf den Beruf. Und wer die Oberschule absolviert hat, kann auf die Universität gehen, um dort die Dinge zu studieren, für er sich entschieden hat. Sie sehen also, wer es zu etwas bringen will, muss sich in der Arbeit beweisen, nicht in Theorien oder Prüfungen. Aber auch in Musik und Sport und Schauspiel wird es Unterricht geben. Die Künste müssen offen sein für jeden, der auf diesem Gebiet tätig sein will. Doch am wichtigsten ist die Natur. Die Schüler müssen stets draußen sein auf den Feldern und in den Wäldern, in den Gärten, wo Bienen sind ... Unsere ganze Hoffnung sind die Kinder ... in den Gärten, wo Bienen sind.»
«Das gibt’s doch nicht», hatte der baumlange Schwede gesagt, als er und ich und ein besonders übel aussehender Levantiner mit Zwirbelbart in Batum nicht an Land gelassen wurden. «Das gibt’s doch nicht», hatte er gesagt und auf den verwahrlosten Hafen gezeigt und auf die langen Dächer der grauen und schwarzen Stadt, inmitten dichter grüner Bäume, und auf die blauen und purpurroten Berge in der Ferne und die Rotgardisten, die am Kai herumlungerten, und auf das Hafenamt mit dem aufgemalten Hammer und Sichel der Sowjetrepublik. Zuletzt sah ich ihn an der Gangway, der Stehkragen schnitt ihm in das fleischige Kinn, er schüttelte den Kopf und murmelte immer wieder: «Das gibt’s doch nicht.»
An ihn musste ich denken, als ich, zusammen mit einem arroganten Dolmetscher und einem fröhlichen Mann vom N.E.R.[11], dessen größte Sorge eine Typhusepidemie war, vor dem Schnellzug nach Tiflis stand, in der Hand einen Haufen Papiere, Dokumente in georgischer und russischer Sprache, Transportanweisungen, Schlafwagenbilletts, ein Passierschein der Tscheka und einer vom Kommissar für Auswärtige Angelegenheiten der Republik Adscharien. Der Zug bestand aus einer Lokomotive, drei großen unlackierten Schlafwagen und einem äußerst klapprigen Dienstwagen. Ein Waggon war für Zivilbeamte vorbehalten, einer für das Militär und einer für die Allgemeinheit. Bislang war alles sehr seriös gewesen, aber das Problem war, dass der Zug schon vor der Einfahrt von mehr als siebentausend Personen erstürmt worden war, Soldaten in weißen Kitteln, Bäuerinnen mit Bündeln, Männern mit enormen Schnauzbärten und Pelzmützen, Spekulanten mit ihren Waren und ehrlichen Proletariern mit Brotlaiben, so dass Massen von Menschen schwitzend und lachend und schiebend und drängelnd die Waggons unter sich begruben wie Fliegen ein Stück Würfelzucker. Die Dächer waren bis auf den letzten Zentimeter besetzt, Leute hingen in Trauben an den Türen, saßen auf dem Kohlentender, auf der Lokomotive. Aus jedem Fenster hingen Beine von Hineinkletternden. Wer schon an Bord war, verbarrikadierte sich in seinem Abteil und versuchte, die Nachdrängenden mit erstaunlicher Liebenswürdigkeit wieder aus dem Fenster zu bugsieren. Derweil lief der amerikanische Orientreisende schweißgebadet mit seinem Koffer den Bahnsteig auf und ab, um ein winziges Plätzchen für sich zu finden. Schließlich blieb ihm nichts anderes übrig, als sich an den Chef zu wenden. Der Chef leistete Hilfe, indem er ihn am Hosenboden packte und mitsamt Koffer durch das Fenster in ein Abteil voll riesengroßer Männer in riesengroßen Stiefeln hievte, sechs der sieben Soldaten, die auf seinem Platz saßen, wurden hinausgeworfen, alle setzten sich wieder, gruben ihre Fremdsprachenkenntnisse aus und warteten seelenruhig und schwitzend auf die Abfahrt des Zuges.
Schließlich, nach immer neuen Gerüchten, dass wir an diesem Tag nicht mehr abfahren würden, dass die Strecke zerstört sei, dass eine grüne Armee Tiflis eingenommen habe, dass der Bahnverkehr wegen Cholera eingestellt worden sei, ging es los, ohne dass ein Abfahrtssignal zu hören gewesen wäre. Der Zug wand sich langsam durch den üppigen jade- und smaragdgrünen Dschungel der Schwarzmeerküste, den hohen Bergen im Nordosten entgegen, die im Abendlicht unvorstellbare Pfauenfarben annahmen. Im Abteil wurde Schwarzbrot gegessen, und ich versuchte, auf Französisch und Deutsch eine Art Gespräch zu führen. Jemand klagte über den Mangel an Industriegütern, Farbe und Damenstrümpfen und Medikamenten und Autoersatzteilen und Seife und Bügeleisen und Zahnbürsten. Ein anderer sagte, dass diese Dinge nicht notwendig seien: die Berge werden uns Wolle liefern, die Felder Lebensmittel, die Wälder werden uns Häuser liefern; soll jedermann sein eigenes Brot backen und seine Kleidung selbst spinnen und sich sein eigenes Haus bauen: auf diese Weise werden wir zufrieden und unabhängig von der Welt sein. Wenn sie nur nicht so viel Wert auf die Industrialisierung legen würden. Aber in Moskau glauben sie, wenn wir nur genügend ausländische Maschinen haben, wird das die Revolution retten. Wir sollten aber Selbstversorger sein wie die Bienen.
Seltsam, wie oft sie einem mit Bienen kommen. Die Ordnung und Süße eines Bienenstocks müssen sie sehr beeindruckend finden. In Tiflis sprachen die Leute immer wieder mit liebevoller Nostalgie von Bienen, als wäre deren kühle Nervosität ein Tonikum inmitten des blutgetränkten Chaos von Bürgerkrieg und Revolution.
Inzwischen war es Nacht. Der Zug zuckelte durch eine Berglandschaft, unter einem Himmel, der übersät war mit Sternen wie eine Wiese mit Gänseblümchen. Im überfüllten Abteil, wo die Leute ihre Stiefel ausgezogen hatten und einer an des anderen Schulter schlief, waren Heerscharen von Wanzen aus den blanken Sitzen und Kojen gekrochen und marschierten in Dreier- und Viererkolonnen, diszipliniert und zielstrebig. Ich hatte schon eine Zeitung ausgebreitet und Insektenpulver in die Ecke der oberen Koje gestreut, in der ich eingezwängt zwischen anderen Schläfern lag. Die Wanzen fanden das Pulver ebenso stimulierend wie Schnupftabak, aber das Zeug juckte in der Nase und brannte in den Augen und schnürte mir fast die Luft ab, bis mir nichts anderes übrigblieb, als in das Gepäcknetz zu klettern, das in den überdimensionierten russischen Zügen zum Glück sehr groß und robust ist. Dort hing ich, nur von den akrobatischeren Wanzen angeknabbert, und während sich mir die Stange in den Rücken bohrte und das Insektenpulver jeden Atemzug vergiftete, redete ich mir ein, dass dieses Unterwegssein genau das Richtige für mich sei. Über mir hörte ich die Leute auf dem Waggondach.
Gegen Mitternacht hielt der Zug lange in einem Bahnhof. Es gab Tee aus bottichgroßen Samowaren, deren Feuer das einzige Licht war. Man konnte ahnen, dass unten im Tal ein Fluss war, ein Geruch von trockenen Mauern und menschlichem Unrat stieg von dort auf. Mächtige runde Bergschultern erhoben sich bis zu den Sternen. Belebt von dem heißen Tee krochen wir alle wieder in unsere Löcher, an den Türen bildeten sich wieder Menschentrauben, und dann fuhr der Zug weiter. Diesmal fiel ich in tiefen Schlaf, hörte die Bewegungen der Leute über mir, hörte das sonore Rumpeln der Breitspurräder und eine Ziehharmonika in einem anderen Waggon, die hin und wieder ein zerrissenes Lied anstimmte.
Am Morgen sehen wir einen silbernen Fluss, der sich tief unter uns in einem breiten Tal zwischen löwenfarbenen Bergen dahinschlängelt. Der Zug wirft einen eigentümlichen Schatten im Morgenlicht, alle Kanten und Ränder überdeckt von wackelnden, schlenkernden Figuren von Soldaten; auf den Dächern die Schatten von alten Frauen mit Körben, von stehenden und sich streckenden Männern, von Kindern mit viel zu großen Mützen auf dem Kopf. Einmal passieren wir einen langen Zug der zweiten Panzerdivision der Roten Armee – eine frischgestrichene Lokomotive, dann endlose Güterwaggons, blonde junge Soldaten in den Türen. Die meisten sehen nicht älter als achtzehn aus. Sie sind barfuß und tragen helle Hosen und Hemden aus Leinen. Fröhlich und entspannt hocken sie auf den Dächern und Trittbrettern von Güterwaggons und Schlafwagen und baumeln mit den Beinen. Man kann nicht erkennen, wer die Offiziere sind. Aus dem großen Salonwagen, geschmückt mit Zeichen und Plakaten, der so aussieht, als wäre es früher ein Speisewagen gewesen, beugen sich die Jungs und winken uns zu. Dann kommen offene Transportwagen mit Gerät, dann eine lange Reihe von Panzern, gefleckt und gestreift in Eidechsengrün. «Ein Geschenk der Engländer», sagt mein Nachbar. «Die Engländer haben sie Denikin[12] geschenkt, und wir haben sie von Denikin.»
Unser Zug, die Fenster voller rußgeschwärzter Gesichter und die Sitzplätze voll Ungeziefer, nimmt Fahrt auf und geht in eine Kurve. Der Anblick der grünen Panzer hat die Stimmung verbessert. Mein Nachbar, der früher Bankier in Batum war und hofft, seine Tätigkeit wieder ausüben zu können, ruft leidenschaftlich: «Diese ganzen Wörter, Bolschewik, Sozialist, Menschewik haben keine Bedeutung mehr ... Ob es uns bewusst ist oder nicht, wir sind nur noch Russen.»
Mitarbeiter des N.E.R. müssen sich schriftlich verpflichten, keinen fermentierten oder destillierten Alkohol zu trinken. Mehrere N.E.R.ler sind in einem Privatauto nach Tiflis gefahren, um herauszufinden, ob eher ein Hungernder Kommunist wird oder jemand mit vollem Bauch. In Tiflis sterben täglich zwanzig Personen an Cholera, vierzig an Typhus, nicht mitgerechnet diejenigen, die an Orten sterben, wo sie niemand findet. Im N.E.R.-Büro schlafen wir alle auf Feldbetten und gurgeln mit Listerin, um Infektionen vorzubeugen und den Wodkageruch loszuwerden. Im Büro wimmelt es von elenden Baronen und Gräfinnen, die dem alten Regime hinterhertrauern und selbst die aufrichtigsten Helfer beeinflussen. Was kann ein Amerikaner schon gegen einen Aristokraten haben, noch dazu einen notleidenden Aristokraten im Exil? Wer weiß, vielleicht ist es ja die Fürstin Anastasia in Verkleidung. Die russische Regierung versteht das alles, sagt aber klugerweise, dass ein lebendes weißes Kind besser ist als ein totes rotes Kind. Die Entscheidung, welche Schafe leben dürfen und welche Ziegen sterben müssen, überlässt sie also den Helfern.
Doch das eigentliche Interesse der Helfer gilt den Dingen. Auf den ersten Blick gibt es in Tiflis gar keine Dinge. Keine Auslagen in den Schaufenstern, die Häuser leer wie Beduinenzelte, doch in Richtung N.E.R. fließt ein unablässiger Strom von Diamanten, Smaragden, Rubinen, silberverzierten Dolchen, georgischen und anatolischen Teppichen, Teppichen aus Persien und Turkestan, Uhren, Filigranarbeiten, silbernen Handtaschen, Pelzen, Bernstein, den Mustafa-Sirdar-Papieren, Fotoapparaten, Füllfederhaltern. Mein Gott, wie günstig! Für einen Koffer voll Rubel kann man sich für sein ganzes Leben eindecken. Die Leute daheim werden große Augen machen, wenn ich erzähle, was die Brilliantbrosche gekostet hat, die ich meiner Frau mitgebracht habe.
Und die graugesichtigen Leute, die diese Dinge herbeitragen, alte Männer und Frauen, die Angst haben vor der Tscheka, vor Banditen, vor der Cholera, vor ihren Schatten, Trümmer einer zerstörten Welt, die, um etwas zu essen zu haben, Dinge verkaufen, die bis 1917 die Grundlage ihrer Existenz gewesen waren; arrogante junge Männer, die sich auf die Seite des Siegers geschlagen haben und gut dabei wegkommen; Berufsspekulanten, meistens, aber nicht immer, Griechen, Armenier oder Juden, Männer mit scharfen Augen und Hakennasen, in schäbige Mäntel gekleidet, den Rücken krumm vor Respekt und Höflichkeit, die sich die Hände rieben, die nie einen Geldschein weggaben, wie wertlos die Währung auch sein mochte, Männer, die große Banken gründen werden, Philanthropen und die Gründer internationaler Familien. So billig, so billig!
Und der Stolz und die Tugendhaftigkeit der N.E.R.ler, die sich durch ihre Unterschrift verpflichtet haben, keinen Alkohol zu trinken, die unter Einsatz des eigenen Lebens der notleidenden Menschheit helfen, die sich der Ansteckungsgefahr von Bolschewismus, Kommunismus, freier Liebe, verstaatlichten Frauen, Anarchie und weiß Gott was aussetzen – ihr tugendhafter Stolz auf den Dollar, König der Wechselkurse, mit dem sie sich über die Dinge beugen: Teppiche, aus den Moscheen gestohlen, Lampen aus den Kirchen, Perlen vom Hals einer abgeschlachteten Großherzogin, der Pelzmantel einer armen alten Frau, die hungrig in ihrer dürftigen Stube sitzt und durch eine Ritze im Fensterladen hinausschaut auf diese furchtbare Welt der Jungen, eine Welt, rauh und leidenschaftlich und grob, die sie nie verstehen wird, eine alte Frau, die durch den Fensterladen blickt mit den Augen einer Katze, die von einem Automobil überfahren wurde.
Die Drahtseilbahn wird noch immer von dem unvermeidlichen belgischen Unternehmen betrieben. Fahrscheine gibt es bei einer kleinen jungen Polin, adrett wie eine weißgekleidete Maus. Statt Strümpfen an den Beinen eine gesunde Bräune. Sie klagt über den Mangel an Puder und Seidenstrümpfen und fragt sich, was sie tun soll, wenn ihre Schuhe abgetragen sind. Die Kabine ruckelt quietschend bergan. Hoch über der Stadt weht ein starker Kontinentalwind.
Nach einer Wanderung in den Bergen sitze ich vor einer kleinen Taverne, auf dem Tisch vor mir eine Flasche Kakhetia Nr. 66. Die Altstadt von Tiflis, staubfarben, hier und da ein Tupfer von Blau oder Weiß an einem Haus, erstreckt sich weitläufig über dem Trichter, aus dem sich der Kupferdrahtfluss in die Ebene ergießt. Aus der Senke steigt eine Dampfwolke von den Schwefelquellen auf. Dahinter die enormen grauen Gebäude der russischen Stadt in der Ebene. Im Tal hintereinander geschichtete Hügelkuppen, ocker und olivfarben, in der Ferne ins Blaue gehend, bis sie mit den hohen Gipfelketten des Kaukasus verschmelzen, die sich wie eine Barriere gegen den Norden erheben. Der mächtige Wind, der unablässig von Asien her weht, ein Wind so stark, dass er einem fast marmorgeädert erscheint, ein Wind von unvorstellbarer Weite, heult in meinem Glas und übertönt die verrückte Melodie, die aus dem mechanischen Klavier hinter mir kommt. Ich muss die Flasche zwischen den Knien halten, damit sie nicht vom Tisch fliegt.
Wir haben von einem Wind aus Asien geträumt, der unsere Städte befreien würde von den Dingen, die unsere Götter sind, dem Schnickschnack und dem Büttenpapier und den Vasen und den Gardinenstangen, dem ganzen Zeug, dessen Besitz Arm von Reich unterscheidet, dem ganzen Schund, den unsere Kultur für das Höchste hält, für den wir uns krummlegen und zu Tode rackern. So dass aus dem Menschen, einem aufrechtgehenden nackten Zweifüßler, eine Art Einsiedlerkrebs geworden ist, der nicht leben kann ohne ein schützendes Gehäuse aus Abendgarderobe und Limousinen und Kaffeemaschinen und Einkaufsgutscheinen und Schneebesen und Nähmaschinen, weshalb er, je stärker das Gehäuse und je schwächer sein Selbstwertgefühl, umso mehr als bedeutender Mann und Millionär gilt. Dieser Wind hat Russland saubergefegt, so dass die Dinge, die noch vor wenigen Jahren als göttlich verehrt wurden, heute als muffiger Trödel in irgendwelchen Ecken vor sich hin rotten; Tausende Leben wurden gegeben und genommen (von meinem Platz kann ich die wuchtigen Gebäude der Tscheka ausmachen, vollgestopft in diesem Moment mit armen Teufeln, die in der Maschinerie erwischt wurden), eine Generation, gleichgemacht wie Kies unter einer Dampfwalze, um die Tyrannei der Dinge zu brechen, der Waren, der Bedürfnisse, der industriellen Kultur. Gegenwärtig erleben wir die Ruhe nach dem Sturm. Götter und Teufel rächen sich mit Cholera und Hungersnot an den Siegern. Wird am Ende das gleiche Elend das Ergebnis sein oder ein Glauben und viele Wörter wie Islam oder Christentum, oder wird es etwas Unmögliches sein, etwas Neues, Unerhörtes, ein einfaches, kraftvolles, aber nicht barbarisches Leben, ein nacktes und gottloses Leben, in dem Güter und Institutionen für gesunde Menschen hergerichtet werden und nicht Menschen fein gemahlen und gesiebt werden im Dienst der Dinge?
Stärker, stärker weht der Wind aus Asien. Er hat den Tisch umgeworfen, mich vom Stuhl gerissen. Die Flasche in der einen Hand, das Glas in der anderen, stemme ich mich gegen den beängstigenden Wind.
Abends im angenehmen, heruntergekommenen Jardin des Petits Champs, wo niemand an Cholera oder Typhus oder Hungersnot an der Wolga denkt, gab es Kaviar und Tomaten und Grusinski- Schaschlik für den amerikanischen Orientreisenden, dazu den wunderbaren kakhetischen Wein. Beim anschließenden Spaziergang durch unbeleuchtete Straßen sah man keine alten Leute, nur junge Burschen in Hemd und dunkler Leinenhose, manche barfuß, und junge Mädchen in hübsch geschnittenen, schmucken weißen Kleidern, ohne Strümpfe, ohne Hut, die zu dritt oder viert oder in Grüppchen auf den breiten leeren Asphaltstraßen fröhlich daherschlenderten.
Die Nacht war warm, und ein trockener Wind wirbelte den Staub auf. Im Grusinski-Garten, einst Club der Aristokraten, drängten sich die neuen, leise lachenden jungen Leute. Eine Kapelle spielte die Leichte Kavallerie. Bunte Glühbirnen hingen zwischen den Bäumen. Es gab nichts Besonderes zu tun. Trotz Hungersnot und Cholera und Typhus schienen alle sorglos und unangestrengt fröhlich. An einem Tisch in der Ecke wurde, vermutlich illegal, Wein ausgeschenkt, den sich aber nur die Amerikaner leisten konnten. Allmählich strömte die Menge in ein Theater, über dessen Eingang Spruchbänder auf Russisch und Georgisch hingen. Der amerikanische Orientreisende wurde in einem schmalen Korridor als Amerikanski Poejt angesprochen, und bevor er wusste, wie ihm geschah, saß er in einem eigentümlich geschnittenen Raum. Und während er nach einer Person Ausschau hielt, die eine bekannte Sprache sprach, ging eine Wand hoch, und er stellte fest, dass er auf einer Bühne saß und einen vollbesetzten Zuschauerraum vor sich hatte. In der ersten Reihe sah er ein breites Grinsen auf den Gesichtern einiger Leute, mit denen er den Abend bis dahin verbracht hatte. Dann flüsterte ihm jemand auf Französisch ins Ohr, dass dies ein Festival der internationalen proletarischen Dichtung sei und er unbedingt etwas rezitieren müsse. Bei dieser Nachricht fiel der a. O. fast in Ohnmacht.
Es war ein grandioser Abend. Höchstens zehn Leute verstanden irgendetwas. Auf Armenisch, Georgisch, Türkisch, Persisch, Russisch, Deutsch und in allen nur denkbaren anderen Sprachen wurden Gedichte vorgetragen und gesungen. Das Publikum war begeistert. Dem a. O. gelang es, stockend ein Wiegenlied von William Blake als sein eigenes aufzusagen, das einzige, das ihm erinnerlich war, ein revolutionärer Ausbruch, der mit Bravorufen quittiert wurde. Der verwirrte und schweißgebadete a. O. hatte das Gefühl, seinen Beruf verfehlt zu haben. Jedenfalls dürfte Oh Sunflower weary of time nie unter seltsameren Bedingungen rezitiert worden sein. Und nachdem ein schmächtiger junger Soldat mit einem kegelförmigen geschorenen Kopf ein langes russisches Gedicht aufgesagt hatte, bei dem jeder in brüllendes Gelächter ausbrach, dass die Wände wackelten, löste sich die Versammlung unter größtem internationalen Frohsinn und Gesang auf, und alles strömte durch die stockdunklen Straßen nach Hause, junge Männer in weißen Hemden, barhäuptige junge Frauen in weißen Kleidern schlenderten unbekümmert durch diese leere Welt wie Kinder, die in einem verwaisten Haus spielen, und wurden allmählich verschluckt von den schwarzen kasernenartigen Gebäuden.
Unterwegs kamen wir an der Tscheka vorbei. Der Ort war hell beleuchtet, Stacheldraht vor den Fenstern, Wachposten gingen auf und ab. Wir versuchten, den Zuchthausgeruch nicht in die Nase steigen zu lassen, aber für unsere Ohren brach das Idyll zusammen.
Im N.E.R. herrschte beträchtliche Aufregung. Einer der Helfer war nur mit Mühe in sein Feldbett zu bringen. Andere sprachen über Typhus und Cholera. Ein Mann lief herum und zeigte allen eine Handvoll schwerer silberner Suppenlöffel. «Fünf Cents das Stück, wie findet ihr das?» – «Bist du sicher, dass sie nicht plattiert sind?» – «Echtes englisches Sterlingsilber, hier ist der Löwe. Etwas Besseres gibt es nicht.» – «Weil Major Vokes in Batum eine Halskette gekauft hat, die sich als Imitat erwiesen hat.»
Ich lag zusammengerollt auf meinem Feldbett im Nebenzimmer und hörte alles mit; der unruhige Geruch der Sommernacht kam mit einem Stückchen Mondlicht durch das geöffnete Fenster. Die Straße draußen war dunkel und leer, aber in der Ferne erklang leise ein Akkordeon. Die zittrige, zerrissene Melodie eines Akkordeons wehte durch die schwarze, halbverödete Steinstadt, schaute zu den Kasernenfenstern hinein, erschreckte die Alten, die verängstigt hinter geschlossenen Fensterläden inmitten ihrer letzten Dinge saßen, erregte die armen Teufel, die im Keller der Tscheka saßen, gefangen im Räderwerk des Molochs Revolution, so wie bei jeder Vorwärts- oder Rückwärtsbewegung der Dampfwalze namens Geschichte Leute unter die Räder kommen. Das Gefängnis ist der Grundstein der Freiheit, dachte der a. O., und dann fielen ihm die Augen zu.